Beat Leuthardt legt mit seinem "an den Rändern Europas" ein weiteres, lesenswertes Buch über das Europa der Grenzen vor. Während die alltägliche EU-Ideologie glauben machen will, die EU überwinde die obsoleten Grenzen der "Nationalstaaten", erweist sich bei Recherchen auf dem Terrain, dass die EU massiv Grenzen aufbaut - gegen den Rest der Welt (sofern sie arm ist). Beat Leuthard schrieb nicht von seinem Schreibtisch in Basel aus - er machte sich auf den Weg und traf sich mit Leuten in den neuen Grenzregionen EU-Europas. Er suchte nach den Opfern, nach lokalem Verständnis für Flüchtlinge, nach den Ursprüngen und Drahtziehern der neuen Repression und der scharfen Abschottung EU-Europas.
Der ehemalige Ost-West-Konflikt wurde vom Westen her vor allem auch an der Flüchtlingsfrage aufgebaut: dem gemeinen Volk wurde die Verwerflichkeit des Ostblocks immer wieder durch das Verbot, sein eigenes Land zu verlassen, vor Augen geführt. Besondere symbolische Bedeutung hatten dabei die Toten an der Mauer. Heute gibt es jährlich mehr Tote an der EU-Europa-Grenze als es je an der Mauer gab. An der Meerenge (Estrecho) von Gibraltar kommen jährlich Hunderte von Menschen um: "Umstritten ist einzig deren Zahl. Regelmässig finden sich auf den überall belebten Sandstränden um Tarifa herum angeschwemmte Leichen. Dennoch ist dies nur ein Bruchteil aller Toten. Denn nur wenige der Ertrunkenen schwemmt es an die Strände oder spült es auf de Klippen; den meisten Menschen wird der lieblich wirkende Estrecho selbst zum Grab. Laut den Behörden sind 'es über hundert' Tote, die Hilfsorganisation spricht von 'über Tausend' Toten pro Jahr. Genauere Schätzungen gibt es von der marokkanischen Selbshilfeorganisation ATIME. Allein von Januar bis Anfang August 1998 seien es mindestens 1070 Ertrunkene gewesen, 270 in spanischen und 800 in marokkanischen Gewässern" (S. 25).
Leuthardt besucht auf seiner Reise so unterschiedliche "Grenzregionen" wie Südspanien, die südsizilianischen Inseln, Kalabrien, Österreich, Slowenien, Tschechien, die Slowakei, Rumänien, die Ukraine und seinen Nachbarn, Litauen, Polen und Weissrussland. Eindrücklich weist er nach, wie die EU überall ihre Finger drin hat, um die Nachbarn der "Grenzregionen" auseinander zubringen, verwandschaftliche Kontakte über die neuen Grenzen hinweg zu erschweren, die lokalen Grenzkorps finanziell und technologisch aufzurüsten und Druck auf die Staaten auszuüben, um die Grenzkontrollen zu verschärfen und Visa zu verlangen, wo bisher ein reger interkultureller Austausch stattfand.
Der Stil Luthardts ist journalistisch: Zitate, Beschreibungen von Landschaften und Personen wechseln mit politischer Analyse der Grenzpolitik der EU. Auch Abstecher in die Umwelt- und Regionalpolitik der EU verschmäht Leuthardt nicht, wenn sich solche aus den Diskussionen mit den Betroffenen ergeben: Da wird etwa der andalusische Chefarzt Paco zitiert: "Was hat Brüssel zur Förderung von Randregionen in Spanien angeboten, das für uns wirklich nützlich wäre? Nichts". Eindrücklich wird die verheerende Wirkung von Brüsseler Subventionen am Beispiel von Windkraftwerken dargestellt, die von der Bevölkerung weder gewünscht wurden, noch zur Stromsicherheit der lokalen Wirtschaft auch nur das geringste beitrugen.
In einem mittleren, gelben Teil liefert Leuthard "härtere" Daten zur Asyl- und Grenzpolitik der bereisten Länder und der EU. Dabei tritt vor allem die Rolle des Geldmittelflusses aus Brüssel bei der Verschärfung der Grenzpolitik nicht nur von Ländern wie Italien, sondern auch von Ländern wie Litauen deutlich zu Tage: "Zur Aus- und Aufrüstung der Grenzposten im Osten fliessen denn auch reichlich EU-Gelder nach Ungarn" (S. IX), "Polen ist vom EU-Gremium Schengen für die Abschottung der EU-Aussengrenzen bereits fit gemacht worden. Mit Geldern aus Brüssel werden die Grenzkontrollen und die Logistik aufgerüstet, sind in der Nähe von Warschau, aber auch an der Westgrenze zu Deutschland neu Abschiebezentren entstanden und sind die Checkpoints zu Litauen und zu Belarus systematisch aufgerüstet worden" (S. XIII).
Beat Leuthardt, An den Rändern Europas, Berichte von den Grenzen, Berichte von den Grenzen, Zürich, Rotpunktverlag, 1999.
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