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"Unsere Volksrechte in Europa"

IRI Europa (Initiative and Referendum Institute Europe) sieht sich als transnationaler Think-Tank, der sich der Forschung der Verfahren und der Praxis der modernen direkten Demokratie widmet. Die Forschungsergebnisse sollen die direkte Demokratie in Europa fördern. IRI Europe wurde 2001 gegründet und hat seinen Hauptsitz in Marburg. Der Schweizer Ableger von IRI lancierte in diesem Jahr eine Gesprächsrunde an verschiedenen Orten in der Schweiz, um „in der ganzen Schweiz die öffentliche Diskussion um die Integration CH-EU neu zu beleben und zu vertiefen.“ Für diese Diskussionsrunden wurde ein Thesenpapier entwickelt. Hier eine detaillierte Diskussion dieser Thesen, die durchnummeriert sind und jeweils kursiv abgedruckt werden. Die Diskussion wurde von Paul Ruppen verfasst.

1. Die Schweiz und Europa haben gemeinsame historische Wurzeln und normative Fundamente. Es gibt nichts, was die Schweiz in der Welt will, was Europa nicht auch möchte. Nichts was der Schweiz wichtig ist, würde in Europa opponiert.

Europa ist eine geographische Entität und nicht eine politische. Selbst wenn das Gebiet der EU mit Europa zusammenfiele, wäre es angemessen, zwischen geographischer und politischer Entität zu unterscheiden. Die systematische Verwechslung von „Europa“ und „EU“ hat durchaus ideologischen Charakter: man will der EU einen „naturwüchsigen“, mit geschichtlicher Notwendigkeit versehenen Charakter verleihen, der ihr keineswegs zukommt.

Die Verwechslung von Geographie und Politik ist aber auch insbesondere deswegen unstatthaft, weil das Gebiet der EU mit Europa keineswegs zusammenfällt: erstens gibt es europäische Staaten, die nicht zur EU gehören, zweitens kontrollieren etliche EU-Mitgliedstaaten ein weit verstreutes Konfettiimperium von Inseln und Landstrichen auf der ganzen Welt (Pazifik, Karibik, Südamerika, etc).

Wollen die Schweiz und die EU dasselbe? Nun, die Schweiz an sich und die EU an sich wollen nichts – auf ein „Wollen“ führen die verwinkelten Entscheidungsprozesse in den jeweiligen politischen Systemen. Die Bevölkerungen sind dabei keine homogene Masse von Individuen, die alle dasselbe wollen. Bei oft widersprüchlichen Anliegen müssen manche Wünsche auf der Strecke bleiben – in der Schweiz demokratisch in vielen Bereichen relativ gut durch Volksabstimmungen legitimiert, in der EU am Ende eines undurchsichtigen Entscheidungsprozesses durch geheime Ministerratssitzungen dekretiert.

Führen die beiden politischen Systeme zu Entscheidungen, die sich jeweils entsprechen? Es gibt da durchaus wichtige Unterschiede: so führten etliche Länder der EU einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen Serbien oder etliche Länder der EU beteiligten sich am völkerrechtswidrigen Krieg der USA gegen den Irak. Während die EU sich laut eigenen Erklärungen darauf vorbereitet, in der übrigen Welt notfalls auch militärisch zu intervenieren, wenn Rohstofflieferungen oder Absatzmärkte in Gefahr sind, scheinen in der Schweiz die breit verankerte Neutralität und die mangelnden Möglichkeiten solches zu verbieten. Ein wesentlicher Unterschied besteht auch darin, dass die stimmberechtigte Schweizer Bevölkerung mehrheitlich gegen einen EU-Beitritt ist – aus unterschiedlichen Gründen – , während in Ländern, die via Volksabstimmung beitraten, die Bevölkerungen dafür waren. Dies drückt unterschiedliche Werte der Mehrheiten aus. Unterschiede scheinen vor allem in der Beurteilung der Wichtigkeit von Demokratie und derer verschiedenen Formen, sowie der Bedeutung lokaler Autonomie zu liegen. Konkret ist in der Schweiz eine kritische Haltung zur Delegation von Macht verbreitet, wie sie in der direkten Demokratie zum Ausdruck kommt. Die EU ist demgegenüber ein Ergebnis der in den meisten Ländern unkontrollierten Delegation von Macht und Entscheidungskompetenzen an Parlamente und Regierungen.

