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Volkssouveränität und Völkerrecht: Ein Widerspruch?

Völkerrecht: Die einen wollen es aufkündigen, andere als Pfeiler unserer aufgeklärten, westlichen Gesellschaft verteidigen. Doch was ist eigentlich dieses Recht der Völker? Spontan denkt man vielleicht an die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und den Gerichtshof in Strassburg. Doch was ist Teil des Völkerrechts? Und wer entscheidet eigentlich über dessen Inhalt, wer ist auf internationaler Ebene Legislative und Souverän?

Philipp Zimmermann/ Esther Meier Definition und Entstehung

Grundsätzlich regelt das Völkerrecht die Beziehungen zwischen sogenannten Völkerrechtssubjekten, also Staaten oder internationalen Organisationen und in einigen Fällen (z.B. EMRK) auch jene zwischen Staaten und einzelnen Menschen. Im Gegensatz dazu regelt das Landesrecht das Verhältnis zwischen den BürgerInnen, respektive zwischen Staat, BürgerInnen und juristischen Personen. Im Rahmen des internationalen Rechts hat die Schweiz bis heute (Stand 2012) über 4'400 bilaterale (z.B. Doppelbesteuerungsabkommen) und fast 1'000 multilaterale Verträge (UNO Pakt II/ UNO Menschenrechtscharta) abgeschlossen.

Die erste internationale Rechtsordnung trat nach dem Dreissigjährigen Krieg im Westfälischen Frieden (1648) in Kraft, infolgedessen die Schweiz sich offiziell vom Heiligen Römischen Reich loslöste und die Souveränität erlangte. Im Zuge der Globalisierung und der Kriege im 19. und 20. Jahrhundert nahm die Zahl der internationalen Abkommen stetig zu, vor allem um stabile Rahmenbedingunen für den internationalen Handel zu schaffen. Tatsächlich regelt die Mehrheit der völkerrechtlichen bilateralen Abkommen die Handelsbeziehungen. Dieser Tatsache wird oft wenig Rechnung getragen, wenn pauschal vom Völkerrecht gesprochen wird, jedoch ausschliesslich die Abkommen über die Menschenrechte gemeint sind.

Souveränität - Eine rechtspopulistische Forderung?

Im schweizerischen System der direkten Demokratie übt das Volk die rechtliche Selbstbestimmung (Souveränität) aus. Als Volk gelten dabei volljährige Menschen mit Schweizer Pass. Zurückgehend auf die Französische Revolution, prägt der Gedanke der Selbstbestimmung bis heute die Namensgebung der politischen Landschaft. In der französischen Nationalversammlung, die 1791 das Ende der Monarchie einläutete, sassen die Aristokraten und Royalisten, die dem König weiterhin die ausführende Gewalt überlassen wollten, zu dessen Rechten. In der linken Hälfte des Saales gruppierten sich die Abgeordneten, die für die volle Souveränität des Volkes eintraten.

Auch wenn die Souveränität in jüngster Zeit vermehrt zum Schlagwort von rechten Parteien geworden ist: Die Forderung nach direkter Demokratie und Selbstbestimmung ist ur-links und kommt beispielsweise im Genossenschaftsgedanken, anarchistischen oder kommunistischen Gesellschaftsmodellen oder der feministischen Forderung nach körperlicher Selbstbestimmung zum Ausdruck.

Völkerrecht und Volkssouveränität auf Kollisionskurs?

Selbstbestimmung und direkte Demokratie sind also Errungenschaften, die es zu verteidigen gilt. Doch was, wenn der Volkswille in Einzelfällen gegen elementare Grundrechte wie z.B. die Religionsfreiheit oder die Meinungsfreiheit verstösst? Es ist wichtig zu wissen, dass in der Schweiz, wie in Frankreich oder den USA, das Völkerrecht nach dem monistischen System angewandt wird. Das heisst, dass eine völkerrechtliche Norm – im Gegensatz zum dualistischen System (Deutschland oder Grossbritannien) – nicht erst in Landesrecht umgewandelt werden muss, um gültig zu sein, sondern ihre Gültigkeit durch die Ratifizierung des betreffenden bilateralen oder multilateralen Vertrages erhält.

Zudem ist unser innerstaatliches Recht hierarchisch aufgebaut. So muss kantonales mit nationalem Recht, kommunales mit dem kantonalen und nationalen Recht kompatibel sein. Die Stellung des Völkerrechts innerhalb dieser Hierarchie ist nicht eindeutig geregelt, es ist einzig vorgeschrieben, dass es zur Anwendung kommt. Das Schweizer Stimmvolk hat dank dem Initiativ- (seit 1873) und dem Referendumsrecht (seit 1874) die Möglichkeit, die Verfassung zu ändern, respektive Gesetzesvorschläge der Legislative abzulehnen.

