Der globale raz-le-bole über den Profit-Absolutismus führt zu einer Marxschen Renaissance. Für die emanzipatorischen Anliegen und Kräfte bedeutet das eine Chance, birgt aber auch eine Gefahr.
Josef Lang, Historiker, Zug
Die Gefahr besteht darin, dass die verschiedenen Marxismen 1998 wieder dort ansetzen, wo sie 1989 gelandet oder gestrandet sind. Dass die Bestätigung, die Marx als ökonomischer und soziologischer Analytiker erfährt, auf die politische Ebene übertragen wird. Dass die Marxsche Hellsicht für die Widersprüche und Zerstörungskraft der kapitalistischen Dynamik wieder blind macht für seine verhängnisvolle Unterschätzung der politischen und gesellschaftlichen Autonomie, für seine Relativierung der wichtigsten zivilisatorischen Errungenschaften der sogenannten "bürgerlichen" Revolutionen: Volkssouveränität der gesamten BürgerInnenschaft, Menschen- und Freiheitsrechte und deren institutionelle Absicherung über Verfassungen, Gewaltenteilung, Mehrparteiensystem. Während Marx als Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler seiner Zeit weit voraus war, hinkte er den radikalliberalen zeitgenössischen Polit- und Staatstheoretikern wie James Stuart Mill deutlich hinten nach. (Vgl. dazu: Perry Anderson, Liberalism and Socialism, New Left Review (NLR) 170, Juli-August 1988 S.3f.)
Relativierung der Menschenrechte
In seiner ohnehin bedenklichen Schrift "Zur Judenfrage" kritisierte Marx 1844 "die Tatsache, dass die sogenannten Menschenrechte, die droits de l`homme im Unterschied von den droits du citoyen, nichts anderes sind als die Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen." Zu der von der radikalen 1793er Verfassung versprochenen "liberté" meinte Marx: "Es handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade" (Marx Engels Werke (MEW), Berlin 1976, Bd 1, S. 364).
Das Problematisieren des Hauptdefizits des Liberalismus, sein geringes Interesse für die gesellschaftlichen und existentiellen Voraussetzungen der BürgerInnenschaft, und die Auseinandersetzung mit der atomisierenden Wirkung der Markt- und Profitlogik gehören zu Marxens zukunftsweisenden Verdiensten. Dass er aber (grund-) rechtliche Satzungen und Festschreibungen nur materiell, als Ausdruck von wirtschaftlichen Interessen und Gesetzmässigkeiten würdigte, war seine grosse und letztliche verhängnisvolle Schwäche. Wieviele totalitäre und autoritäre Regimes haben später mit diesen Einwänden gegen die Menschen- und Bürgerrechte deren Verletzung gerechtfertigt?
Kommune und Landsgemeinde
1871 lobte Marx in seiner Schrift über die Pariser Kommune von 1871 die Zusammenlegung von Exekutive und Legislative in "eine arbeitende Körperschaft", die "vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit" ist und die Aufhebung der "scheinbaren Unabhängigkeit der richterlichen Beamten" (MEW Bd 17, S. 339). Überträgt man diese Haltung auf die damalige Schweiz, dann standen Marx (und die Kommune) institutionell den konservativen Landsgemeindeständen näher als den fortgeschritteneren Industriekantonen mit ihrer Verbindung von Repräsentation, Referendumsrecht und Gewaltenteilung.
Engels, der schreckliche Vereinfacher, hat 1891, "am zwanzigsten Jahrestag der Pariser Kommune", seine Einleitung zur Neuausgabe von Marxens "Bürgerkrieg in Frankreich" (1871) mit folgendem Satz beendet: "Nun gut, ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats." (MEW Bd.17, S. 625). Mit einem solchen Zitat lässt sich zwar zeigen, wie weit Marxens und Engels Vorstellung über die "Diktatur des Proletariats" von der stalinistischen Diktatur über das Proletariat entfernt war. Aber die abschätzige Haltung zum "bürgerlichen" Rechtsstaat, welche die Bolschewiki von den beiden kommunistischen Gründervätern übernahmen, erleichterte den Aufstieg des Stalinismus.
