Das Buch enthält die Ergebnisse eines im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 42 (Grundlagen und Möglichkeiten der Schweizerischen Aussenpolitik) durch den Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekts "Schweizerische Demokratie und Europäische Union". Es will einerseits die EU bezüglich Demokratie analysieren, um eventuelle "Legitimationsdefizite" aufzudecken, anderseits die Verträglichkeit der direkten Demokratie mit den Institutionen der EU überprüfen. Die euronationale Tendenz der Autorinnen und Autoren kommt darin zum Ausdruck, dass die EU im Grossen und Ganzen als genügend demokratisch legitimiert ausgezeichnet wird, anderseits werden die demokratiepolitischen Auswirkungen eines EU-Beitritts der Schweiz heruntergespielt.
Zuerst stellen die Autorinnen und Autoren einige verfassungsrechtliche Grundtatsachen klar:
- Den EG-EU-Verträgen kommt "Verfassungsqualität" (S. 24) zu, wobei die EU-Verfassung dem Recht der Mitgliedstaaten übergeordnet ist (S. 34). Die politischen Systeme der Mitgliedstaaten müssen so ausgestaltet sein, dass dem aus dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts folgenden Anspruch auf eine effektive, den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen genügende Umsetzung und einem effizienten Vollzug entsprochen wird" (S. 73).
- Die EU-Verfassung legt keine statischen Verpflichtungen oder Kompetenzen fest. Die Verträge sind vielmehr auf die Verwirklichung umfassender Ziele ausgerichtet und weisen deshalb einen dynamischen Charakter auf. Für die Auslegung der EU-Kompetenzen bedeutet dies, dass die Verwirklichung der angestrebten Ziele der Integration, nicht aber ein irgendwie umschriebenes Sachgebiet massgeblich ist: potentiell jedes Sachgebiet kann vom Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts und seiner Kompetenzgrundlagen erfasst werden (S. 29). "Der Gemeinschaft stehen materiell sehr weitreichende Befugnisse zu, die jedenfalls nicht allein auf der Grundlage einer sachlich-gegenständlichen Betrachtung eingegrenzt werden können. Das Subsidiaritätsprinzip setzt der Wahrnehmung dieser Kompetenzen zwar Grenzen, räumt der Gemeinschaft aber einen weiten Beurteilungsspielraum ein" (S. 73).
- Organe und Entscheidungsstrukturen folgen nicht dem klassischen Gewaltenteilungsmodell.
- Verbindliche und abschliessende Weisungen an Ratsmitglieder in dem Sinne, dass diese in einer bestimmten Sache auf eine bestimmte Position festgelegt werden, von der sie nicht abweichen dürfen, verstossen gegen Art. 5 EGV. Die Regierungen müssen also konstruktiv an der Verfolgung der Ziele der EU/EG mitarbeiten (S. 66 ff).
- Die EU übt autonom Hoheitsgewalt aus. Deshalb unterliegt es keinem Zweifel, dass ihr Souveränität zukommt. "Daran ändert auch der Umstand nichts, dass diese Souveränität erst im Anschluss an die Übertragung von Hoheitsgewalt durch die Mitgliedstaaten begründet wurde. Dies führte eben gerade dazu, dass die Mitgliedstaaten Teile ihrer Souveränität ‚ausgegliedert' haben mit der letzten Konsequenz, dass Souveränität nunmehr zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten (sowie ggf. deren Gliedstaaten) geteilt ist" (S. 128).