Wir haben nicht nur gemeinsame kulturelle Wurzeln mit den Ländern der EU, sondern z.B. auch mit den USA und den Ländern Lateinamerikas. Sollen wir deshalb den USA beitreten oder versuchen, mit lateinamerikanischen Ländern einen Bundesstaat zu gründen? Und haben wir nicht mit allen Erdbewohnern weitgehende Gemeinsamkeiten? Wir sind nämlich alles Menschen mit Kultur und haben viele gemeinsame Werte. Vermutlich findet man in jeder Kultur Menschen, die den eigenen Werten näher liegende Werte vertreten als viele Menschen der eigenen Kultur. Angesichts der Hexenverfolgungen, des Absolutismus, des Kolonialismus, des Sklavenhandels, des Stalinismus, des Faschismus und der Weltkriege ist es nicht ganz geheuer, wenn man den Betritt zur EU auf gemeinsamen historischen europäischen Wurzeln und Werten gründen will.

2. Ohne Europa wäre die Schweiz heute nicht so, wie sie ist. Ohne oder gegen Europa kann die Schweiz ihre politische Identität auch in Zukunft nicht bewahren und weiterentwickeln.

Ohne Europa wäre die Schweiz inexistent, da die Schweiz ein Territorium auf dieser Halbinsel einnimmt, die Asien vorgelagert ist und die wir „Europa“ nennen. Wenn die Halbinsel nicht existierte, würde auch das Territorium nicht existieren, auf der die Menschen, die die „Schweiz“ bilden, leben. Die Schweiz wäre also nicht nur „nicht so, wie sie ist“, sondern überhaupt nicht – ohne Europa. Es gibt niemand, der ohne oder gegen die europäische Landmasse die politische Identität der Schweiz in Zukunft bewahren und weiterentwickeln möchte. Es ist deshalb nicht klar, was die Aussage soll.

Ersetzen wir Europa durch EU, ist der Aussage auch nicht viel mehr abzugewinnen: Es ist klar, dass die Schweiz heute ohne die EU nicht genau so wäre, wie sie ist. Vermutlich wäre sie etwas weniger dereguliert als heute. Die politischen Institutionen hätten sich aber ohne die EU wohl kaum gross verändert. Es ist also nicht ganz klar, was die „politische Identität“ der Schweiz der EU zu verdanken hat. Durch die EU-Integration und das dadurch geschaffene wenig demokratische Umfeld, wurden vielmehr antidemokratische Kräfte in der Schweiz gestärkt – so fanden rechtsliberale, antidemokratische Ökonomen wie Silvio Borner und Walter Wittmann in der Öffentlichkeit ein gewisses Gehör.

Dass die Schweiz ihre „politische Identität“, ich gehe mal davon aus, dieser Begriff meine den direktdemokratischen, föderalistischen und rechtlich souveränen Staat, nicht ohne oder gegen die EU bewahren oder weiterentwickeln kann, ist nicht einzusehen. Wie sollte man diese denn bewahren und weiterentwickeln, wenn man sie durch den Beitritt im Wesentlichen aufgibt? Allerdings stellt die EU auch ohne Beitritt eine Bedrohung der direkten Demokratie in der Schweiz dar, da via EU-Integration und der schweizerischen Teilhabe mittels bilateraler Verträge immer mehr Bereiche der demokratischen Kontrolle auch in der Schweiz entzogen werden. Verbleibende Bereiche durch einen Beitritt der demokratischen Kontrolle zu entziehen, um der Exekutive – d.h. dem Bundesrat und der Bundesverwaltung - ein „europäisches“ Spiel- und Tummelfeld zu eröffnen (mit 3% Gewicht versehen), ist dabei keineswegs ein plausibler Weg, um die „politische Identität der Schweiz“ in deren Sinn und Geist weiterzuentwickeln.

3. Der Schweiz gelang 1848 in Europa mit der demokratischen Verfassung des Bundesstaates eine demokratische und föderalistische Pionierleistung. Dies gelang ihr, weil in anderen Hauptstädten liberale und fortschrittliche Kräfte ähnliches versucht haben und sie sich selber als einen Anfang in und für Europa verstand.

4. Erfahrungen mit den Grenzen der ersten rein repräsentativen Demokratie zwischen 1848 und 1868 waren mit ein Grund für den Erfolg der Demokratischen Bewegungen in den Kantonen der 1860er und 1870er Jahre, die erst in den Kantonen und 1874 und 1891 auch im Bund zur Verankerung der Volksrechte führten. Solche Erfahrungen konnten die Bürgerinnen und Bürger in anderen europäischen Staaten erst nach dem 1., zum Teil sogar erst nach dem 2.Weltkrieg machen.

