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Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas

Hans Magnus Enzensberger publizierte anfans Jahr 2011 ein kleines Büchlein über die EU-Integration. Er startet mit einem Lob – wohl um den Vorwurf der „Europagegnerschaft“ abzuwehren, der im euronationalen Klima der deutschen „Eliten“ als eine Art Blasphemie betrachtet wird. Das Heilige ist seit je das Nationale – die jeweils als optimal betrachtete, emotional aufzuladende territoriale Organisation, um sich mehr als einem zusteht vom Weltkuchen abzuschneiden. Enzensberger wiederholt dabei Klassiker der EU-Ideologie – Frieden, Wegfall von Wechselkursgebühren, Anschlussmöglichkeiten von zu Hause gekaufter elektrischer Geräte in der ganzen EU, Zerschlagung von Kartellen, Regionalförderung in entlegenen Gegenden der EU. In Nebensätzen setzt er manchmal zu den erwähnten Leistungen Fragezeichen. „Auch um andere Probleme, die nur gemeinsam zu lösen sind, hat sich die Europäische Union verdient gemacht. Seit Jahren versucht sie, ohne durchschlagenden Erfolg, dem lächerlichen Flickwerk ein Ende zu machen, das die Kontrolle des europäischen Luftraums zu einem gefährlichen Geduldspiel macht“. Das Fehlen eines Erfolges als Verdienst! Bezüglich Regionalförderung erwähnt er die Kritik des EU-Rechnungshofes, der bemängelt, dass 36% dieser Projekte unter falschen Voraussetzungen gefördert wurden. Oder„Vor allem aber ist es die Landwirtschaft, die sich gewaltiger Subventionen erfreuen kann. Besonders die Grossbetriebe werden aus dem grössten Topf des Brüssleler Haushalts bedacht; für die Agrarpolitik stehen rund 59 Milliarden Euro zu Verfügung“. Nach diesem nachmal ziemlich zwiespältigen Lob schliesst er: „Dennoch handelt es sich insgesamt um Wohltaten, die sich sehen lassen können. Solle man also den Brüssler Wächtern zu den schönen Resultaten gratulieren []?“ „Unbedingt nötig ist das nicht; denn diese Mühe nehmen uns die europäischen Behörden gerne ab“ (S. 9).

Nach dem Lob folgt die Kritik, zuerst an der Propaganda und gewissen Sprachregelungen der EU. „Mit fünf Millionen Euro jährlich subventioniert die EU den Sender Euronews und mit sechs das weithin unbekannte Radionetzwerk Euranet. Auch das Europaparlament gönnt sich einen eigenen Fernsehkanal namens Europarltv, den es sich zehn Millionen kosten lässt, obwohl er nur wenige Zuschauer hat. Vieles was es dort zu sehen und zu hören gibt, erinnert an Hofberichterstattung“ (S. 11). Er legt dar, wie die EU-Bürokratie Kritik als „antieuropäisch“ diffamieren will – trotz oder wegen der fehlenden demokratischen Legitimation. Sie versucht die Meinungsbildung selbst in die Hand zu nehmen – mangels des Fehlens einer „europäischen Öffentlichkeit, die diesen Namen verdienen würde“. Im Gegensatz zu Wahlen oder Abstimmungen, die lästig sind, leisten – selbst in Auftrag gegebene – Umfragen gute Dienste. Man beruft sich auf Ergebnisse des „Euro-Barometers“, um sein Tun zu legitimieren. Nach den Jahresberichten des EU-Rechnungshofes liegen die Verwaltungskosten der EU bei 6% des Gesamtbudgets. „Das wären genau 8.2 Milliarden Euro. Andererseits behaupten Leute , die sich nur in Brüssel sondern auch in Österreich auskennen, die Verwaltung der Stadt Wien sei ebenso teuer wie die der Europäischen Union. Das hört sich abenteuerlich an, solange man nicht bedenkt, dass eine Grosstadt für allerhand zu sorgen hat, was die EU anderen überlässt, wie ihre Müllabfuhr, ihre Sozialbehörden, und viele andere Kostgänger“ (S. 17). Gegenüber Kritikern an der EU-Bürokratie möchte Enzensberger die EU-Beamten aber trotzdem in Schutz nehmen: „Es ist sicher kein Vergnügen, eine Sechzigstundenwoche einem Klima von Unpopularität, internen Konflikten, Blockaden und Intrigen zuzubringen, gar nicht zu reden von dem berufsbedingten Realitätsverlust, der unvermeidlicherweise jeder politischen Klasse droht und der natürlich mit der geographischen Entfernung von den übrigen Einwohnern unseres Kontinentes wächst. Es ist kleinlich und unangebracht zu fordern, dass ein derart erbarmungswürdiges Dasein auch noch schlecht bezahlt werde“ (S. 18).

