Das neue Heft des Widerspruchs ist in den Ausrichtungen seiner Beiträge vielfältig, wobei zwischen den Inhalten der verschiedenen Artikel zuwenig vermittelt wird. Neben Artikeln mit kosmopolitischer Ausrichtung kommen etliche Artikel mit deutlich euronationaler Ausrichtung vor. Letztere versuchen, den lobenswerten traditionellen Antinationalismus der Linken für das neue imperiale EU-Projekt zu instrumentalisieren - durch eine unzulässige und unseriöse Vermengung der Idee des demokratischen, rechtsstaatlichen Territorialstaates mit der des Nationalismus.
Zuerst wird der sehr lesenswerte Artikel von Arundhati Roy, einer indischen Schriftstellerin, abgedruckt. Der Titel des Artikels "Die Algebra der unendlichen Gerechtigkeit", eine Anspielung auf den ersten Namen, den die USA bezeichnender weise ihrem Angriff auf Afghanistan (infinite justice) verliehen, wurde durch "Terrorismus - ein Symptom" übersetzt. Der ursprüngliche Titel legt das Hauptgewicht auf den Umstand, dass die USA Menschenleben als Spielball der eigenen Interessen anschauen. Roy weist auf ein Interview mit Madeleine Albright, ehemalige Aussenministerin der Vereinigten Staaten, was sie dazu sage, dass 500 000 irakische Kinder infolge des amerikanischen Wirtschaftsembargos gestorben seien. Sie antwortete, es sei "eine sehr schwere Entscheidung" gewesen, doch alles in allem "glauben wir, es ist den Preis wert". Die Algebra der unendlichen US-amerikanischen Gerechtigkeit bringt Roy durch folgende Fragen auf den Punkt: wie viele tote Afghanen für jeden toten Amerikaner? Wie viele tote Kinder für einen toten Mann? Wie viele tote Mudschahedin für einen toten Investmentbanker? Hinzu kommt, dass die USA stets Militärdikatoren unterstützt haben, die kein Interesse an demokratischen Verhältnissen im eigenen Land hatten. Die Menschenrechte werden jeweils dann thematisiert, und damit instrumentalisiert, wenn es den eigenen Interessen dient. Zuletzt besteht die Algebra der unendlichen Gerechtigkeit in einem willkürlichem Auslieferungsbegehren, das durch keine Beweise gestützt wird. Die indische Autorin stellt hier einen interessanten Vergleich her: Kann Indien um die Auslieferung von Warren Anderson durch die USA bitten? Der Mann war als Chef von Union Carbide verantwortliche für die Katastrophe von Bophal, bei der 1984 sechzehntausend Menschen umkamen. Die Beweise für seine Verantwortlichkeit liegen vor.
Josef Lang beschreibt in einem lesenswerten Artikel die augenblicklichen Tendenzen des schweizerischen Polit- und Militärestablishments, sich in das System der US-Hegemonie und des EU-Militarismus einzubinden. Er scheint einer der ersten im traditionell "linken" Lager zu sein, der die militaristischen Bestrebungen der EU wahrnimmt und öffentlich bezeichnet. "Der militärische Arm, den die Europäische Union aufbauen will, stellt weder die Hegenomie der USA noch die der Nato in Frage. Die europäische "Kriseneingreiftruppe" soll die USA im Umfeld Europa und in Afrika entlasten, die Festung Europa sichern und den EU-Mitgliedern die Finanzierung der militärischen Modernisierung erleichtern." (S. 49). Bei seiner Gegenüberstellung von NATO-Integration und Uno unterliegt er zwar vermutlich einer gewissen Idealisierung der Uno und er scheint zu übersehen, bis zu welchem Grade diese gerade von den USA und der Nato instrumentalisiert wird. Seine Fragestellung ist aber im Prinzip wohl angemessen: "Die sicherheitspolitischen Fragen der nächsten Zukunft lauten für die Schweiz: Binden wir uns an die Nato, den militärischen Sonderbund des reichen Nordwestens dieser Welt ein? oder beschränken wir uns auf deren Gegenprojekt, die Uno, die mindestens potentiell ein Bund der gleichberechtigten Völker ist?
Etwas übers Ziel hinaus schiesst Franz Schandl mit seinem "Nation als Krieg - Überlegungen zur fälligen Enthaftung der Menschen aus ihren völkischen Kerkern". Dies nicht etwa durch sein berechtigte Kritik am Identitätsstreben und dem entsprechenden Ausdifferenzen des Wirs gegen den Rest der Welt sowie am Begriff der Nation. Kritisierbar ist die unsinnige Vermengung von Staat, Nation und Volk, die er auf der Seite 21 vornimmt: "Staat, Nation und Volk sind ohne kollektive Verbrechen nicht zu haben". Es stellt sich die Frage, wie denn die Welt politisch ohne Staaten zu organisieren sei. Es sind Staaten, die es erlauben, Politik rechtsstaatlich und demokratisch zu organisieren. Im Wort Demokratie kommt zwar das Wort "Demos" vor. Es braucht aber keineswegs völkisch-ethnisch aufgefasst zu werden. Volk kann einfach auch die Gesamtheit der Individuen eines Territorialstaates bedeuten. Es geht bei solchen Differenzierungen von Staat und Nation keineswegs darum, die "Nation" nicht der Rechten überlassen zu wollen. Die Nation hat mit Staat und Demokratie - entgegen der Behauptung von Schandl - schlicht und einfach inhaltlich nichts zu tun.