Aus der beschriebenen Historie kann man wenig folgern – am ehesten, dass die Schweiz der EU nicht betreten sollte und damit eine real-existierende direkte Demokratie für die anderen europäischen Länder am Leben erhalten sollte. Dadurch kann sie am ehesten einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Demokratie in den europäischen Ländern leisten. Sie hilft damit den „liberalen und fortschrittlichen Kräften“ in der EU am meisten, sofern man darunter demokratische Bewegungen meint, und nicht antidemokratische rechtsliberale, die sich ja neuerdings auch „fortschrittlich“ nennen. Wer Lust auf „historische Bedeutung“ verspürt, kann sich bei diesem EU-Fernbleiben im Dienste der Demokratie ja als „einen Anfang in und für Europa“ verstehen.

5. Während der letzten drei grossen Kriege in Europa machten die Schweizerinnen und Schweizer andere Erfahrungen als die meisten anderen Europäer: Sie überlebten die Katastrophen alleine und ohne unmittelbar vom Schrecken und Leiden betroffen zu sein. Diese Erfahrungen begründeten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Mentalität, wonach die europäische Integration die Schweiz nicht direkt betreffe und sie weiterhin am besten alleine weiter wirke.

6. Die Erfahrung der Katastrophen und des eigenen Versagens ist eines der Fundamente des europäischen Integrationsprozesses. Sie sind so in der Schweiz nicht vorhanden. Dies ist einer der Gründe ihrer Schwierigkeiten, sich im Integrationsprozess zurechtzufinden, und der Tendenz, sich von Europa abschotten zu wollen.

Es ist ziemlich blauäugig, die europäische Integration den Erfahrungen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts zuzuschreiben. Diese Katastrophen bildeten allerdings ein willkommenes ideologisches Fundament, damit die „Eliten“ ihre Integration politisch legitimieren konnten. Faktisch ging es um anderes, wobei hier nur ein paar Aspekte aufgezählt seien: Frankreich wollte die deutsche Schwerindustrie kontrollieren (Montanunion) und die eigenen Kolonialpolitik - vor allem in Algerien - absichern. Deutschland wollte via „europäische Integration“ wieder als respektables Mitglied von der westlichen Völkergemeinschaft anerkannt werden und die Möglichkeit erhalten, in einem Club mit Atombomben mitzumachen. Die Reihen gegenüber dem Ostblock sollten geschlossen werden. Seit den 80er Jahren eröffnete die Integration zunehmend die Möglichkeit, (Wirtschafts-)Politik an der parlamentarischen Kontrolle der Mitgliedstaaten vorbei zu machen. Die Regierungen und die Verwaltungen der Mitgliedstaaten konnten sich der lästigen parlamentarischen Kontrolle entziehen und Gesetzgeber und Exekutive in einem sein. Zunehmend geht es darum, eine neue Supermacht aufzubauen, um Rohstoffe und Absatzmärkte weltweit abzusichern. All dies soll nicht heissen, dass es nicht Leute in Europa gibt, denen das Friedensanliegen wichtig ist und die versehentlich glauben, dass die EU ein Friedensprojekt sei.

Wenn jemand nicht der EU beitreten will, heisst das nicht, dass er sich von „Europa“ abschotten will. Das ist eine Unterstellung, die allerdings für die euronationale Ideologie typisch ist. In der EU-Debatte geht es nicht um Abschottung oder Offenheit, sondern um Bereiche und Formen der Zusammenarbeit. Wer das Gespräch sucht, sollte nicht mit offensichtlich unhaltbaren Unterstellungen arbeiten.

7. Der Kalte Krieg verhinderte 1947-1952, dass der europäische Integrationsprozess die Form eines europäischen, verfassten Bundesstaates bekam. Statt dessen erfolgte dieser auf der Basis eines Staatsvertrages und priorisierte die wirtschaftliche Integration und den gemeinsamen Markt.

Die Behauptung, ohne den Kalten Krieg wäre von 1947 – 1952 in Europa ein Bundesstaat gegründet worden, ist aus der Luft gegriffen. Der Kalte Krieg begünstigte vielmehr den Schulterschluss der ehemaligen westeuropäischen Kolonialmächte Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien und Holland. Verschiedene Exponenten der „europäischen Integration“ wie Jean Monnet haben ganz bewusst den Weg über den ökonomischen „Hintereingang“ gesucht, weil sie den Widerstand der Bevölkerungen gegen das Projekt eines „europäischen“ Bundesstaates fürchteten. Die Furcht vor diesem Widerstand hat mit dem Kalten Krieg nichts zu tun und sie wäre ohne diesen noch berechtigter gewesen.