Schwerer als die Bürokratisierung wiegt für Enzensberger der Vorwurf an die EU, sich überall in den Alltag der „Europäer“ einzumischen. Allerdings ist dieser Regulierungswahn durchaus ein Ausfluss der Bürokratie. Er zählt die Bereiche auf, in denen die EU mittlerweile zuständig ist und führt einige klassische Fälle von absurden Regulierungen an: Nach 20 Jahren erbitterter Verteidigung hat sich die EU-Kommission dazu durchgerungen, die beispielhaftesten davon abzuschaffen, wie die berühmte Gurkenverordnung, welche vorschrieb, dass die Krümmung von Gurken 10 Milimeter auf zehn Zentimer Länge nicht überschreiten darf.

Die knappen Gelder Brüssels für die Kultur empfindet Enzensberger als Segen: „Es soll Leute geben, die den philiströsen Geiz [der EU in Kulturangelegenheiten] beklagen. Das ist kurzsichtig. Je weniger sich die Brüsseler Instanzen für die Kultur interessieren, desto besser. Allen, denen an dieser Seite der menschlichen Existenz gelegen ist, den Produzenten ebenso wie dem Publikum, bleibt durch diese Wurstigkeit die anmassende Gängelung erspart, mit der andere Tätigkeiten zu kämpfen haben. Direktiven darüber, wie in Europa gemalt, getanzt und geschrieben werden darf, hätten uns gerade noch gefehlt“ (S. 22).

Enzensberger weist darauf hin, dass es die Methode Monet ist (Integration via ökonomische Hintertür), die heute zu Verwerfungen in der EU führt. „So liegt eine bösartige Ironie darin, dass sich gerade dort, wie die Union ihre ureigenste Aufgabe sah, die gefährlichsten Risse zeigten, nämlich auf dem Gebiet der Ökonomie. Mochten ihre Gründerstaaten noch über eine vergleichbare Wirtschaftskraft verfügen, so stiessen bald mehr und mehr unsichere Genossen zu dieser Gemeinschaft, bei denen es auf der Hand lag, dass sie dem entfesselten Wettbewerb des gemeinsamen Marktes nicht gewachsen waren. Das führte zunächst dazu, das sich die Weichwährungsländer durch fortgesetzte Abwertungen zu retten versuchten. Aber dieser Ausweg stand ihnen nur offen, solange es keine gemeinsame Währung gab“ (S. 44). Angesichts der ökonomischen Verwerfungen werden die geltenden Verträge ausser Kraft gesetzt. In Artikel 125 heisst es „Ein Migliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein“. Das gleiche gilt für die Union als Ganzes. Auf Vorschlag der Kommission kann der Europäische Rat aber „auf Grund von Naturkatastrophen oder ausserwöhnlichen Ereignissen“ finanzielle Nothilfen zulassen. Der aufgespannte „Rettungsschirm“ beläuft sich auf 750 000 000 000 Euro. Er soll „die Union vor Unbilden schützen, die sie selbst herbeigeführt hat“ (S. 46).

