Übersicht Buchbesprechungen Demokratie: Wofür wir kämpfenDas Büchlein von Michael Hardt und Antonio Negri möchte die weltweiten Protestbewegungen der letzten Jahre (arabischer Frühling, Occupy-Bewegungen, Protestbewegungen in Spanien, Griechenland, etc.) deuten und diesen Perspektiven eröffnen. Gemäss Hardt und Negri haben die neuen Protestbewegungen mit dem „klassischen Sozialismus“ wenig gemeinsam: sie richten „sich nicht nur gegen die Herrschaft des Privateigentums, sondern auch gegen die Herrschaft des Staatseigentums und gegen die staatliche Kontrolle“ (S. 13). Sie entdecken in diesen Bewegungen „neue Formen wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kommunikativer Unabhängigkeit und Sicherheit, die es uns ermöglichen, das Modell der repräsenativen Demokratie zu überwinden und unsere eigenenen Fähigkeiten zu demokratischem Handeln zu behaupten“ (S. 14). Die Analyse der Gründe für die neue Protestbewegungen sind ziemlich oberflächlich, insbesondere versteht man nicht so recht, inwiefern diese Gründe für die „neuen Formen der Unabhängigkeit“ verantwortlich sein sollten.
Bezüglich der anzustrebenden Gesellschaft bleiben Hardt und Negri ebenfalls recht unverbindlich. Zwar verlangen Sie eine neue Verfassung, welche insbesondere das parlamentarische Modell der Demokratie (Vertretung statt direkter Mitsprache) überwinden sollte. Damit verlangen sie scheinbar ein Minimum an festgelegten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Auf bestimmte Vorschläge, die man dann kritisch diskutieren könnte, wollen sie sich aber nicht festlegen, und manche Ausführungen lassen daran zweifeln, dass sie das mit der Verfassung wirklich ernst meinen.
Der Schutz von Minderheiten ist gemäss Hardt und Negri ein klassisches Verfassungsdilemma, das bei der Form der Mehrheitsherrschaft angesprochen werden müsse (bei Minderheitsherrschaften nicht?). „Die klassische liberale Lösung besteht darin, die Macht der Mehrheit zu kontrollieren und die Entscheidungsgewalt auf Volksvertreter zu übertragen“ (S. 71). Das ist ziemlich beschönigend. Ideologie, um die Interessen gewisser „Eliten“ gegen Mehrheiten durchzusetzen, wird hier zum Nennwert genommen. Sie fahren dann fort „Die Frage, welche Minderheit in welchem Fall geschützt werden muss, erfordert natürlich ethische und politische Entscheidungen. Nicht jede Minderheit rechtfertigt den Schutz vor den Entscheidungen der Mehrheit. Im Gegenteil, die meisten Minderheiten sollte in den meisten Fällen überstimmt werden, denn andernfalls wäre der Mehrheitsentscheid sinnlos“ (S. 72). Als Beispiel für eine Minderheit, die von der Mehrheit überstimmt werden darf, nennen sie reiche Landbesitzer und Gläubiger, da diese durch ihren Reichtum bereits unverhältnismässig grosse Macht über die Mehrheit ausübten.
Bezüglich Minderheiten, die zu schützen sind, fragen sie sich, wie der Schutz, ohne die Entscheidungsgeswalt an „aufgeklärte“ und „tugendhafte“ Volksvertreter zu übertragen, gewährleistet werden könnte. Sie nehmen sich als Beispiel für eine Lösung ohne Vertretung „horizontale, demokratische Versammlungen, die keine Einstimmigkeit suchen, sondern einen pluralen Prozess verwenden, der für Widersprüche und Konflikte offen ist“ (S. 73). Sie setzen auch darauf, dass die Mehrheit keine homogene Gruppe und keinen festen Block bildet, sondern eine Konzert von Unterschieden. Minderheiten sind in den offenen Prozess einzubinden. „Mit Hilfe dieser Strukturen können wir […] die aufgeklärten Abgeordneten vergessen und eine demokratische Politik auf Grundlage des Willens aller schaffen“ (S. 74). Löblich an diesen Vorstellungen ist sicher, dass sie nicht auf „Repräsentation“, Gerichte oder andere „Eliten“ setzen, um angeblich Minderheiten zu schützen. Offene, nicht strukturierte Prozesse wie die von Hardt und Negri geforderten, können aber durchaus gefährlich werden werden: ohne schrifliche Verfassung der Grundrechte, Gewaltentrennung und entsprechend gebildeter Institutionen sind sie für die Demokratie und die Menschen eine Bedrohung.
