Der NZZ-Journalist Manfred Rist untersucht in seiner Schrift, die als universitäre Arbeit am Europäischen Hochschulinsitut Fiesole entstand, einige Tendenzen im EU-Journalismus. Der Anstoss zur Arbeit ergab sich laut Rist aus einer "mich damals etwas irritiernden Fragestellung von Stephan Kux anlässlich eines Weiterbildungskurses für Medienschaffende: Welche Informationsstrategie aus Brüssel?" Auf diese Fragestellung geht das Büchlein allerdings nicht ein. Ob diese Lücke durch die Pro-EU-Haltung des Autors zu erklären ist, der es dem Schweizer Publikum ersparen wollte, die unfreundlichen Manipulationsbestrebungen Brüssels bekannt zu machen (siehe etwa Gérard de Sélys, Le Monde diplomatique, 6. Juni, 1996), bleibe dahingestellt. Was uns Rist beschreibt, ist allerdings auch sonst aufschlussreich genug.
Mittlerweile arbeiten über 800 Korrespondenten aus aller Welt in Brüssel, darunter 16 Journalisten aus der Schweiz. Sie leisten den 10 000 Interessenvertretern Gesellschaft, die sich in Brüssel tummeln. Die Atmosphäre in Brüssel kennzeichnet Rist als "Konsensgemeinschaft, in der gruppendynamische und massenpsychologische Gesetze so wirken, wie anderswo auch." (S. 11). Der Journalist ist nahe bei den Quellen, den Beamten, Politikern und internen Dokumenten. Oft aber weit weg von der Redaktion, von der Stimmung zu Hause und vom Leser. Die Journalisten arbeiten oft zusammen, tauschen Informationen aus, führen gemeinsam Interviews, gebrauchen dieselben Quellen. Durch diese Kooperation in einem Milieu wie der EU-Bürokratie und den Interessenvertretern entsteht die Konsensgemeinschaft, die zu einer Einschränkung der Pressevielfalt führt. Das Bedürfnis, von Interessenvertretern, Beamten und Politikern gelesen, hofiert, weiterhin eingeladen und mit Informationen versorgt zu werden, kollidiert mit der beruflichen Erfordernis, Kritik an der Umwelt zu üben (S. 11).
Es bestehen in Brüssel laut Rist verschiedene Hinweise dafür, dass die Brüsseler Journalisten einen Hang zur Identifikation mit der Machtelite haben. Rist liefert ein Beispiel: Als Frankreich im September 1992 über den Maastrichter-Vertrag abstimmte, verfolgten viele Brüsseler Journalisten die Abendnachrichten um 20 Uhr im Pressesaal. Als die erste Hochrechnung auf dem Bildschirm aufleuchtete und die Zustimmung die Marke von 50% überschritt, gab es tosenden Applaus." Es sei ein Wir-Gefühl spürbar und der Glaube, dass man letztlich die EU dem Leser oder der Redaktion verkaufen müsse (S. 12). Rist spricht von einem Kollektivgefühl, dass man mit den EU-Politikern und Beamten im gleichen Boot sitze. Die Solidarisierung mit der gemeinsamen Sache werde nicht zuletzt durch die vielen Reisen quer durch Europa gefördert. In fremden Stätten bleiben die Brüsseler Kontakte des Reisetrosses: Im Wanderzirkus der EU seien alle aufeinander angewiesen.
Was Rist kritisiert, betreibt er allerdings selber. Er beklagt etwa, dass die Visualisierung der EU schwierig sei - als ob die EU mit dem Heer von Journalisten, die die EU zur eigenen Angelegenheit machen, nicht schon allzu gut bedient wäre. Die Personalisierung der Politik sei nicht nur negativ zu werten, meint Rist (S. 43), da sie die Chance biete, zu zeigen, dass in Brüssel nicht kalte, vaterlandlose und entwurzelte Bürokraten am Werk sind. Die Entgleisungen der wenigen EU-kritischen Journalisten in Brüssel (Briten) vermag er ausführlich zu schildern und zu beklagen, welchen Schaden sie der EU durch unsorgfältige Berichterstattung zugefügt hätten. Dabei ist die ständige EU-Propaganda, die uns täglich über alle Medien eingeflösst wird, bedeutend problematischer.
Rist sieht sich mehrmals genötigt, die EU in Schutz zu nehmen - als ob dies in eine Arbeit dieses Typs gehörte. "Oft wird die EU dafür gebrandmarkt, wofür eigentlich die Mitgliedstaaten geradestehen müssten" (S. 17). Dabei verdankt die EU gerade dem Umstand ihr dauerhaftes Leben, dass sie es den Regierungen erlaubt, unpopuläre Entscheidungen ohne demokratische Kontrolle auf höherer Ebene zu fällen, um dann im Nachhinein Brüssel dafür die Schuld zuschieben zu können. Darauf wird von Rist denn auch hingewiesen (S. 20). Dies ein Beispiel für seinen recht unsystematischen, vom Stil her eher journalistischen Zugang zum Thema.
Der Hang der Journalisten, sich mit der Machtelite in Brüssel zu identifizieren, wird von Rist letztlich nicht kritisiert. Er spricht zwar in anderem Zusammenhang davon, wie wichtig Pressevielfalt sei. Entsprechend dürfte man eigentlich erwarten, dass er aus dem EU-Einheitsbrei-Konsens ausbricht. Die Leser hätten doch ein Recht auf eine vielfältige, informative und kontroverse Auseinandersetzung zum EU-Thema. Dass das Gros der Jounalisten ausgerechnet hier ihrer Aufgabe offensichtlich nicht nachkommen, ist für die Zunft kein Ruhmesblatt.
Manfred Rist, Infotainment oder Sachinformation? Die Europäische Union als journalistische Herausforderung, Basler Schriften zur europäischen Integration, 38, Europa Institut an der Universität Basel, 1998.
|