8. Der europäische Integrationsprozess verschaffte dem europäischen Kontinent eine bisher unbekannte Friedenszeit und entfaltete für die nach Ende des Kalten Krieges souveränen neuen Staaten in Mittel- und Osteuropa eine Attraktivität, welche neue nationalistische und gewaltsame Verwerfungen mit Ausnahme des früheren Jugoslawiens verhinderte.

Es ist kaum möglich zu wissen, wie sich die Staaten Mittel- und Osteuropas ohne die EU-Beitrittsperspektive entwickelt hätten. Wie hätte denn Westeuropa ohne die EU ausgesehen und welche Perspektiven hätten sich dann für die Staaten des ehemaligen Ostblocks ergeben? Darüber kann man nur spekulieren und es ist nicht sinnvoll, damit politisch argumentieren zu wollen.

Für die Zukunft der politischen Kultur in den ehemaligen Ostblockstaaten ist es aber sicher nicht günstig, wenn Reformen im Minderheitenschutz oder im Kampf gegen die Korruption nur wegen der Beitrittsperspektive durchgeführt werden. Langfristig absichern lässt sich Minderheitenschutz nur durch dessen starke kulturelle Verankerung in möglichst breiten Bevölkerungsschichten – und dies gelingt nur durch demokratische und menschenrechtliche Bewegungen in den eigenen Bevölkerungen. Massnahmen, die widerwillig, gegen Widerstand oder bei völliger Gleichgültigkeit breiter Schichten durchgesetzt werden, können keine wirklichen und dauerhaften Verbesserungen mit sich bringen.

Zudem ist zu beachten, dass die Wirtschaften der ehemaligen Ostblockländer durch deren EU-Integration ungeschützt dem Konkurrenzdruck der höher entwickelten Volkswirtschaften Westeuropas ausgesetzt werden. Die Folgen sind bekannt: Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte von Ost nach West – mit entsprechenden kulturellen Auswirkungen. Ausmerzung nicht konkurrenzfähiger Betriebe im Osten. Installierung einer Arbeitsteilung, die für die Ostländer ungünstig ist. Es darf bezweifelt werden, dass dies einen günstigen Nährboden für einen positiven Umgang mit Minderheiten wie den Romas abgibt. Das neuerliche Aufflammen von Rechtsextremismus und Ausschreitungen gegen Roma in Ungarn und der Tschechei sind dafür bezeichnend.

9. Die Schweiz verdankt dem Erfolg des europäischen Integrationsprozesses viel. Auch in Zukunft wird sie sich ohne den europäischen Binnenmarkt und dessen innere Bewegungsfreiheiten wirtschaftlich nicht annähernd so erfolgreich entwickeln.

Die Schweiz hätte mit dem restlichen Europa auch ohne EU-Intergration Handel betrieben. Es ist deshalb nicht ersichtlich, dass die Schweiz der EU-Integration viel verdankt, da unmöglich zu berechnen ist, wie viel sie diesem Prozess verdankt.

Die Aussage beruht zudem auf spezifischen wirtschaftspolitischen Annahmen, die durchaus diskutabel sind. Wirtschaftlich gesehen ist die EU für die Schweiz ein Freihandelsprojekt. Die Wirtschaftsliberalen behaupten, Freihandel entwickle dauerhaft den Wohlstand. Dies hängt sicher von der Definition von „Wohlstand“ ab und setzt voraus, dass man viele Kosten des Freihandels diesem nicht anrechnet (Luftverschmutzung, Verschleiss von Rohstoffen, Druck auf die Sozialsysteme, über Jahrzehnte hoch bleibende Arbeitslosigkeit in der EU, Stress durch hohe Arbeitsbelastung). Man kann aber auch behaupten, Freihandel entwickle vor allem den (Lastwagen)-Verkehr sowie den Handel, ohne sonst der Wirtschaft entscheidend zu nützen. Freihandel führt zudem zu einem Ansteigen der gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten zu Lasten von wirtschaftspolitischen Handlungsmöglichkeiten. Dies macht die Volkswirtschaften krisenanfällig – wie die neuesten Ereignisse deutlich zeigen.

