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EU-Beitritt und Gesetzesreferendum



Die Auswirkungen eines EU-Beitritts auf die Demokratie gehören zu den Hauptthemen in der schweizerischen Beitrittsdiskussion. Im Hinblick auf die direktdemokratischen Instru-mente stellen sich dabei namentlich zwei Problemkreise:
Nach schweizerischem Staatsrecht kann grundsätzlich keine Rechtsnorm in Kraft treten, die nicht dem zumindest fakultativen Referendum unterlag oder sich auf einen referen-dumspflichtigen Erlass abstützen kann. Das würde sich bei einem EG-Beitritt ändern, so-weit EG-Recht unmittelbar anwendbar ist oder zur Folge hat, dass Regelungen zwingend erlassen werden müssen.
Nach schweizerischem Staatsrecht kann grundsätzlich jegliche Regelung auf dem Wege der eidgenössischen Volksinitiative auf Verfassungsreform zur Abstimmung vorgeschlagen werden. Soweit jedoch eine solche Regelung dem EG-Recht widerspricht, wäre die entspre-chende Initiative nicht mehr zulässig .

von Dr. Hansjörg Seiler, Privatdozent *(Hansjörg Seiler schrieb im Vorfeld der EWR-Abstimmung das Buch "EG, EWR und schweizerisches Staatsrecht, das rechtliche Funktionieren eines Beitrittes der Schweiz zu EG oder EWR, Bern, Stämpfli, 1990)

Befürworter eines EG-Beitritts haben grundsätzlich drei Strategien zur Verfügung, um mit den Problemkreis "direkte Demokratie und EU" umzugehen:

Grundsätzliche Infragestellung der direkten Demokratie

Die erste Strategie besteht darin, die (direkte) Demokratie grundsätzlich in Frage zu stellen. Diese sei veraltet, führe zu "populistischen" Ergebnissen, verhindere die Anpassung an die Moderne und den Fortschritt usw. Das sind die alten Argumente, die schon vor mehr als hundert Jahren gegen die Einführung direktdemokratischer Instrumente vorgebracht wurden. Da wir aus Gründen, die auszführen hier nicht der Platz ist, die direkte Demokratie für wünschenswert halten, setzen wir uns mit dieser These nicht näher auseinander.

Diese These wird bisweilen etwas modifiziert: Es wird argumentiert, die direkte Demokratie sei auf inländische Fragestellungen zugeschnitten, aber für aussenpolitische Fragestellungen fragwür-dig. Im praktischen Ergebnis ist die Konsequenz dieser Auffassung ähnlich wie diejenige der grundsätzlichen Ablehnung der Demokratie: Da sich Innen- und Aussenpolitik immer weniger trennen lassen und innenpolitische Entscheide sehr oft aussenpolitische Implikationen haben, kann auf der Grundlage dieser Auffassung die Tragweite der direkten Demokratie sehr weitgehend ein-geschränkt werden. Die These ist aber fragwürdig:

Manche ihrer Vertreter gehen von der falschen Annahme aus, die direkte Demokratie stehe im Zusammenhang mit einer "nationalstaatlichen" Konzeption der Volkssouveränität, womit impliziert wird, dieses Konzept sei grundsätzlich veraltet. Das basiert auf einer unreflektierten Verwen-dung des Begriffs "nationalstaatlich". Versteht man unter "Nation" eine vorstaatlich bestehende, ethnisch-kulturell definierte Einheit, dann wäre das in der Tat eine fragwürdige Demokratiebe-gründung. Das geht aber am Problem vorbei; ausser einigen völkisch angehauchten deutschen Demokratietheorien hat noch nie jemand behauptet, Demokratie setze ein ethnisch definiertes "Volk" voraus. Insbesondere basiert die schweizerische Demokratie nicht auf einer solchen Vor-stellung. "Volk" im Sinne des schweizerischen Staatsrechts definiert sich ausschliesslich über das rein formale, juristische Kriterium der Staatsangehörigkeit, welches keinen Bezug zu ethnisch-kulturellen Vorgaben hat. Direkte Demokratie hat nichts mit Nationalstaatlichkeit (in einem ethnisch-kulturellen Sinne) zu tun.

