Der Widerspruch 38 widmet ein ganzes Heft der Globalisierungsdebatte. Christoph Scherrer zeichnet die Geschichte der liberalen Aussenwirtschaftspolitik in den USA nach. Diese verfolgte zu Beginn nicht nur ökonomischen Eigennutz und institutionellen Machterhalt. Nach dem 2. Weltkrieg wurde mit dieser Politik vor allem auch eine Eindämmung des sowjetischen Einflusses verfolgt (Bündnispolitik). Als die sowjetische Bedrohung für weniger gefährlich gehalten wurde, diente die weitere Liberalisierung der Aussenwirtschaftsbeziehungen zur Abwehr von Ansprüchen der Lohnabhängigen und anderer gesellschaftlicher Gruppen.
Die gesellschaftlich relevanten Kritiker der liberalen Aussenwirtschaftspolitik wie insbesondere die Gewerkschaften vermochten laut Scherrer nicht, einen plausiblen Gegenentwurf zu entwickeln. Dies hat einerseits strukturelle Gründe: Je fortgeschrittener der Internationalisierungsprozess sei, desto schwieriger werde es, Alternativen ohne hohe Anpassungskosten anzubieten. Scherrer betrachtet die Prozesse der Internationalisierung als unumkehrbar. Je höher der internationale Verflechtungsgrad sei, desto höher die Anpassungskosten bei einer verstärkten Entflechtung der Wirtschaft (Entflechtung und Dezentralisierung nennt er denn auch abwertend "Abschottung nationaler Wirtschaftsräume"). Bei der Frage der Unumkehrbarkeit müsste man allerdings untersuchen, welche Rolle im "Globalisierungskomplex" die Finanzmärkte spielen. Eine Reform der Finanzmärkte würde wenig Anpassungskosten auslösen. Aber selbst Warenströme könnten politisch ohne allzu hohe Anpassungskosten beeeinflusst werden: würde man z.B. die Transportkosten schrittweise erhöhen, so würde das zu einer Entflechtung und Regionalisierung der Wirtschaft führen. Wenn die Erhöhungsrate den Restrukturierungsraten der Wirtschaft angepasst würde, so ergäben sich sehr geringe Anpassungskosten. Mit angeblich allzu hohen Anpassungskosten ist also eine Unumkehrbarkeit der "Globalisierung" kaum zu begründen.
Joachim Bischoff betont, dass die Globalisierung als Verschärfung wirtschaftlicher Konkurrenz das Ergebnis politischer Entscheidungen ist und keinesfalls als natürwüchsiger Prozess zu interpretieren ist. Er zitiert in diesem Zusammenhang Oscar Lafontaine: "Die in den achtziger Jahren durchgeführte Liberalisierung der weltweiten Kapitalmärkte war eine politische Entscheidung. Es ist wichtig das festzustellen, weil oft so getan wird, als sei diese Entscheidung gottgegeben" (1999). Bischoff weist auch auf die Schere von Realwirtschaft und Finanzströmen hin: nur mehr 3% der Kapitalströme dienen der Abwicklung des Warenverkehrs. Die restlichen 97% sind reine Finanztransfers: Kapital, auf der Suche nach kurz- und langfristigen Anlagemöglichkeiten.
Zwei Artikel des Heftes (François Chesnex, Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf) sind denn auch der Tobin tax gewidmet - einer internationalen Kapitalsteuer auf kurzfristigen internationalen Kapitalbewegungen. Nach Altvater/Mahnkopf würde die Tobin-Steuer auf eine Entschleunigung der Finanzmärkte hinwirken. Mit der Tobin-Steuer könnte eine Rücknahme der globalen Konkurrenz, die Stärkung regionaler Kreisläufe erreicht und die Standortkonkurrenz entschärft werden. Von der Tobintax könnte auch eine Senkung des Zinsniveaus erwartet werden, indem durch Dämpfen kurzfirstiger Spekulationen Risiken geringer werden.
Brigitte Young untersucht in ihrem Artikel die Auswirkungen der Globalisierung auf die Beziehungen von sozialer Schichtung und Geschlecht. Sie konstatiert insbesondere eine wachsende Ungleichheit auch unter Frauen. "Globalisierung hat zu einer sozialen Trennung geführt zwischen denjenigen, die zu der territorial gebundenen 'Arbeitsgesellschaft' gehören und jenen, welche die entterritorialisierte 'Geldgesellschaft' bewohnen und mittragen". Es erfolgte eine Befreiung amerikanischer und europäischer Frauen von Hausarbeit auf Kosten einer anderen, schwächeren und marginalisierten Gruppe, die diese Arbeit nun erledigt. 43% aller amerikanischen berufstätigen Frauen beschäftigen Hausangestellte. In Westdeutschland wird die Zahl der in prekären Verhältnissen beschäftigten Hausangestellten auf 2.4 Millionen geschätzt.