Das Konzept von offenen „pluralen“ Prozessen, durch welche sich die Gesellschaft organisiert, geistert durch das ganze Büchlein und ist zweifellos die grösste Schwäche der vorgelegten Konzeption. Als ob sich Bewegungen ewig im Fluss halten könnten und ununterbrochen sowohl Entscheidungskompetenzen als auch inhaltliche Fragen ausgleichend behandeln könnten. Die Zeit und die Lust hält sich bei den meisten Menschen wohl in Grenzen – man hat ja noch anderes zu tun, als ständig an Versammlungen herumzustehen. Entsprechend geht es kaum ohne schriftlich verfasste Arbeitsteilung in den politischen Prozessen, die aber möglich nahe von unten zu kontrollieren sind (Kompetenzkompetenz muss bei den Bevölkerungen bleiben).
Hardt und Negri wenden sich angesichts drohender Privatisierungen gegen den Ruf nach staatlicher Kontrolle. Die Erfahrungen des Sowjetsozialimus hätten den Ruf nach Staat desavouiert. „Unsere Abneigung gegenüber staatliche Mächten und unser Misstrauen gegenüber dem Öffentlichen Recht rühren zum Teil aus den schlimmen Folgen dieses gescheiterten Experiments. Das Öffentliche als Obrigkeit, die über die Gesellschaft gestellt wird, handelt unweigerlich bürokratisch und irrational, blind und erstickend“ (S. 84). Nun, das Problem der Staatssozialismus war ja nicht der Staat an sich, sondern dass im realexistierenden Sozialismus die demokratische Kontrolle ausgeschaltet wurde. Dies liegt zum grossen Teil an der marxistischen Desavouierung der Instrumente der als bürgerlich verschrienen politischen Demokratie (Gewaltentrennung, Versammlungsfreiheit, freie Wahlen, Rechtsstaatlichkeit). Dabei ist diese Demokratie historisch gesehen keineswegs vom Bürgertum eingeführt und erkämpft worden, das bestensfalls an Zensussystemen (nur Vermögende durften wählen) interessiert war.
Ohne demokratisch kontrollierten Staat wird es aber kaum gehen. Es ist aber sicher so, dass der Staat nicht übermässig aufzublasen ist. Man hat den Eindruck, Hardt und Negri gehen allzu sehr von den demokratiepolitischen Mängeln bestehender Staaten aus, ohne nach demokratischen Kontrollmöglichkeiten zu suchen. Es ist aber durchaus möglich, die Ziele des Staates inhaltlich detailliert demokratisch festzulegen und die entprechende Verwendung der Mittel zu kontrollieren. Direktdemokratische Institutionen sollen ja genau dies gewährleisten. Es ist löblich, dass sie „Vergemeinschaftung“ nicht mit „Verstaatlichung“ verwechseln und die Produktion von Gütern in den Dienst aller Menschen stellen wollen. „Vergemeinschaftung“ ohne formelle rechtliche und politische Strukturen, die demokratisch eng von unten kontrolliert werden, wird aber nicht funktionieren und man muss mögliche Formen detailliert darlegen, diskutieren, verwerfen und widerum darlegen, wenn man hier Lösungen finden möchte.
Michael Hardt, Antonio Negri (2012), Demokratie: Wofür wir kämpfen, Campus: Frankfurt a.M.
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