Manche dieser Stimmen gehen von einer Output-orientierten Optik aus, insbesondere von der An-nahme, den wohlverstandenen Interessen des Volkes wäre mit einem möglichst raschen EU-Beitritt der Schweiz am besten gedient. Die direkte Demokratie sei deshalb fragwürdig, weil sie dazu geführt habe, dass bisher die Schweiz der EU nicht beigetreten sei und damit ihre Interessen nicht optimal gewahrt habe. Das ist die Optik desjenigen, der sich für klüger hält als die Andern und besser weiss als das Volk selber, was diesem frommt. In letzter Konsequenz ist dies die Negation der Demokratie, welche darauf beruht, dass das Gemeinwohl nicht vorgegeben ist, sondern sich aus der Auseinandersetzung der verschiedenen Gemeinwohlvorstellungen ergibt, wobei jedes Menschen Stimme gleichberechtigt ist.

Schliesslich setzt sich diese Theorie höchst einseitig mit dem Sinn der direkten Demokratie in in-ternationalen Beziehungen auseinander. Es kann mit guten Gründen angenommen werden, dass gerade in der Aussenpolitik direkte Demokratie sinnvoll wäre, um den Frieden in der Welt zu för-dern. Uns ist jedenfalls kein Fall bekannt, in welchem ein Volk direktdemokratisch beschlossen hätte, einen Angriffskrieg zu führen. Das wäre ein Argument, um gerade in der Aussenpolitik mehr direkte Demokratie zu fordern.

Negierung des Spielraums der direkten Demokratie

Die zweite Strategie geht davon aus, dass zwar durch einen EU-Beitritt wohl die direkte Demokratie beeinträchtigt werde, dass aber diese ohnehin nur noch formal bestehe, da die Schweiz durchwegs durch "auto-nomen Nachvollzug" EU-Regelungen übernommen habe. Der EU-Beitritt ändere also wohl rechtlich, nicht aber faktisch etwas. Ja, ein EU-Beitritt erhöhe sogar die Mitwirkungsrechte, da die Schweiz dann beim Zustandekommen der EG-Regelungen inhaltlich mitreden könnte. Mit dieser These können wir uns hier nicht eingehend befassen; nur kurz drei Punkte:

1. Es ist ein Unterschied, ob man im Einzelfall unter Abwägung aller Vor- und Nachteile eine EG-Regelung übernimmt, oder ob man generell verpflichtet ist, dies zu tun. Wohl hat die Schweiz in vielen Bereichen EG-Regelungen übernommen, aber eben nicht in allen. Es gibt wichtige Fragen, in denen die Schweiz bis heute Regelungen beibehalten hat, die sie als EG-Mitglied schon lange hätte ändern müssen, z.B. die Höhe der Mehrwertsteuer. Auch in der Alpentransitpolitik hätte die Schweiz als EG-Mitglied ihre innovative Politik nicht beibehalten können.

2. Die Mitwirkungsrechte in den EG-Gremien sind nicht Mitwirkungsrechte "der Schweiz" und schon gar nicht des Volkes, sondern Mitwirkungsrechte des Bundesrates und der Verwaltung. Es sind im wesentlichen intergouvernementale Entscheidungsprozesse, in denen die schweizerischen Vertreter mitreden könnten. Bisher galt es jedenfalls in der Schweiz nicht als Kennzeichen der Demokratie, der Verwaltung möglichst viel und dem Volk möglichst wenig Macht zu geben.