„Schuld an der Misere ist, wenn man den Politkern Glauben schenkt, ganz allein die Spekulation. Von dieser unerfreulichen Erscheinung sprechen sie wie von einem Spuk, der schwer zu erklären und noch schwerer zu verscheuchen ist. Dabei gehört sie zur Geschäftsgrundlage des Kapitalismus. Die Spekulanten testen den Markt auf seine Schwachstellen; sie reagieren auf die Zunahme der politisch verursachten Staatsverschuldung; sie schätzen die ökonomischen Ungleichgewichte ab, die aus der Fehlkonstruktion der Wirtschafts- und Währungsunion folgen; und sie analysieren die Fliehkräfte, die das erzeugt“ (S. 48). Derweil erklären die Politiker ihre Entscheidungen als „alternativlos“. „Der Begriff beleidigt die menschliche Vernunft, denn er kommt einem Denkverbot gleich. Er ist kein Argument, sondern eine Kapitulationserklärung. Wenn die Feldherren die Waffen strecken, sind es, wie immer in solchen Fällen, nicht sie, die für die astromisch hohen Tribute an die Sieger aufkommen, sondern die Mannschaften. [..] Dabei zahlen stehts diejenigen, die an dem Debakel am wenigsten Schuld sind. In welcher Form das geschieht, ist zweitrangig: Steuererhöhungen, Rentenkürzungen, Inflation, Währungsschnitt. Das Rezept ist nicht neu: Sozialisierung der Verluste, Privatisierung der Gewinne. Dass der poltischen Enteignung die ökonomische folgt, entbehrt nicht jeder Logik“ (S. 49).

Enzensberger kommt schliesslich zum Kernproblem der EU, das offiziell eine euphemistische Bezeichnung trage: das sogenannte Demokratiedefizit. Es „gilt als eine chronische und offenbar schwer zu behandelnde Mangelkrankheit, die zugleich beklagt und verharmlost wird. Dabei kann von einem Rätsel keine Rede sein; es handelt sich vielmehr um eine beabsichtigte Grundsatzentscheidung. Als hätte das 19. und 20. Jahrhunderts nie gegeben, haben sich Ministerrat und Kommission schon bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft darauf geeinigt, daß die Bevölkerung bei ihren Beschlüssen nichts mitzureden hat. Dass dieser Rückfall in vorkonstitutionelle Zustände durch Korrekturen zu heilen wäre, glaubt inzwischen niemand. Jenes Defizit ist also nichts weiter als ein vornehmer Ausdruck für die politische Entmündigung der Bürger.“ (S. 52).

Um dieses beabsichtige “Defizit“ zu verwalten „haben sich die Wortführer in Brüssel, Straßburg und Luxemburg eine Strategie ausgedacht, die sie gegen jede Kritik immunisieren soll. Wer ihren Plänen widerspricht, wird als Antieuropäer denunziert. Dieses Kidnapping der Begriffe erinnert von ferne an die Rhetorik des Senators Joseph McCarthy und des Politbüros der KPdSU. Was diesen nicht paßte, pflegten sie zu verleumden. Die einen sprachen von ‚un-american activities‘, die andern von ‚antisowjetischen Umtrieben‘. Ein deutscher Politiker, der seinen Gegnern mit dem Argument beikommen möchte, sie verhielten sich ‚undeutsch‘, würde sich unmöglich machen. Dagegen kann es sich ein luxemburgischer Premierminister offenbar erlauben, der Kanzlerin eines Nachbarlandes ihre ‚uneuropäische Art‘ vorzuwerfen, wenn ihm ihre Entscheidungen mißfallen; und noch vor nicht allzulanger Zeit hat Jos Manuel Barroso, der Präsident der Kommission, behauptet, Mitgliedsländer, die sich seinen Plänen widersetzten, handelten ‚nicht in einem europäischen Geist‘ (S. 54).

Etwas pessimistisch schliesst Enzensberger: „Wenig spricht bisher dafür, dass die Europäer dazu neigen, sich gegen ihre politische Enteignung zur Wehr zu setzen. Zwar fehlt es nicht an Äusserungen des Unmuts, an stiller oder offener Sabotage, aber insgesamt führt das berühmte demokratische Defizit bisher nicht zum Aufstand, sondern eher zu Teilnahmslosigkeit und Zynismus, zur Verachtung der politischen Klasse oder zur kollektiven Depression.“ (S. 60). Ein kleines Trostpflaster hat er dann doch auf Lager: „Allen Imperien der Geschichte blühte nur eine begrenzte Halbwertzeit, bis sie an ihrer Überdehnung und an ihren inneren Widersprüchen gescheitert sind“ (s. 61).

Hans Magnus Enzensberger (2011), Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas, Berlin: Suhrkamp.


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