Henker statt Köchin
Wie erklärt sich dieses Demokratie-Defizit bei Marx und Engels? Auf eine Ursache hat der Sozialphilosoph Jürgen Habermas 1989 in seinem Text über "Volkssouveränität als Verfahren" hingewiesen: "Marx und Engels haben sich mit Hinweisen auf die Pariser Kommune zufriedengegeben und Fragen der Demokratietheorie aufgeschoben. Sie haben ... den Sozialismus als eine geschichtlich privilegierte Gestalt konkreter Sittlichkeit begriffen (nicht als Inbegriff notwendiger Bedingungen für emanzipierte Lebensformen, über die sich die Beteiligten selbst zu verständigen hätten." (Merkur 484, Juni 1989, S.469). In der Tradition von Jean-Jacques Rousseau und der Frühsozialisten gingen sie von einem Minimum an Konflikten und einem Maximum an spontaner Selbstorganisation aus.
Lenins Meinung, für die Lenkung eines sozialistischen Staates reiche die Ausbildung einer Köchin, ist ein typischer Ausdruck dieser kommunistischen Naivität. Sie erleichterte die spätere Machtübernahme durch einen Henker. Die romantisch-harmonistische Gesellschaftssicht für den Fall aufgehobener oder verminderter Klassengegensätze und wiederhergestellter "Gemeinschaft" teilte Marx mit vielen Konservativen.
Fehlschluss aus einer Niederlage
Eine zweite Ursache für Marxens Abwendung vom politischen Liberalismus sieht Heinrich August Winkler in der Niederlage der 1848er Revolution. In seinem Aufsatz "Die unwiederholbare Revolution; über einen Fehlschluss von Marx und seinen Folgen" zeigt der deutsche Historiker auf, wie der Begriff "Diktatur des Proletariats" eingeführt wurde, um "die enttäuschenden Erfahrungen von 1848/49 historisch und theoretisch zu bewältigen." Für Marx bestand "die wichtigste Lektion des Revolutionsjahres" darin, "dass das Proletariat die einmal eroberte Macht nur festhalten konnte, indem es die Klassengegner systematisch unterdrückte." (Streitfragen der deutschen Geschichte, München 1997, S.25). Als Beleg bringt Winkler aus dem1850 verfassten Text:"Die Klassenkämpfe in Frankreich" das folgende, bekannte Zitat: "Dieser Sozialismus ist die Permanenzerklärung der Revolution, die Klassendiktatur des Proletariats als notwendiger Durchgangspunkt zur Abschaffung der Klassenunterschiede überhaupt." (MEW Bd 7, S. 89)
Marx hat (in klarem Widerspruch zu seinen erwähnten vormodernen Vorstellungen (das Gewicht und die Reife des modernen Proletariats, insbesondere des französischen von 1848 (und später 1871), krass überschätzt. Der gleiche Fehler hatte Jahrzehnte später in der Sowjetunion verheerende Folgen.
Soziale Körper oder BürgerInnengesellschaft?
Eine dritte Ursache (aus meiner Sicht die wichtigste) für das Marxsche Demokratie-Defizit liegt in der Vorstellung, dass auch moderne Staaten auf sozialen Körpern gründen. Wie der Feudalismus auf dem Adel fusste, soll die bürgerliche Demokratie auf der Bourgeosie und der Sozialismus auf dem Proletariat basieren. Zu dieser Vorstellung gehören die Auffassung, dass in der französischen Revolution ein neuer sozialer Körper (das Besitzbürgertum) einen alten (die Aristokratie) entmachtet habe und der naheliegende Analogieschluss, dass die neue besitzende und damit herrschende Klasse durch das ganz neue Proletariat zu ersetzen und entmachten sei. Die Geschichtswissenschaft hält, wie wir im letzten MoMa am Beispiel der Schweiz zeigten, die erwähnte Interpretation (die auch bürgerliche Historiker mittrugen) für überholt. Und die Soziologie hat aufgezeigt, was wir in unserem Alltag bereits wahrnahmen, als wir die Industriearbeiterklasse noch als Hauptbasis einer sozialistischen Gesellschaft betrachteten: wie vielfältig, vielschichtig und individualisiert die modernen Gesellschaften geworden sind.
Irgendeine politische Macht zu konzipieren aufgrund eines sozialen (Teil-)Körpers ist eine Zwängerei. Sie grenzt Schichten und Menschen aus aufgrund von Kriterien, die, wie viele geschichtliche Erfahrungen gezeigt haben, höchst beliebig sind und der Willkür Tür und Tor öffnen. Wieviele GegnerInnen des stalinistischen, maoistischen, ostdeutschen und auch castristischen Realsozialismus wurden erledigt, indem man sie zu "Bourgeois" machte?