Auch völkerrechtliche Abkommen unterliegen dem fakultativen oder dem obligatorischen Referendum (z.B. EWR-Abstimmung 1992). Im Gegensatz zur Initiativ-Demokratie ist das Volk aber nicht befugt, die Vertragsinhalte zu formulieren respektive einzelne Artikel zu modifizieren. Die Abkommen können also nur in ihrem jeweils fixen Wortlaut angenommen oder abgelehnt werden, so wie sie von den Diplomaten und Regierungsvertretern der beteiligten Staaten ausgehandelt und vom Parlament ratifiziert worden sind.

Sind Menschenrechte verhandelbar?

Müssen also Normen, die die Schweiz auf internationaler Ebene akzeptiert hat, zwingend eingehalten werden? Grundsätzlich gilt: Abgeschlossene Verträge sind zu beachten, das gilt auch für das bilaterale und multilaterale internationale Recht. Jeder Vertragsstaat hat jedoch jederzeit das Recht, solche Verträge aufzukünden, wenn etwa im nationalen Rahmen ein neues Gesetz eingeführt wird, das den Bruch des Vertrages zur Folge hat. Es stellt sich nicht so sehr die Frage des Vorrangs, sondern vielmehr jene der Vereinbarkeit von internationalen und nationalen Rechtsnormen.

Was bedeutet dies aber für die Menschenrechte? Notabene stehen die elementaren Grundrechte, unabhängig von internationalen Abkommen, auch in unserer Verfassung. Initiativen, die sich etwa gegen Grundfreiheiten richten, sind also nicht nur völkerrechtswidrig, sondern verstossen auch gegen unsere eigene Verfassung. So verletzte zum Beispiel die Verwahrungsinitiative den Grundsatz der Verhältnismässigkeit (BV, Art.5, Abs.2). Im Unterschied zu anderen Staaten kennt die Schweiz aber keine Verfassungsgerichtsbarkeit, die verfassungswidrige Initiativen für ungültig erklären kann. Auch die amerikanische Konzeption der Verfassung als unveränderbare Gründungsurkunde und oberste Autorität kennen wir in der Schweiz nicht. Letztlich kann die Bevölkerung per Mehrheitsentscheid also durchaus einander widersprechende Normen in der Verfassung verankern. Das ist zwar juristisch unsinnig, beruht aber in jedem Fall auf einem Entscheid des Souveräns.

Regulative wie ein Verfassungsgericht könnten zwar für mehr Rechtssicherheit und Kohärenz sorgen, würden aber gleichzeitig die Souveränität des Volkes einschränken. Dabei ist zu bermerken, dass das Funktionieren einer Demokratie nicht bloss von Mehrheitsentscheiden, sondern auch vom Minderheitenschutz abhängig ist. Und da in der Schweiz Verfassungsartikel mit einer Mehrheit von Volk und Ständen jederzeit geändert werden können, stellt z.B. die EMRK (solange die Schweiz sie nicht einseitig aufkündigt) eine zusätzliche Garantie für die Gewährleistung der Grundrechte dar, selbst für den Fall, dass diese aus der Schweizer Verfassung gestrichen würden.

Selbstbestimmung und Aufklärung

Doch wäre eine Streichung solcher Grundrechte oder die Kündigung der Menschenrechtskonvention zulässig? Die revolutionären Vorkämpfer der Aufklärung und Selbstbestimmung – etwa in der französischen Revolution – postulierten, dass bestimmte Freiheiten und Grundrechte unverzichtbar sind für die Demokratie und für den "Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Kant). Diese sind die Meinungsäusserungs- und Pressefreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Gewissens- und Religionsfreiheit sowie das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Folterverbot und das Recht auf ein faires Verfahren, um nur einige zu nennen. Deshalb wurden diese Garantien 1948 auch in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aufgenommen, die heute alle Staaten der Welt (mit Ausnahme des Vatikans) ratifiziert haben. Sie stellen den gemeinsamen Nenner dar, zu dem sich die verschiedensten Gesellschaften dieser Welt zumindest als Zielsetzung bekennen.

Obwohl die Demokratie mit ihrem Souveränitätskonzept kein „göttliches“ oder „natürliches“ Recht anerkennt und das Volk als höchsten Gesetzgeber etabliert, ist offensichtlich, dass die Ausübung dieser Souveränität auch heute an solche Grundfreiheiten und –rechte gebunden ist. Wenn nun also – wie gegenwärtig in der Schweiz – gewisse rechte Parteien unter Berufung auf den „Volkswillen“ oder die „Souveränität des Volkes“ an der Abschaffung solcher Grundrechte arbeiten, so greifen sie damit auch die Grundlagen ebendieser Souveränität an.