Zuletzt muss man sich fragen, ob die Art von Wachstum, die durch den EU-Freihandel gefördert wird, weltverträglich ist. Hier sind einige Zweifel angebracht. Es ist eher unwahrscheinlich, dass die Menschheit mit dem Wirtschaftsliberalismus, wie er in der EU praktiziert wird und wie er von der EU international mittels WTO und Sonderverträgen gefördert wird, eine Form des Wirtschaftens gefunden hat, die alle arbeitswilligen Menschen in den Arbeitsprozess integriert und ihnen dabei ein anständiges Einkommen sichert.

10. Rechtlich ist die Schweiz heute mit der EU so verbunden wie noch nie zuvor. Dennoch empfinden viele die politische und mentale Kluft zwischen der EU und grossen Teilen der Schweizer Bevölkerung gegenwärtig so gross wie selten zuvor.

11.Die direktdemokratischen Errungenschaften in der Schweiz und die eher zentralistischen und noch wenig ausgereiften repräsentativdemokratischen politischen Strukturen in der EU spielen zur Begründung dieser Kluft eine wichtige Rolle. Dabei wird die Schweiz der EU gegenübergestellt, als ob sie keine gemeinsamen Wurzeln, Werte, Errungenschaften und schon gar keine gemeinsame Zukunft hätten.

Die Schweiz ist mit der EU rechtlich vor allem – wenn auch nicht ausschliesslich –auf wirtschaftlichem Gebiet verbunden. Und das hat seine Gründe in den bereits geschilderten Unterschieden bezüglich der politischen Kultur. Es ist deshalb keineswegs erstaunlich, dass die politische und mentale Kluft zwischen der EU und grossen Teilen der Schweizer Bevölkerung gross ist. Die „direktdemokratischen Errungenschaften in der Schweiz und die eher zentralistischen und noch wenig ausgereiften repräsentativdemokratischen politischen Strukturen in der EU“ spielen nicht nur bei der Begründung der Kluft eine wichtige Rolle, sondern sie sind unter anderem der faktische Grund dieser Kluft.

Die faktischen, und nicht etwa nur eingebildeten Gründe für EU-Skepsis werden im folgenden Zitat von Jean-Claude Junker, dem Luxemburgischen Premierminister, treffend formuliert: "Wir beschliessen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein grosses Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt." (Der Spiegel, 52/1999, S. 136). Auch seine Beschreibung des Konvents, der den EU-Verfassungsentwurf ausarbeitete, ist treffend: "Ich bin jetzt 20 Jahre in europäischer Politik engagiert. Ich habe noch nie eine derartige Untransparenz, eine völlig undurchsichtige, sich dem demokratischen Wettbewerb der Ideen im Vorfeld der Formulierung entziehende Veranstaltung erlebt. Der Konvent ist angekündigt worden als die grosse Demokratie-Show. Ich habe noch keine dunklere Dunkelkammer gesehen als den Konvent". (Spiegel 25/2003, S. 46)

12. Der neue Vertrag von Lissabon führt ein "Initiativrecht" der Bürgerinnen und Bürger ein, das nur dank dem Engagement von Schweizerinnen und Schweizern in den europäischen Debatten zur Reform des Vertrages von Maastricht nach 1992 zustande gekommen ist. Dieses Initiativrecht ist mit dem zu vergleichen, was in einigen Kantonen als "Volksmotion" bekannt ist: Es ist ein Antragsrecht an die Gesetzgeber – ohne wie unser Volksinitiativrecht – eine Volksabstimmung erzwingen zu können.

Das „Initiativrecht“ ist kein Initiativrecht, sondern ein Motionsrecht. Der Winkelzug, ein Recht mit einem Namen zu versehen, um dann im Kleingedruckten darauf hinzuweisen, dass es diesen Namen gar nicht verdient, ist nicht besonders vertrauenserweckend.

Ist die im Vertrag von Lissabon eingeführte Volksmotion ein erster Schritt hin zur direkten Demokratie in der EU? Da sind wohl etliche Zweifel angebracht. Die Gewährung der Volksmotion durch die Regierungen der EU-Mitgliedländer ist nicht etwa demokratischer Einsicht zuzuschreiben. Der Umgang mit Volksentscheiden zeigt deutlich, was die Regierungen der EU-Mitgliedländer von Demokratie halten. Die Gewährung der Volksmotion ist vielmehr den Legitimitätsproblemen des EU-Integrationsprozesses zuzuschreiben. Das Demokratiedefizit der EU ist ja nicht ein Hirngespinst verblendeter „Antieuropäer“, sondern für jede Person, die ein halbwegs entwickeltes Demokratieverständnis hat, ein Faktum. Entsprechend ist es für die Regierungen der Mitgliedländer interessant, den Anschein von Entwicklung hin zu mehr Demokratie zu geben. Faktisch haben sie dadurch kein bisschen Macht abgeben müssen und sie werden auch in Zukunft freiwillig keine Macht abgeben.

