Übersicht Dossiers Themenfokus Demokratie Wege zur Demokratisierung der EUDie Politik der Europäischen Union bestimmt unser Leben in immer größerem Maße. Rund 82 % der in Deutschland erlassenen Rechtsakte haben mittlerweile ihren Ur-sprung in Brüssel. Während paketweise Entscheidungskompetenzen auf die europäische Ebene übertragen werden, verlieren die Bürgerinnen und Bürger zunehmend an Ein-fluss auf die Politikgestaltung. Demokratie wird klein geschrieben in Brüssel. Noch im-mer.
Roman Huber1)
Unsere Kritik an der Europäischen Union ist grundsätzlich nicht neu. Die Europäische Union ist bereits HEUTE, also VOR der Ratifizierung des Lissabonvertrages in einem bedenklich undemokratischen Zustand. Von zahlreichen Autoren auch hier im Europa-Magazin wurden die massiven Demokratieprobleme der EU analysiert und beschrieben. Wir setzen diese Kritik als bekannt voraus und setzen uns mit alternativen Vorschlägen zur Neugestaltung der Union auseinander, eine Diskussion, die gerade nach dem Scheitern des Vertrages von Lissabon ak-tueller nicht sein könnte.
Konvent
Eine neue vertragliche Grundlage für die Europäische Union sollte fest in geltenden demokra-tischen Werten verankert sein. Unter diesen Vorgaben verstehen wir vor allem die umfassen-de Einbeziehung der Bürger in den Verfassungs- bzw. Reformprozess.
Nach unserem Vorschlag sollte dieser folgendermaßen ablaufen. Durch direkte Wahl wird ein Konvent bestimmt, der verschiedene Möglichkeiten einer vertraglichen Neugestaltung Euro-pas diskutiert und einen Vorschlag ausarbeitet, über den die Bürger der Union verbindlich in Referenden entscheiden. Ob am Ende des Arbeitsprozesses des Konvents ein Entwurf für ei-nen europäischen Bundesstaat oder für einen Bund von Staaten oder eine Zwischenform steht, sollte offen bleiben.
Die Zusammensetzung eines solchen Konvents könnte wie folgt geregelt werden. Grundsätz-lich sollte dieses Gremium aus Mitgliedern aller Staaten der EU bestehen. Ein Teil der Kan-didaten müsste durch innerstaatliche Auswahlverfahren bestimmt werden, weitere Kandidaten würden von den europäischen Parteibündnissen aufgestellt. Das letzte Wort hätten jedoch die Bürgerinnen und Bürger, die in ganz Europa am gleichen Tag direkt über die Zusammenset-zung des Konvents abstimmen würden. Das Konventsmandat wäre, einen für möglichst viele EU-Bürger vertretbaren Vorschlag für die Zukunft Europas zu entwerfen.
Für die Moderation dieser Versammlung selbst bestimmen die gewählten Konventsmitglieder aus ihrer Mitte ein Präsidium, welches aber ausdrücklich keine Entscheidungsbefugnisse be-sitzt. Alle Sitzungen des Konvents finden öffentlich statt, so dass zu jeder Zeit Einsicht in die Arbeit der Versammlung möglich ist. Transparenz ist unserer Meinung nach mit die wichtigs-te Voraussetzung für eine breite Akzeptanz des Ergebnisses in der Bevölkerung. Der Text einer solchen Verfasstheit ist nicht nur für Juristen, sondern für alle Menschen in Europa ge-dacht. Er müsste also verständlich, übersichtlich und von überschaubarem Umfang sein.
Der Entwurf sollte nicht in einem gesamteuropäisches Referendum zur Abstimmung gestellt werden, da sonst kleinere Staaten vergleichsweise wenig Einfluss auf das Ergebnis hätten. Statt dessen schlagen wir nationale Referenden vor, die am gleichen Tag in ganz Europa statt-fänden. Für die Annahme des Entwurfs wäre eine „doppelte Mehrheit“ erforderlich, d.h. es sollte die Mehrheit aller europäischen Bürger und gleichzeitig eine 4/5 Mehrheit aller Länder zustimmen. Da die Abstimmungen in ganz Europa am gleichen Tag stattfinden sollen, wäre eine wechselseitige Beeinflussung von Abstimmungsergebnissen in den einzelnen Mitglieds-staaten ausgeschlossen.