3. Man muss unterscheiden zwischen rechtlicher und politischer Optik. Rechtlich hat ein souveräner Staat ausserhalb der EU einen grösseren Handlungsspielraum als ein Mitgliedstaat. Dafür hat ein Mitgliedstaat Mitwirkungsrechte an der EU-internen Meinungsbildung. Politisch ist klar, dass die EU auf kleine, benachbarte Drittländer erheblichen Druck ausüben kann. Aber ebenso können die grösseren EU-Staaten innerhalb der EU politischen Druck ausüben auf einzelne kleine EU-Staaten. Das gilt insbesondere auch dort, wo innerhalb der EU das Einstimmigkeitsprinzip gilt und rechtlich gesehen ein einzelner Staat einen EG-Beschluss verhindern könnte. Geht man davon aus, dass die EU in einer bestimmten Frage, in der die Schweiz eine andere Position vertritt als die EU, mit politischem Druck die Schweiz zu bestimmten Lösungen zwingen kann, dann könnte die EU-Mehrheit auch auf eine Schweiz innerhalb der EU einen entsprechenden Druck ausüben. Wer ar-gumentiert, der Handlungsspielraum der Schweiz wäre innerhalb der EU grösser als ausserhalb, verwendet einen Methodendualismus: er betrachtet die Dinge für die Schweiz ausserhalb der EU politisch, für eine Schweiz innerhalb der EU aber rechtlich. Das ist unzulässig: entweder betrachtet man beide Situationen politisch oder beide rechtlich.

Verniedlichung der Auswirkungen eines EU-Beitritts

Die dritte Strategie besteht schliesslich darin, zu behaupten, die durch einen EU-Beitritt bedingten Einbussen an direkter Demokratie seien gar nicht so gross. Auf dieser Schiene fahren einige neuere Untersuchungen, namentlich ein im Rahmen des NFP 42 durchgeführtes Projekt über "Schweizerische Demo-kratie und Aussenpolitik".

Die Kernaussagen dieser These sind die folgenden: Es sei grundsätzlich möglich, auch Ausfüh-rungserlasse zu EG-Recht dem Referendum zu unterstellen. Das sei nur dann nicht sinnvoll, wenn jeglicher Gestaltungsspielraum fehle; das sei aber nur selten der Fall. In den meisten Fällen sei ein Referendum möglich. Eine EU-Mitgliedschaft sei daher nicht a priori mit direktdemokratischen Rechten unvereinbar. Und soweit eine solche Unvereinbarkeit bestehe, sei dies nicht spezifisch ein Problem der direkten Demokratie, sondern stelle einfach einen Reflex des Souveränitätsverlusts dar, der in der Übertragung von Hoheitsrechten an die EG liege.

Letzteres ist natürlich trivial, aber es ändert nichts am Problem: denn gerade in dieser Übertragung von Hoheitsrechten liegt ja der Demokratieverlust; wenn die Souveränität in einem Gemeinwesen direktdemokratisch wahrgenommen wird, dann bedeutet eben die Übertragung von Hoheitsrechten an ein Gemeinwesen, welches nicht direkt-demokratisch organisiert ist, einen Verlust an direkt-demokratischer Gestaltungsmöglichkeit.

Das lässt sich nicht wegdiskutieren. Die Frage ist höchstens, wie gross dieser Verlust ist. In diesem Zusammenhang muss nun näher auf die These eingegangen werden, in den meisten Fällen bliebe es möglich, die Ausführungsgesetzgebung dem Referendum zu unterstellen.

EG-Recht und unmittelbare Wirkung

Das EG-Recht kennt folgende verbindliche Rechtsakte:

• Verordnungen
• Richtlinien
• Entscheidungen.


Das EG-Recht unterscheidet sodann zwischen EG-Rechtsakten, welche unmittelbar in den einzelnen Mitgliedstaaten wirken und solchen, welche einer mitgliedstaatlichen Umsetzung bedürfen. Unmittelbar anwendbar sind

• die Verordnungen: diese gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat.
• die Entscheidungen: diese gelten unmittelbar für diejenigen, die sie bezeichnet. Das können Mitgliedstaaten oder Private sein.