Zur radikal-demokratischen Konzeption einer offenen BürgerInnengesellschaft, in der sich gleiche und freie Citoyennes und Citoyens über die öffentlichen Angelegenheiten streiten und einigen, und von der die politische Macht erstlich und letztlich auszugehen hat, gibt`s keine Alternative. Dies bedeutet nicht, dass keine Klassenkämpfe mehr stattfinden, dass das Privateigentum sakrosankt wäre, die Wirtschaftsdemokratie aus Abschied und Traktanden fiele, die Definition von öffentlich und privat für alle Zeiten festgelegt worden sei oder wir politisch-institutionell in der besten aller Welten lebten. Aber die klassisch-linke Idee eines modernen Staates, der auf der Arbeiterklasse gründet, gehört auf den gleichen Müllhaufen der Geschichte wie die rechten Angebote, welche politische Macht auf der Religion, der Ethnie, der Nation (geistige Landesverteidigung!), der Rasse, auf dem Markt (Neoliberalismus!) oder auf dem Privateigentum, "die letzte und wahre heilige Kuh unserer Welt" (Barbara Sichtermann, Weltwoche 1.1.1998), zu begründen versuchen.
Die Frage(n) der Rätedemokratie
Das gilt auch für die demokratischste Alternative, welche aus der ArbeiterInnenbewegung erwachsen ist: der Idee einer Rätedemokratie. Diese baute auf gesellschaftlichen Einheiten wie Fabriken, Werken, Büros, Quartieren, die bei weitem nicht mehr die personelle Stabilität und die integrierende Rolle haben, die sie noch in der Zwischenkriegszeit hatten. Zudem gaben etliche rätedemokratische Vorstellungen Angehörigen besonderer Klassen oder Schichten, v.a. den industriellen Grossbetrieben, mehr politische Macht als anderen. Die strukturelle politische Bevorteilung bestimmter sozialer Gruppen öffnete der Privilegienwirtschaft und der Ausschliessungspraxis Tür und Tor. Die Erfahrungen in der jungen Sowjetunion wie auch in und nach revolutionären Prozessen zeigen, dass Räte solange demokratische Organe sind, als der Mobilisierungs- und Selbstorganisationsgrad sehr hoch ist. Bei der Rückkehr des politischen Alltags degenerieren sie zu Machtklüngeln einer selbsternannten Elite oder werden bestenfalls, was in der UdSSR in Einzelfällen auch passiert ist, zu parlamentsähnlichen Organen.
Von bleibender Bedeutung sind die Probleme, welche mit der Idee der Rätedemokratie aufgeworfen wurden: die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger am öffentlichen Leben, die gesellschaftliche Selbstorganisation, vor allem die der Benachteiligten, die politische Kontrolle der Gewählten und der Institutionen, die Demokratie in der Wirtschaft, die materielle Gerechtigkeit und Sicherheit als Voraussetzungen politischer Gleichheit und Selbsttätigkeit und das wichtigste und brennendste Demokratie-Problem heute: das Primat der Volkssouveränität und damit der Politik gegenüber Markt und Eigentum. Oder wie es Marxens Zeitgenosse Stuart Mill, einer der grössten Köpfe des politischen Liberalismus, in seiner im Todesjahr 1873 veröffentlichten "Autobiography" formuliert hat: "Das soziale Problem der Zukunft betrachteten wir von nun an ausgehend von der Frage, wie die grösste individuelle Aktionsfreiheit mit dem Gemeinbesitz an den Rohstoffen des Planeten und mit einer gleichen Beteiligung aller an den Gewinnen der zusammengesetzten Arbeit verbunden werden kann." (London, S.232).
Linke Selbstkritik
Es gab in der Linken, auch in der radikalen, immer wieder Versuche, das (Nach-)Marxsche Demokratiedefizit zu beheben. Allerdings lag ihr Schwachpunkt meistens darin, dass sie im erwähnten Körper-Denken verhaftet blieben.1904 kritisierte Leo Trotzki Lenins Parteikonzept mit der berühmt und wahr gewordenen Prophezeiung: "Zuerst tritt die Parteiorganisation an die Stelle der ganzen Partei; dann nimmt das Zentralkomitee die Stelle der Organisation ein und schliesslich ersetzt ein einziger 'Diktator' das Zentralkomitee". (Unsere politischen Aufgaben (1904), Paris 1970 S.17). Während und nach dem Bürgerkrieg hinderte dies Trotzki allerdings nicht daran, autoritäre Konzepte vorzuschlagen, die selbst dem kritisierten Lenin zu weit gingen. Wer an die Stelle der Öffentlichkeit eine Klasse setzt, wie das auch Trotzky tat, setzt an Stelle der Klasse die Partei, an deren Stelle ein Zentralkomitee usw.