Ein demokratisches System
Ausgehend von den Schwachpunkten der EU haben wir einen konkreten Alternativvorschlag zur ihrer heutigen Verfasstheit ausgearbeitet. Damit sollen vor allem drei Entwicklungen der Union überwunden werden. Zum einen die Zentralisierung der Entscheidungsgewalt in Brüs-sel, durch die der Grundsatz der Subsidiarität zunehmend ausgehöhlt wird und die nationalen Parlamente immer mehr ihrer Kompetenzen an die EU abgeben müssen. Zweitens fehlen auf europäischer Ebene Elemente direkter Demokratie, durch die die Bürger unmittelbar Einfluss auf die Politikgestaltung nehmen können. Der dritte Punkt betrifft die vollkommen unverhält-nismäßige Macht der Exekutivorgane in der EU. Sowohl der Kommission (durch ihr Initia-tivmonopol) als auch dem Europäische Rat (durch die Setzung der politischen Leitlinien und seine faktische Rechtsetzungsbefugnis durch den Ministerrat) stehen realpolitisch nur geringe Kompetenzen des Europäischen Parlaments gegenüber.
Dezentralisierung
Um der zunehmenden Zentralisierung von Entscheidungsgewalt entgegenzuwirken, stützt sich unsere Vorstellung eines demokratischen Europas auf föderale und dezentrale Strukturen. Eine föderale Ausrichtung der EU bedeutet hier keinesfalls die Bildung eines unitarischen Bundesstaates, sondern vielmehr eine demokratisch kontrollierte Föderation etwa nach dem Vorbild der Schweiz. Die Europäische Union sollte, wie es der Subsidiaritätsgedanke vor-sieht, nur dann Entscheidungen treffen, wenn die kleineren Einheiten, also die Mitgliedsstaa-ten bzw. ihre Regionen oder Länder, diese Aufgabe nicht wahrnehmen können. Wir schlagen eine massive Dezentralisierung der Entscheidungskompetenzen vor. Je näher die Zuständig-keiten bei den Bürgern angesiedelt sind und je stärker und direkter diese an ihrer Ausübung beteiligt sind, desto demokratischer ist die jeweilige Gemeinschaft. Die Aufteilung dieser Kompetenzen sollte klar geregelt sein. Themen mit eindeutig europapolitischer Relevanz soll-ten weiterhin von der Union ausgeübt werden, jedoch müssen Sachgebiete, die auch dezentral geregelt werden können in den Händen der regionalen Einheiten verbleiben. Im Zweifel hat die untere Ebene Vorrang.
Zuständig für die konkrete Aufteilung dieser Kompetenzen wäre in unserem Vorschlag der Konvent. Die Herausbildung einer föderalen Ebene, die sich aus Regionen und Kommunen zusammensetzt, wird eine größere Nähe zu den Bürgern herstellen. Politische Entscheidungen würden mit mehr Bewusstsein für lokale Probleme und Bedürfnisse gefällt, die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger am politischen Prozess wäre überhaupt erst realisierbar und die Kontrolle der Politiker in der Praxis auch umsetzbar.
Institutionelle Reformen
Die institutionellen Reformen, wie wir sie vorschlagen, orientieren sich an vier Leit-Prinzipien:
(1) Je direkter ein Organ gewählt ist, desto stärker ist es von den Bürgern der EU legitimiert. Folglich sollten Organe, die ein hohes Maß an Legitimation vorweisen können, stärker an der Gesetzgebung beteiligt werden als solche, die nicht direkt vom Volk gewählt werden.
(2) Die Mitgliedsstaaten als auch Bürger sollten jeweils politisch gleichgestellt bzw. gleich repräsentiert sein und an der Gesetzgebung beteiligt werden.
(3) Die Gewaltentrennung zwischen ausführenden Organen (Regierung, Verwaltung), gesetz-gebenden Organen (Parlamente) und rechtsprechenden Organen (Gerichte) muss gegeben sein. Genauso sollte dieser Grundsatz im Verhältnis von EU- Ebene und nationaler Ebene befolgt werden.
(4) Ein Organ mit Regierungskompetenz muss entweder direkt von den Bürgerinnen und Bürgern oder von ihren parlamentarischen Vertretern gewählt und abgewählt werden kön-nen.
In unserem institutionellen Entwurf (s. Abb.) stehen zwei Kammern im Mittelpunkt, die sich die Gesetzgebungskompetenz in der EU teilen. Einmal das Europäische Parlament mit we-sentlich gestärkten Rechten und Kompetenzen und zudem eine Staatenkammer, in der die Vertreter der Mitgliedsstaaten sitzen. Die Kommission nähme nur mehr die Verwaltungsfunk-tionen in der Union wahr und würde stärker als bisher vom EP kontrolliert. Weiterhin wäre der Europäische Rat als Koordinationsgremien der nationalen Regierungen in beratender Funktion an der europäischen Politik beteiligt, besäße aber keine Entscheidungsbefugnisse mehr. Der Europäische Gerichtshof sollte in Zukunft gewählt werden, seine Rechten und Pflichten blieben jedoch strikt auf die Zuständigkeiten der EU- Ebene beschränkt.