Demgegenüber sind Richtlinien grundsätzlich nicht unmittelbar anwendbar. Sie müssen mittels mitgliedstaatlichen Vorschriften umgesetzt werden. Das ist aber sogleich zu relativieren:

Die Praxis hat nämlich auch zahlreichen Richtlinien unmittelbare Wirkung zuerkannt. Eine solche Wirkung tritt unter folgenden Voraussetzungen ein: Die Richtlinie ist genügend klar und präzis, räumt dem nationalen Gesetzgeber keinen inhaltlichen Ermessensspielraum ein und wird innerhalb der in der Richtlinie festgesetzten (normalerweise recht kurzen) Umsetzungsfrist nicht durch einzelstaatliche Vorschriften umgesetzt. Nach bisheriger Praxis trat die unmittelbare Wirkung nur ein bezüglich Ansprüche von Privaten gegenüber dem Staat. Nach neuerer Praxis scheint sich nun aber abzuzeichnen, dass sich auch staatliche Behörden zu Lasten Privater auf die unmittelbare Wirkung berufen können. Die Tragweite dieser Verschärfung ist noch nicht ganz geklärt. Tendenziell ist jedoch damit zu rechnen, dass die unmittelbare Anwendbarkeit eher grosszügiger angenommen wird.

Konsequenzen für das Referendumsrecht

Für die Fragen, welche EG-rechtlich durch Verordnung oder Entscheidung geregelt sind, ist eine Umsetzung durch mitgliedstaatliche Gesetze nicht nur nicht erforderlich, sondern nach der Praxis des EuGH auch nicht erlaubt, weil dadurch die Gefahr besteht, dass die EG-Verordnung verfälscht wiedergegeben wird. EG-Verordnungen gelten in den Mitgliedstaaten genauso wie z.B. das schweizerische Zivil- oder Strafgesetzbuch in allen Kantonen gilt, ohne dass es einer Umsetzung durch kantonales Recht bedürfte. Daher entfällt von vornherein jegliche Möglichkeit eines Referendums.

Demgegenüber bedürfen Richtlinien grundsätzlich einer Umsetzung durch einen Rechtserlass in den Mitgliedstaaten. Insoweit ist es grundsätzlich möglich, solche mitgliedstaatlichen Erlasse dem Referendum zu unterstellen. Doch ist zu differenzieren:

Soweit eine Richtlinie unmittelbar anwendbar ist, hat eine Volksabstimmung keine rechtliche Bedeutung. Zwar kann ein mitgliedstaatlicher Umsetzungsakt formal dem Referendum unterstellt werden. Wird er aber in der Volksabstimmung abgelehnt, gelten die entsprechenden Richtlinienbestimmungen (nach Ablauf der Umsetzungsfrist) trotzdem. Eine solche Volksabstimmung ist nicht nur rechtlich wirkungslos, sondern auch demokratiepolitisch schädlich: sie führt unweigerlich dazu, dass die Bevölkerung den berechtigten Eindruck erhält, direkte Demokratie sei sinnlos.

Soweit eine Richtlinie nicht unmittelbar anwendbar ist, tritt diese Wirkung zwar nicht ein. Doch ist zu beachten, dass der Mitgliedstaat rechtlich verpflichtet ist, die erforderlichen Umsetzungsakte zu erlassen. Die Verletzung dieser Pflicht führt zu einer Verurteilung durch den EuGH zur Zahlung von Zwangsgeld durch den säumigen Mitgliedstaat und - sofern dadurch Private einen Vermögensverlust erleiden - zu einer Haftung des Mitgliedstaates. Rechtlich besteht somit gar keine Freiheit, zum Umsetzungsakt "nein" zu sagen. Geht man davon aus, dass Demokratie nicht nur ein formales Instrument sein, sondern der Bevölkerung eine echte Mitgestaltung ermöglichen soll, dann ist es wenig sinnvoll, Abstimmungen durchzuführen, bei denen rechtlich nur eine Antwort zulässig ist.