Michael R. Krätke untersucht die Behauptung, der traditionelle Territorialstaat sei angesichts der Globalisierung ohnmächtig geworden: Er betrachtet die Botschaft vom Ende der Nationalstaaten und der Nationalökonomie im Zeitalter der Globalisierung als eine gewagte These. Die Macht der Nationalstaaten sei im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts ununterbrochen gewachsen: der entscheidende Sprung nach vorn fand in den letzten fünfzig Jahren statt: heute sind Nationalstaaten nicht nur die weltweit dominante politische Form, sie sind in den OECD-Ländern als Wohlfahrts- und Interventionsstaaten weit stärker, weit kompetenter, weit handlungsfähiger als je zuvor. Ihre administrative und regulative Kapazität wie ihre "infrastrukturelle Macht", die das Alltagsleben von Millionen Menschen direkt vom Vorhandensein und Funktionieren einer Vielzahl von öffentlichen Einrichtungen abhängig macht, übersteigt heute in den entwickelten Industrieländern alles, was davor bekannt war. In den OECD-Ländern werden heute (1998/99) im gewichteten Mittel fast 40% des BSP vom Staat in Form von öffentlichen Ausgaben verwendet, über 38% regelmässig in Form von Steuern und anderen Abgaben eingesammelt.
Aber auch auf dem internationalen Parkett spielen die Nationalstaaten die Rolle von Hauptakteuren: Auch wenn die grösstenteils schon bejahrten internationalen Organisationen sich seit ihren Anfängen ganz erheblich verändert haben, so gilt doch immer noch, dass sie nur dank und durch die Nationalstaaten handlungsfähig sind, die sie tragen, finanzieren, die ihnen Autorität übertragen und die sich ihrer Autorität unterwerfen - oder auch nicht. Krätke betont, dass Märkte, insbesondere Weltmärkte nicht vom Himmel fallen. Diese werden vielmehr gemacht. Dabei spielen heute die Multis die Rolle der treibenden Kraft, wobei sie ihre Wünsche in Zusammenarbeit mit Regierungen in internationalen Gremien durchsetzen (WTO, EU, OECD). Die Multis können dabei auf die Regierungen und die Staaten nicht verzichten. Davon, dass die "Globalisierung" quasi als Naturgewalt über die nichtsahnenden Nationalstaaten gekommen sei, könne im Ernst keine Rede sein, betont Krätke. Die Globalisierung lebt von der Komplizenschaft der Regierungen mit den Multis.
Krätke weist darauf hin, dass das Gespenst des angeblich machtlosen Staates bereits zur Zeit des Merkantilismus von Ökonomen gepflegt wurde. Zu einer Zeit, als die westeuropäischen Nationalstaaten in Europa wie in Übersee miteinander um Kolonien, um Märkte, um Kapital konkurrierten, wurde behauptet, keine Regierung, kein Fürst und kein Parlament könne sich der Elementargewalt des Weltmarkts widersetzen. Heute geistert z.B. die Vorstellung vom gegenüber den Finanzmärkten völlig ohnmächtigen Staates herum - dabei waren erstens die Regierungen früher auch international eingebettet. Noch nie haben andererseits nationale Zentralbanken einzeln oder im Verein mit anderen so oft und so kräftig auf den Weltfinanzmärkten eingegriffen wie in den letzten zwanzig Jahren. Finanzkrisen, wie sie sich in jüngster Zeit häufen, sind bislang alle nur dank massivster Staatsinterventionen abgebremst oder überwunden worden.
So kommt den Krätzke zum Schluss: "Die beliebte Vorstellung, Nationalstaaten hätten heute keine andere Wahl, als sich der erbitterten 'Standortkonkurrenz' um das weltweit verfügbare, angeblich grenzenlos mobile Kapital zu unterwerfen, ist abstrus" und "Angst vor der Globalisierung - wie diese, die gegenwärtig die Linke in allen europäischen Ländern lähmt - entsteht, sobald man sich den Aberglauben an die Allmacht des 'globalen' Kapitals und die Ohnmacht des 'nationalen' Staates zu eigen macht. Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund. Globalisierungschübe sind in der Geschichte des Kapitalismus immer wieder auf politische Gegenbewegungen gestossen. Gegenwärtig formieren sich diese eher auf der national gesinnten Rechten als auf der Linken. Da die Anführer des Globalisierungsprojekts ausser ihrer abstrusen Marktideologie nichts zu bieten haben, braucht es heute mehr denn je eine Linke, die einen klaren Kopf behält". Dem ist wohl wenig beizufügen.
Widerspruch 38, Globalisierung und Widerstand, Dezember 1999, Quellenstrasse 25, Postfach, 8026 Zürich.
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