1918 machte Rosa Luxemurg die Bolschewiki, denen sie attestierte, die "Demokratie gerettet" zu haben, auf die Bedeutung dieser Errungenschaft aufmerksam: "Das öffentliche Leben der Staaten mit beschränkter Freiheit ist eben deshalb so dürftig, so armselig, so schematisch, so unfruchtbar, weil es sich durch Ausschliessung der Demokratie die lebendigen Quellen allen geistigen Reichtums und Fortschritts absperrt. (...) Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden". Im gleichen Text wandte sich aber Rosa Luxemburg gegen die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung und gegen das nationale Selbstbestimmungsrecht (Die Russische Revolution. Eine kritische Würdigung, FaM 1963, S.73f.). Weil ihr Ausgangspunkt für die Konstitution politischer Macht: das Proletariat, eine universelle Klasse ist, galt der Anspruch der polnischen Nation auf einen eigenen Staat als überholt. Die Breschnew-Doktrin des eingeschränkten Selbstbestimmungsrechts hatte auch etwas Luxemburgistisches. Die echten oder vermeintlichen Interessen einer abstrakten «internationalen Arbeiterklasse» wurden über die einer konkreten politischen Öffentlichkeit gestellt.
Die 68er und der Frankfurter Fundamental-Pessimismus
Eine wichtige theoretische und praktische Belebung erfuhr die Demokratie durch die 1968er Bewegung. Warum gelang es auch deren VordenkerInnen nicht, das Marxsche Demokratie-Defizit aufzuheben?
Ein Grund liegt darin, dass die Bewegung und die aus ihr entstandenen Organisationen auf ihrer verständlichen Suche nach Referenzen in der Hoch-Zeit der Arbeiterbewegung landeten. Das waren im wesentlichen die klassische deutsche Sozialdemokratie mit ihrer starken preussischen Prägung, die antistalinistischen und stalinistischen Strömungen, die sich auf die Oktoberrevolution beriefen und libertär-anarchistische Vorbilder. Alle hatten sie zu den Errungenschaften der demokratischen Revolutionen ein zwiespältiges bis negatives Verhältnis.
Am einflussreichsten aber waren die Vorbehalte der Frankfurter Schule gegenüber dem politischen Liberalismus. Die Kritische Theorie, welche den Marxismus angesichts der stalinistischen Verwüstung ungemein befruchtet hat, fiel aufgrund von Faschismus, Holocaust, Versagen der Linken, Totalitarismus im Osten, Kommerzialisierung in den USA in einen rabenschwarzen Fundamental-Pessimismus. Dieser erlaubte tiefschürfende Analysen des real existierenden Kapitalismus und lieferte damit den Unzufriedenen der 1960er Jahre Antworten auf viele Fragen kollektiver und individueller Natur. Gleichzeitig verleugneten die "Dialektik der Aufklärung" (Adorno/Horkheimer), "Der eindimensionale Mensch" oder "Triebstruktur und Gegenwart" (Marcuse) die Chance auf Alternativen. Die Kritische Theorie identifizierte die Gesellschaft mit dem System einer totalen Gesellschaft, welche alles verwaltet und vermarktet. Politische Spielräume, die emanzipatorisch genutzt werden können, gibt es keine. Die demokratischen Errungenschaften wie Wahlrecht, Parlament, aber auch Initiative und Referendum sind entweder wirkungslose Leerläufe oder dienen bloss der Integration (Dialektik der Aufklärung, New York 1944, FaM 1969 / Der eindimensionale Mensch, Boston 1964, Darmstadt 1967 / Triebstruktur und Gesellschaft, Boston 1955, FaM 1955. Siehe darüber: J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd 1, S.489ff. Und: U.Rödel, G.Frankenberg, H.Dubiel, Die demokratische Frage, FaM 1989 S.157ff.)
Wer nach dem Abflauen der 68er Bewegung trotzdem etwas verändern wollte, kam nicht umhin, in der Praxis sich an Wahlen zu beteiligen, Unterschriften zu sammeln und Abstimmungskämpfe zu führen. Aber die oft beachtlichen Erfolge führten nur selten zu einer systematischen Hinterfragung der theoretischen Grundannahmen.
1989 und die Sympathien zur PDS
Einen demokratietheoretischen Schub gab es erst nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989. MarxistInnen und PostmarxistInnen haben dazu quantitativ und qualitativ hervorragende Beiträge geleistet. Allerdings haben sich viele Linke von dieser Debatte abgewandt, weil ihnen Identitätswahrung wichtiger ist als schmerzliches Infragestellen liebgewordener Überzeugungen.