Das Referendum für Umsetzungserlasse beizubehalten, ist jedenfalls dann sinnlos, wenn die EG-Richtlinie inhaltlich so dicht ist, dass sie dem nationalen Gesetzgeber keine wesentlichen Gestal-tungsspielräume mehr erlaubt. Nicht umsonst haben die meisten EG-Staaten für die Umsetzung von EG-Richtlinien besondere, vom normalen Gesetzgebungsverfahren abweichende Verfahren entwickelt oder in weitgehendem Umfang den Erlass der Umsetzungsvorschriften an die Regierung delegiert, weil die Umsetzung zuwenig politischen Spielraum enthält, als dass sich eine Be-fassung des Parlaments noch lohnen würde. Umso weniger liesse es sich rechtfertigen, das Refe-rendum beizubehalten.

Bisweilen belassen freilich die EG-Richtlinien den Mitgliedstaaten einen gewissen Gestaltungs-spielraum in der Umsetzung. Insoweit sind verschiedene Ausführungsakte möglich. Es ist alsdann eine Referendumsabstimmung denkbar über die Frage, welche von mehreren Umsetzungsvarianten vorzuziehen ist. Dafür wird bisweilen das sogenannte konstruktive Referendum vorgeschlagen. Das konstruktive Referendum besteht darin, dass ein Referendumskomitee nicht bloss bewirken kann, dass das vom Parlament beschlossene Gesetz zur Abstimmung gebracht wird, sondern dass es auch einen modifizierten Gesetzestext vorschlagen kann. Die Stimmbürger können dann nicht bloss zu dem vom Parlament ausgearbeiteten Gesetz Ja oder Nein sagen, sondern sie können unter verschiedenen Gesetzesvorschlägen auswählen. Eine ähnliche Situation ergibt sich auch, wenn das Parlament von sich aus verschiedene Varianten ausarbeiten und der Abstimmung unterbreiten kann. Soweit EG-Richtlinien einen politisch relevanten Gestaltungsspielraum einräumen, kann somit eine Volksabstimmung noch durchgeführt werden. Eine Einschränkung der demokratischen Rechte besteht aber auch hier: bei der normalen Konzeption des konstruktiven Referendum oder der Variantenabstimmung stehen insgesamt drei Varianten zur Auswahl: erstens die vom Parlament vorgeschlagene Gesetzesänderung, zweitens die vom Referendumskomitee (oder von einer Parlamentsminderheit) vorgeschlagene Lösung und drittens die Beibehaltung der bisherigen Regelung. Für die Umsetzung einer EG-Richtlinie steht die dritte Lösung nicht mehr zur Diskussion. Eingeschränkt ist natürlich auch die Möglichkeit eines Referendumskomittees oder einer Parlamentsminderheit, Varianten vorzuschlagen; zulässig sind diese nur, wenn auch sie der EG-Richtlinie genügen. Einzig im Rahmen der durch die Richtlinie eingeräumten Handlungsspielräume können Varianten vorgeschlagen werden. Der Grundsatz - der ja in der Regel das politisch Wich-tige enthält - steht nicht mehr zur Diskussion.

Quantifizierung des Demokratieverlusts

Für eine quantitative Beurteilung des mit einem EU-Beitritt verbundenen Verlusts an direkter Demokratie müsste somit erhoben werden, wieviele der EG-Rechtsakte in Form von Verordnungen und Richtlinien ergehen, wieviele der Richtlinien als unmittelbar anwendbar gelten und wie gross die Entscheidungsspielräume bei den einzelnen Richtlinien sind. Eine solche Quantifizierung ist nicht einfach; es ist nicht sinnvoll, einfach die Zahl der Richtlinien und Verordnungen zu erheben, da auch die Bedeutung der entsprechenden Erlasse zu berücksichtigen ist.

In Form der Verordnung werden in der Regel folgende Rechtsakte erlassen:

• Regelungen, welche die EG-Institutionen selber betreffen (Organisation, Verfahren).
• Regelungen in denjenigen Bereichen, in denen die EG eine eigene Politik betreibt und mindestens teilweise auch selber vollzieht. Das betrifft insbesondere Zoll, Aussenhandel, Landwirtschaft und Fischerei.
• Bisweilen auch in anderen Bereichen, vor allem zur Konkretisierung der Grundfreiheiten (z.B. über personelle Freizügigkeit).