In der Folge untersuchen die Autorinnen und Autoren die demokratische Legitimation der EU. Dadurch dass sich das Gebilde der EU grundlegend von einer staatlichen Organisation unterscheide, erscheine es zwingend, auch im Hinblick auf die Formen demokratischer Legitimation neue Wege zu gehen. Jede automatische Übertragung national bzw. staatlich geprägter Mechanismen verbiete sich daher von vornherein (S. 151). Mit Hilfe dieser Prämisse wird dann die EU als im Grossen und Ganzen demokratisch legitimiert hingestellt. Die EG-EU Verträge (Primärrecht) sind demokratisch legitimiert durch die Ratifizierung des Gesetzgebers der jeweiligen Staaten (durch die Parlamente oder durch Referendum) (s. 158). Das EU-Parlament stellt eine demokratische Vertretung der EU-Bürgerinnen und Bürger dar. Die Entscheidungen des Rates sind ihrerseits durch die demokratischen Verfahren im Inneren der Staaten legitimiert. Es werden zwar zu diesen Legitimationsflüssen auch jeweils kritische Punkte angemerkt: Die Ratifizierung der Grundverträge erfolgt durch integrale Annahme oder Ablehnung. Die Regierungsvertreter stellen eine sehr mittelbare Vertretung der Bürgerinnen und Bürger ihrer Länder dar. Diese Schwachstellen samt der schwachen demokratischen Legitimation der mächtigen Kompetenzen der EU-Kommission werden aber durch den spezifischen Charakter der EU wegerklärt: für ein Gebilde, das aus teilsouveränen Staaten besteht, die als solche weiterleben sollen und wollen, handle es sich um eine Struktur, die dem Umstand der geteilten Souveränität im Grossen und Ganzen Rechnung trage. Retouchen, wie etwa die Stärkung des EU-Parlamentes, sind zwar ins Auge zu fassen. Sie müssen aber ihre Grenzen am Charakter der EU finden: die Teilstaaten bleiben wichtige Elemente der Konstruktion und über sie hat ein wesentlicher Teil der "demokratischen Legitimation" zu erfolgen.
Zuletzt diskutieren die Autorinnen und Autoren eine mögliche Anpassung der schweizerischen Institutionen an die EU-Entscheidungsprozesse: wie ist das Initiativrecht, das Referendumsrecht zu organisieren und wie ist die parlamentarische Kontrolle der Regierung zu gewährleisten, die durch den EU-Beitritt in ihren Entscheidungsbefugnissen weit in den gesetzgeberischen Bereich hineingreift. Bezüglich dieser drei Problemkreise werden jeweils verschiedene Varianten sowie deren Vor- und Nachteile diskutiert. Die notwendigen Anpassungen werden dabei durch folgenden gedanklichen Taschenspielertrick verniedlicht: Der EU-Beitritt schränkt zwar materiell die Möglichkeiten von Referendum und Initiative ein. Formell bleiben die Rechte in den verbleibenden Kompetenzbereichen aber intakt. Entsprechend würde keine Einbusse an direkter Demokratie vorliegen. "Es geht zunächst weniger um ‚Einbussen' an direkter Demokratie denn um die Frage, ob eine Übertragung der Hoheitsrechte in dem entsprechenden Umfang und die Einbindung der Schweiz in eine supranationale Organisation gewünscht wird oder nicht" (S. 343). Diese haarsträubende Argumentation ist ein schönes Anschauungsbeispiel für die Erfindung von Sprachregelungen als Beitrag zur herrschenden EU-Ideologie.
Bezüglich der materiellen Einschränkung der Volksrechte ist das Buch widersprüchlich. Auf Seite 39 wird betont, dass sich Richtlinien oft kaum mehr von Verordnungen unterscheiden, und damit dem Gesetzgeber der Teilstaaten (wie bei Verordnungen) keinen Rechtssetzungsspielraum mehr belassen. Später wird behauptet, die Umsetzung des EU-Rechts gewähre den Staaten einen weitgehenden Umsetzungsspielraum. Deshalb könne man im Falle eines EU-Beitritts nicht von einer materiellen Entleerung der Volksrechte sprechen (S. 344). Wie man auch an anderen Beispielen zeigen könnte, ist Kohärenz für die Autoren des vorliegenden Buches keine Tugend, der sie nachzueifern.
Astrid Epiney, Karine Siegwart, Michael Cottier, Nora Refaeil, Schweizerische Demokratie und Europäische Union, Zur demokratischen Legitimation in der EU und den Implikationen eines EU-Beitritts der Schweiz für die schweizerische Demokratie, Bern, Stämpfli, 1998
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