Schandls Alternative besteht darin, dass die Subjekte sich nicht mehr mit ihren objektiven Rollen identifizieren. Das ist gut und recht - es kann aber politische Organisation der Gesellschaft nicht ersetzen. Da politische Organisation notwendig bleibt, stellt sich die Frage nach einer optimalen Form dieser Organisation. Die Kriterien der entsprechenden Beurteilung sollten für einen linken Standpunkt klar sein: der Einfluss der Individuen auf ihr Leben soll maximiert werden - im Rahmen der Menschenrechte. Diesem Anspruch kann am besten in dezentralisierten, demokratischen und rechtsstaatlichen Gebilden Rechnung getragen werden. Diese Gebilde sind selbstverständlich Staaten. Mit Nation und Volk im emphatischen Sinn hat eine solche Sichtweise inhaltlich nichts zu tun.
Während Schandl bei seiner unzulässigen Vermengung von Nation und demokratischem Staat wenigstens eine kosmopolitische Ausrichtung hat, ist dies bei anderen Autoren leider nicht der Fall. Die "Identitätsbildung" auf höherer Ebene (EU, NATO, der "Westen" gegen den Rest der Welt) wird nicht thematisiert. Man schiesst sich auf den "Nationalstaat" ein, und betreibt damit faktisch Ideologie für das imperiale EU-Projekt und die militärische Politik des Westens (NATO). Die EU wird interessanter weise dabei, ausser in wohlwollenden Nebensätzen, von den meisten Autoren kaum thematisiert, obwohl diese bereits für mehr als für 50% der Gesetzgebungstätigkeit in Westeuropa zuständig ist und bezüglich "Europa" ein bedenklicher "Identitätsdiskurs" gepflegt wird.
Beispielhaft für diese bedenkliche Tendenz ist etwa der Artikel von Hans Ulrich Jost. Es ist richtig, wenn er bemerkt "Es gibt keinen vernünftigen Grund, Verfassung oder Verträge zwischen Gesellschaft und Staat dem von Sprache, Kultur, Rasse und Ethnie vergifteten Popanz "Nation" zu unterwerfen oder an eine fiktive Identität zu binden". Leider hält er diese Differenzierung dann selber nicht durch, um ein vages, identifizierendes Mischmasch von Schweiz, Staat, Nation und "völkischen Konzepten" zu brauen, das er dann seinen politischen Gegnern zuschreibt. Von einem universitären Historiker wie Hans Ulrich Jost sollte man eine saubere Definition von "Nationalismus" erwarten dürfen - und dann eine ebenso saubere Anwendung des Konzeptes auf politische Strömungen. Jost spricht von "aggressiven Nationalismus des 21. Jahrhunderts" und schreibt dessen Inkorporation der SVP zu. Unter "aggressivem Nationalismus" versteht der politisch interessierte Leser traditionell den Imperialismus und Kolonialismus des westeuropäischen, nationalistischen Territorialstaaten Endes des 19. Jahrhunderts - dessen sich die Schweiz wohl mangels machtpolitischer und militärischer Instrumente nicht schuldig machte. Der SVP ist wohl kaum der Wunsch zuzuschreiben, militärisch für die Verteidigung materieller Interessen der Schweiz im Ausland intervenieren zu wollen. Diesem Wunsch begegnet man jedoch explizit und nachweisbar bei offiziellen Gremien der EU, der Jost beitreten will. Und es ist nicht die SVP, die eilfertig bei der militärischen Interessenvertretung des Nordwestens mitmischen möchte. Nun - man kann "agressiven Nationalismus" defnieren, wie man will und es ist klar, das militärischer Interventionismus im "Ausland" nicht das einzige Kriterium des Nationalismus darstellt. Man sollte jedoch eine saubere Definition liefern und diese dann konsequent und unbesehen des Adressaten das Konzept auf alle - auch auf sich selbst - anwenden, wenn der Begriff zutreffen sollte.
Ein Artikel des Heftes ist hauptsächlich der EU gewidmet. Heinz Kleger vertritt die Meinung, der EU (die er "Europa" nennt) sei eine Verfassung zu verpassen. Während die meisten Autoren des Heftes Ausdrücke wie "Identität" und "Volk" geisseln, hat Kleger diesbezüglich keine Hemmungen. Er spricht von der Union der Völker, als ob es Entitäten gebe, die "Völker" heissen und welche die Geschichte bevölkern. Eine Verfassung soll für die EU "identitäts- und legitimitätsstiftend" wirken. Grundrechte sind nicht für die Individuen, die ein Territorium bewohnen, nötig, sondern werden instrumentalisiert als Mittel für die Identitätsstiftung: "Als ein bedeutender Beitrag zur Identitätsstiftung dieser Bügergesellschaft wird die Grundrechtecharta herausgestellt" (S. 125). Kleger hat auch keine Hemmungen bezüglich des Aspektes "Grossmacht" der EU. Unbefangen und kritiklos zitiert er Blair, der für einen "Supermacht Europa, aber keinen Superstaat Europa" wirbt. Und zusätzlich wird noch ein "europäischer Ethnos" bemüht (S. 12), der zwar die emotionale Verbundenheit mit dem lokaleren Ethnos nicht ersetzen, jedoch ergänzen könne. Seine Welt ist genau mit den Objekten bevölkert, deren Setzung von den meisten der übrigen Autoren abgelehnt wird - wenigstens für die Ebene der bisherigen Territorialstaaten.
Widerspruch 41, Nationalismus, Rassismus, Krieg, Beiträge zur sozialistischen Politik, Postfach, CH-8026 Zürich.
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