Grundrechte verteidigen heisst Souveränität verteidigen

Unseres Erachtens ist das Problem verfassungs- und menschenrechtswidriger Volksinitiativen deshalb nicht, dass der Souverän sich Rechte herausnimmt, die ihm nicht zustehen würden. Jedes souveräne Volk ist berechtigt, sich die Gesetze zu geben, die es wünscht. Die Gefahr besteht vielmehr darin, dass durch eine grundrechtsfeindliche Ausübung dieser unbeschränkten Selbstbestimmung die Basis derselben zerstört wird, wenn eine Mehrheit der Bevölkerung gewisse Minderheiten (die auch Teil des Volkes, also des Souveräns sind) ihrer Rechte berauben. Gerade zur Erhaltung der Souveränität ist es von zentraler Bedeutung, dass die Grundrechte als leitende rechtliche Normen erhalten bleiben. Gerade deshalb sind wir der Meinung, dass das Recht auf Selbstbestimmung eine zentrale Forderung der Linken bleiben muss.

Welches Recht hat Vorrang?

Welche Schlussfolgerung ergibt sich daraus für die Frage, ob sich die Verfassung dem Völkerrecht oder doch das Völkerrecht der Verfassung unterordnen soll? Es ist zentral, zwischen den verschiedenen Arten des Völkerrechts zu unterscheiden, also ob es sich um Regelungen zu den Grundrechten (EMRK) oder um Abkommen im Bereich der Wirtschaft, Bildung, insitutioneller Zusammenarbeit usw. handelt. Es ist aus demokratischer Perspektive nur konsequent zu verlangen, dass letztere Abkommen aufgekündigt werden müssen, wenn der Souverän eine ihnen widersprechende Politik oder Rechtsnorm beschliesst. Dies ist auch eine Möglichkeit für die Bevölkerung, Fehlentwicklungen in der Aussenpolitik zu korrigieren (man denke an unsinnige Freihandelsabkommen oder die unsägliche Stärkung der Festung Europa durch das Schengen/Dublin-Abkommen).

Komplizierter ist die Lage bei den EMRK oder der UNO-Menschenrechtscharta: Was darin festgehalten ist, ist nicht nur die Grundlage jeder demokratischen Gesellschaft, sondern auch die Voraussetzungen, dass sich eine Bevölkerung von gleichen Menschen überhaupt als Souverän konstituieren kann. Obwohl also diese Grundwerte weder konstant noch naturgegeben sind, müssen sie als Grundlage der Demokratie vom Souverän respektiert und verteidigt werden.

Die Linke sollte sich jedoch nicht auf einen Abwehrkampf zur Verteidigung internationaler Menschenrechtskonventionen zurückziehen. Vielmehr gilt es, die emanzipatorischen Potentiale des Souveränitäts-Konzepts auszuschöpfen. Es gibt viele Bereiche, in denen die Selbstbestimmung der Bevölkerung gerade aus linker Sicht ausgebaut werden muss: Sei es in der Landwirtschaft (Gartenbaugenossenschaften, Vertragslandwirtschaft), im Energiebereich (Energieautarkie) und nicht zuletzt in der Kritik an neoliberale strukturierten Vertragswerken, die den internationalen Handel regeln.

Was diesen im Grunde globalisierungs- und kapitalismuskritischen Projekten gemeinsam ist, ist dass sie auf direkter Zusammenarbeit und Nachbarschaft basieren. Vielleicht liegt hier die wahre Grundlage der Volkssouveränität: im direkten Kontakt, im direkten Austausch unter souveränen, mit starken Rechten ausgestatteten Subjekten. Oder um es in den leicht abgeänderten Worten Hannah Arendts auszudrücken: Nicht das Völkerrecht, sondern die Freundschaft ist die Grundlage aller Menschlichkeit.

Quellen

- Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (Stand am 8. August 2006).
- EDA (Hrsg.). Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht in der Schweiz, Bern 2012.
- Degen, Bernhard. Referendum, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10387.php, 25.10.2014.
- Degen, Bernhard. Volksinitiative, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D10386.php, 25.10.2014.
- http://www.eda.admin.ch/content/dam/eda/de/documents/topics/120903 _DV_Broschuere_Voelkerrecht_Landesrecht_DE_Web.pfd, 20.10.2014.


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