Abb. Die EU von morgen? – Alternativvorschlag für ein demokratisches Europa
Das Europäische Parlament wäre auf europäischer Ebene das zentrale Repräsentativorgan der Bürger. Die Fülle der verschiedenen Kulturen in den Mitgliedsstaaten der EU sollte sich die in der Zusammensetzung des EP widerspiegeln. Daher gäbe es keine Sperrklausel, die den Einzug kleinerer Parteien verhindern könnte. Für die Wahlen gälte der gleiche Grundsatz wie er auch auf nationaler Ebene selbstverständlich ist: nämlich der Gleichheit der Stimmen. Jede Stimme sollte den gleichen Einfluss auf die Wahl zum Europäischen Parlament haben, nur für sehr kleine Länder kann von diesem Grundsatz abgewichen werden. Wir schlagen hier eine Mindestanzahl von 4 Sitzen pro Land vor, ansonsten bemäße sich die Anzahl der Sitze pro Land nach der jeweiligen Bevölkerungsgröße. Das EP würde direkt von den Bürgern gewählt, dabei sollte die Grundlage ein einheitliches Verhältniswahlrecht bilden. Durch glei-che Verfahrensregeln wäre gewährleistet, dass das Ergebnis tatsächlich den Willen der Be-völkerung repräsentiert. Anders als bisher sollte das Parlament über das Initiativrecht für Gesetzesvorlagen verfügen und gemeinsam mit der Staatenkammer für die Gesetzgebung zuständig sein. Weiterhin besäße es das volle Haushaltsrecht und würde den von der Kom-mission aufgestellten Haushalt beschließen. Die Wahl von Kommission und Kommissions-präsidenten läge beim Europäischen Parlament. Anstatt nur die Kommission als Ganzes ab-berufen zu können, sollte es dem EP künftig auch möglich sein, einzelne Kommissare zum Rücktritt zu zwingen. Das Parlament muss künftig auch dazu berechtigt sein, Änderungen an den Grundverträgen vorzuschlagen (dies ist im Vertrag von Lissabon übrigens so vorgese-hen: Art. 48 Abs. 2 EUV neu).
Den zweiten Teil des institutionellen Kerns bildet in unserem Entwurf eine Kammer der Mit-gliedsstaaten, die den Ministerrat ablösen soll. Damit der Grundsatz der Gewaltenteilung ge-wahrt bleibt, bestünde diese Staatenkammer jedoch nicht aus Mitgliedern der nationalen Re-gierungen, sondern aus Abgeordneten der nationalen Parlamente. Die Kammer würde sich aus der gleichen Anzahl von Vertretern pro Land zusammensetzen. Jeder Vertreter hätte eine Stimme. Wie auch das EP käme der Staatenkammer ein Gesetzesinitiativrecht zu, für die Ge-setzgebung selbst wäre sie zusammen mit dem EP zuständig. Eine weitere wichtige Aufgabe dieser Kammer sollte die Kontrolle der Kompetenzverteilung zwischen EU und nationaler Ebene sein, da so am effektivsten über die Einhaltung des Subsidiaritätsgedankens und des Grundsatzes der dezentralen Entscheidungsfindung gewacht werden könnte.
Die Europäische Kommission bestünde zwar als wichtiges Verwaltungsorgan der EU fort, würde aber in ihren Zuständigkeiten deutlich beschnitten. Anstatt aktiv Politik zu gestalten, bestünden die Aufgaben der Kommission vor allem in der Verwaltung des Haushalts und der Umsetzung der beschlossenen EU-Maßnahmen. Die Zahl der Kommissare bemäße sich nach der Anzahl der Politikbereiche, für die die EU zuständig wäre. Die direkte Kontrolle der Kommissare durch das Parlament sollte deren Bemühungen verstärken, die Bürokratie zu kontrollieren und sie für ihre politischen Entscheidungen direkt verantwortlich machen. Durch die Umwandlung des Ministerrats in eine Staatenkammer verlören die staatlichen Re-gierungen ihren unmittelbaren Einfluss auf die Gesetzgebung und die Verträge. Sie wären jedoch trotzdem durch den Europäischen Rat beratend an der Gesetzgebung beteiligt, da sie mit dem politischen Alltagsgeschäft in ihrem Land am besten vertraut sind. Darüber hinaus hätte der Rat die Möglichkeit, Gesetzesvorlagen in den Legislativprozess einzubringen.