13. Die Demokratie hat Europa (EU) ebenso nötig wie Europa (EU) die Demokratie.

14. Nationale demokratische Errungenschaften werden in den kommenden 50 Jahren nur dann Bestand haben, wenn sie transnational abgesichert werden können. Genauso wird eine gefestigte transnationale Integration in Zukunft nicht ohne klare Verfassung, direkter Partizipation durch die Bürgerinnen und Bürgern und der so gewonnenen Legitimation der Politik auskommen können.

15. Die Schweiz ist auf Europa und die EU ebenso angewiesen wie die Schweiz der EU in Bezug auf die Entwicklung der politischen Form als Quelle der Inspiration dienen kann.

16. Potentiale und Grenzen dieser gegenseitigen Inspiration zu diskutieren und zu erarbeiten ist eines der grossen Ziele der Gespräche und Diskussionen im Rahmen des Zyklus "Unsere Volksrechte in Europa".

Die EU ist nicht nur eine Bedrohung der Demokratie, sondern bedeutet deren faktische, institutionell abgesicherte und massive Einschränkung in vielen Bereichen. Ein auch von Euronationalen oft kolportiertes Bonmot besagt, die EU könnte nicht in die EU aufgenommen werden, da sie den Demokratieansprüchen, die sie an die Beitrittskandidaten stellt, nicht genügt.

Man kann die Geschichte Europas in den letzten zwei Jahrhunderten als einen Kampf der jeweiligen, je nach Jahrzehnt mehr oder weniger gruseligen „Eliten“ gegen die Demokratie deuten. Nach den restaurativen Wellen des 19. Jahrhunderts kam der Faschismus und der Stalinismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg dann die EU-Integration. Die letzte Form ist sicher die am wenigsten ungemütliche und sie kam bisher ohne physische Gewalt aus. Die faktische Aufhebung der Demokratie in vielen Bereichen bedeutet sie trotzdem. Die These, die Demokratie brauche die EU, ist deshalb unverständlich.

Nun, die Demokratie braucht nichts, da politische Konzepte oder Organisationsprinzipien nicht bedürftige Wesen sind. Wir brauchen vielmehr die Demokratie. Und mehr Demokratie in Europa erreichen wir durch die Demokratisierung der bestehenden Territorialstaaten. Direkte Demokratie ist dabei nicht als eine historische Eigenheit der Schweiz zu betrachten, sondern als ein fundamentales Grundrecht: jeder Mensch hat das unveräusserliche Recht, am politischen System, in dem er leben muss, gleichberechtigt und möglichst inhaltlich mitzubestimmen. Delegation von Macht ist dabei auf das Nötige zu beschränken und sie ist gemäss verfassungsmässigen Verfahren jederzeit widerrufbar. Delegierte dürfen selber, ohne das direkte Einverständnis der Bevölkerungen, keine und nicht die geringsten Entscheidungskompetenzen abtreten. Deshalb ist der EU-Integrationsprozess insgesamt illegitim – ausser in den Staaten, wo er durch Volksabstimmungen abgesegnet wurde, wobei innerhalb von zwei Jahren wiederholte Abstimmungen als ungültig zu betrachten sind. Wollen wir Europa demokratisieren, gilt es, diese Prinzipien zu beachten. Kompetenzen sind von der EU zurückzuholen und dem demokratischen Prozess der Mitgliedstaaten zuzuführen. Nur dort, wo es wirklich nötig ist, sind Regelungen auf internationaler Ebene zu treffen. Um die verbleibenden internationalen Regulierungen nicht dem demokratischen Einfluss zu entziehen, sind in den Staaten Massnahmen zur Demokratisierung der internationalen Beziehungen zu ergreifen (z.B. völlige Transparenz statt geheime Kabinettsdiplomatie; vorgängige, breite Diskussion von Verhandlungsmandaten, s. für ausführliche Erläuterungen „Kooperation statt Blockbildung“ auf www.europa-magazin.ch). Nur ein derart demokratisiertes Europa kann weltverträglich sein und stellt keine Bedrohung für den Weltfrieden dar.


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