Angesichts der monströsen Verbrechen und menschlichen Katastrophen, die im Namen des Sozialismus in diesem Jahrhundert begangen oder verursacht worden sind, ist es beschämend, wie wenig Vergangenheitsbewältigung von Linken in den letzten Jahren geleistet wurde. Einem Nachholen des Verpassten dürfte das "Schwarzbuch des Kommunismus" eher schaden als nützen. Es ist nicht nur höchst unseriös, sondern auch skandalös: die Gleichsetzung von Stalinismus und Nationalsozialismus bedeutet eine Verharmlosung, wenn nicht Verleugnung des Holocausts (Le livre noir du communisme, Paris 1997; Le Monde Diplomatique/Die Wochenzeitung 12/1997, 1/1998).
Selbst beim Trotzkismus, der bis1989 oft das linke Monopol einer systematischen Kritik des Stalinismus gehabt hatte, gibt es Tendenzen, diese Vergangenheit und damit die eigenen Verdienste zu verdrängen. Ein Ausdruck davon sind die verbreiteten Sympathien für die deutsche Partei des demokratischen Sozialismus. Auch wenn die PDS trotz einem ultrakonservativen Flügel nicht als stalinistisch bezeichnet werden kann, handelt es sich bei ihr um die politische, strukturelle und materielle Erbin eines diktatorischen Unrechtsstaates. Wer sich von diesem nicht klipp und klar abgrenzt, und das tut die PDS nicht, verdient kritische und hartnäckige Aufsässigkeit .
Aus meiner Sicht ist die Aufarbeitung der stalinistischen oder autoritären Vergangenheit vieler linker Strömungen, auch der sozialdemokratischen, eng verbunden mit einer Neubewertung der Errungenschaften und Überzeugungen, die man mit politischem Liberalismus zusammenfassen kann. Dazu gehört auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Demokratie-Defizit von Marx und Engels. Sonst verpassen wir beim nächsten Linksaufschwung wieder wichtige Chancen.
Demokratie ist eine linke Errungenschaft
Die demokratischen Rechte und Institutionen sind in der Regel Errungenschaften der mittelständisch und unterschichtig geprägten Radikalen im 19. und der Arbeiter-Linken und sozialen Bewegungen im 20. Jahrhundert. Selbst die Schweizer Geschichte (Regeneration, direkte Demokratie, Proporz, Frauenstimmrecht, Demokratisierungen nach 1918 und 1968) zeigt dies deutlich. Ein Grossteil der Besitzbürger waren in Krisensituationen sehr schnell bereit, die liberalen Grundsätze zugunsten autoritärer, oft sogar faschistischer "Alternativen" aufzugeben. Ohne das deutsche, italienische und spanische Grosskapital hätten weder Hitler, noch Mussolini, noch Franco eine Chance gehabt. Zu was die bürgerlichen "Demokraten" fähig sind, wenn es kein oppositionelles Gegengewicht gibt, zeigte der McCarthysmus in den USA der 50er Jahre. Und in der Dritten Welt hat der "freiheitliche" Westen seit dem Zweiten Weltkrieg mehr Diktaturen geschaffen als untergraben, mehr Demokratien erledigt als unterstützt. Wer die real existierenden Demokratien, die mit dem sozioökonomischen System weder gleichgesetzt noch aus ihm deduziert werden können, mit dem Adjektiv "bürgerlich" versieht, macht der Bourgoisie ein unverdientes Kompliment und verdrängt linke Verdienste. "Es war nicht der Kapitalismus, der die Demokratie zu einem universellen Wert machte, sondern der Kampf gegen den Kapitalismus." (Agnes Heller: Ueber formale Demokratie in: John Keane (Hg), Civil State and State, London 1988, S.129ff.)
Gerade weil demokratisch verfasste Gesellschaften nicht oder nur nebensächlich das Werk der Bourgeoisien sind, und weil politische Kulturen und öffentliche Strukturen ihre Autonomie haben, reagieren sie verschieden auf ökonomische Einbrüche. Während Deutschland vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise totalitär wurde, setzte sich in den USA ein (sozial-)demokratischer New Deal durch. Eine (nicht die einzige) Erklärung für diese entgegengesetzten Antworten liegt in den unterschiedlichen Ausgängen der demokratischen Revolutionen. Genau diese blendete der in den 70er Jahren oft skandierte Slogan aus: «Kapitalismus in Not, Faschismus droht».
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