In unserem Reformmodell bekäme der EuGH die Rolle eines europäischen Verfassungsge-richts zugewiesen, vor dem gegen Verstöße gegen die Gemeinschaftsverträge geklagt werden kann und vor dem Rechtstreitigkeiten entschieden werden, die die Gesetzgebung der EU-Ebene und die Umsetzung des Unionsrechtes betreffen. Anders als bisher sollten auch die nationalen Parlamente, sowie der Ausschuss der Regionen vor dem EuGH klageberechtigt sein. Zugleich wäre er für die Einhaltung der Subsidiarität zuständig. Bei seiner Zusammen-setzung scheint uns besonders wichtig, dass die Richter künftig gewählt werden. Bisher wer-den die Richter am EuGH von den nationalen Regierungen in gegenseitigem Einvernehmen ernannt (Art. 223 EGV). Die Wahl könnte durch einen „Richterwahlausschuss“ stattfinden, der sich zu gleichen Teilen aus hohen Richtern und Parlamentariern des jeweiligen Landes zusammensetzen würde. Alternativ wäre eine Wahl durch die nationalen Parlamente denkbar.
Direkte Demokratie
Zusätzlich zu den institutionellen Reformen schlagen wir die Einführung direktdemokrati-scher Verfahren vor, die die repräsentative Demokratie effektiv ergänzen. Für die Bürger gäbe es in diesem System die Möglichkeit, durch eine EU- Bürgerinitiative mit mehr als 400 000 Unterschriften direkt einen Gesetzesvorschlag in das Europäische Parlament und die Staatenkammer einbringen. Wird dieser Vorschlag nicht in einem Gesetz umgesetzt, kann ein EU- Bürgerbegehren beantragt werden. Dabei müssten innerhalb eines Jahres mindestens 3.000.000 Unterschriften gesammelt werden. Um der Instrumentalisierung dieses Bürgerbe-gehrens für Einzel- bzw. Länderinteressen vorzubeugen, schlagen wir entsprechende Rege-lungen vor, die eine Mindestanzahl an Unterschriften aus mehreren Ländern kommen muss (je nach Einwohnerzahl 0,25 bis 1% der Stimmberechtigten).
Der folgende EU- Bürgerentscheid wäre dann angenommen, wenn eine Mehrheit der an der Abstimmung teilnehmenden Bürger für die Vorlage stimmt und die Vorlage gleichzeitig in über der Hälfte der EU-Staaten eine Mehrheit der Abstimmenden erhielte (derzeit 14 von 27 Staaten). Beteiligungs- bzw. Zustimmungsquoren lehnen wir ab.
Dieses Initiativrecht sollte durch die Möglichkeit des Fakultativen Referendum gegen Ge-setzesvorlagen der EU mit mindestens 1.500.000 Unterschriften ergänzt werden. Obligatori-sche Referenden bei wesentlichen Vertragsänderungen stellen die grundlegende Rückkoppe-lung an die Bürger sicher. Angenommen wäre die Änderung, wenn die Mehrheit der europäi-schen Bürgerinnen und Bürgern zustimmt und sich gleichzeitig die Mehrheit der Bevölke-rung in 4/5 der Mitgliedsstaaten dafür ausspricht.
Krise als Chance
Die Europäische Union erweist sich heute – gewollt oder nicht – als eine Organisation, durch die in großem Umfang demokratische Rechte für die Bürger verloren gehen. Viele halten die-ses vormundschaftliche Europa für alternativlos. Dass dies eben der Preis sei, den wir bezah-len müssten und gerne bezahlten, wenn es darum gehe, ein gemeinsames Europa zu verwirk-lichen. Doch ein Europa, dessentwegen wir aufgeben, was uns das Wichtigste ist, ist keine gute Idee.
Demokratie ist kein Selbstzweck. Vielmehr ist eine funktionierende Demokratie die Voraus-setzung für das Gelingen aller anderen Politiken. Die Demokratie ist der Humus, aus dem alleine dauerhaft gute Politik, Politik im Sinne der Bürger, erwachsen kann. Sie ist das Kö-nigstor, durch das jeder Gedanke und Wille schreiten muss, bevor er verdient allgemeinver-bindlich zu werden. Sie ist logische Konsequenz und unmittelbarer Ausdruck der Menschen-würde, des Grundsatzes der Gleichheit und Freiheit jedes Individuums.
Europa kann nur demokratisch gelingen. Ein undemokratisches, obrigkeitsgesteuertes Europa verspielt das Erbe, auf das es gegründet ist – und über kurz oder lang auch die Unterstützung seiner Bürger. Ein demokratisches, bürgerfreundliches Europa dagegen hat sie verdient und wird sie gewinnen.
1) Von Mehr Demokratie, http://www.mehr-demokratie.de
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