Während langer Zeit waren Verordnungen weniger zahlreich als Richtlinien. In den letzten Jahren hat die Zahl der Verordnungen explosionsartig zugenommen; in den Jahren 1996 und 1997 erliess die EG insgesamt rund 5'000 Verordnungen, hauptsächlich in den Bereichen Landwirtschaft und Zoll.

In der Wettbewerbspolitik sind die grundlegenden Bestimmungen in Form der Verordnung erlassen; gestützt darauf wird in der Form der Entscheidung befunden, ob bestimmte mitgliedstaatliche Massnahmen (z.B. Subventionen, öffentliche Anstalten) zulässig seien. Auch die Entscheidung ist also nicht einfach eine "rechtsanwendende" Verfügung, die nur einzelne Personen betrifft. In der Form der Entscheidung kann beispielsweise eine gesamte mitgliedstaatliche Regelung ungültig erklärt werden (das könnte z.B. gelten für die kantonalen Gebäudeversicherungsmonopole).

Demgegenüber wurden in den letzten Jahren jährlich rund etwa hundert Richtlinien erlassen. Eine Quantifizierung des Anteils der unmittelbar anwendbaren Richtlinien ist schwierig. Denn ob eine Richtlinie als unmittelbar anwendbar gilt, ergibt sich nicht aus dem Wortlaut der Richtlinie selber; es steht letztlich erst fest, wenn in einem Streitfall der EG-Gerichtshof entschieden hat, dass eine Richtlinie als unmittelbar anwendbar gilt.

Nach der Konzeption der EG-Verträge sollten die Richtlinien eigentlich nur das anzustrebende Ziel festlegen, aber die Wahl der Mittel und Wege den Mitgliedstaaten überlassen. Entgegen diesem Grundsatz sind zahlreiche Richtlinien inhaltlich sehr präzise gefasst. Die durchschnittliche EG-Richtlinie ist in ihrer Dichte durchaus vergleichbar mit einem schweizerischen Bundesgesetz. Das bedeutet erstens, dass recht viele Richtlinienbestimmungen als unmittelbar anwendbar betrachtet werden können, und zweitens, dass auch dort, wo das nicht der Fall ist, ein Gestaltungspielram nur noch etwa insoweit besteht, wie er auf der Stufe einer Vollzugsverordnung möglich wäre.

Häufig wird die Ansicht vertreten, dass in Zukunft das EG-Recht weniger zentralistisch ausgestaltet sein und den Mitgliedstaaten einen grösseren Spielraum belassen werde. Das wird damit begründet, dass im Maastricht-Vertrag ausdrücklich das Subsidiaritätsprinzip festgehalten sei. Al-lerdings ist im gleichen Maastricht-Vertrag auch festgehalten, der gemeinschaftliche Besitzstand sei zu wahren und weiterzuentwickeln (Art. B des Vertrags über die Europäische Union). Seither wird zwar das Subsidiaritätsprinzip regelmässig erwähnt, aber seine Wirkung ist umstritten geblieben. Wohl ist die Zahl der neuen Richtlinien in den 90er Jahren zurückgegangen. Das bedeutet aber bloss eine Verlangsamung der Zentralisierung, aber noch keine Dezentraliserung. Es gibt effektiv kaum einen Bereich, in welchem das Subsidiaritätsprinzip zu einer echten Redezentralisierung substantieller Kompetenzen geführt hätte. Die Handlungsspieläume der Mitgliedstaaten nehmen nicht zu, sie nehmen höchstens etwas langsamer ab. Mit dem Inkrafttreten der gemeinsamen Währung ist im Gegenteil eine weitere Zentralisierung insbesondere in der Wirtschaftspolitik zu erwarten, denn eine gemeinsame Währung ohne gemeinsame Wirtschaftspolitik dürfte auf die Dauer zum Scheitern verurteilt sein.

Gesamthaft kommt man nicht darum herum, die Einbussen eines EU-Beitritts für die schweizerische Demokratie als erheblich zu beurteilen. Diejenigen Stimmen, welche neuerdings diese Einbussen verharmlosen, müssen als unehrlich bezeichnet werden.

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