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Souveränität, Föderalismus und Autonomie

Die neueste Nummer des Widerspruchs sucht positive Erfahrungen in „neu erwachenden lokalen Kämpfen gegen den Abbau von sozialen Rechten und ökonomischer Sicherheit“. Gemeinsam sei vielen dieser Kämpfe, dass sie ein Recht auf Entscheide an der Basis einforderten. „Sie gehen einher mit dem Bedeutungsrückgang von Nationen als Räumen, in denen soziale Rechte erkämpft und institutionalisiert werden konnten“. Die Passage ist ziemlich bezeichnend für etliche Artikel der Nummer: Es wird nicht zwischen Nationen und Territorialstaaten unterschieden. Nationen und Völker existieren nicht – es handelt sich um Phantasmen von Leuten, die an solche abstrakte Objekte glauben. Sinnvoll kann nur die Existenz menschlicher Individuen und deren Interaktionsnetze behauptet werden. Staaten sind gegenüber „Völkern“ und „Nationen“ solche strukturierte Interaktionsnetze. Im Gegensatz zu „Völkern“ und „Nationen“ haben staatliche Strukturen unmittelbaren Einfluss auf die Lebenswirklichkeit der Bewohner des entsprechenden Gebietes (z.B. Infrastrukturbau, rechtliche Rahmenbedingungen, Strafverfolgung bei der Weigerung, Steuern zu zahlen, etc. etc.). Entsprechend war nie die „Nation“ der Ort, wo man soziale Rechte erstreiten konnte, sondern der Territorialstaat. In diesen wurde oft eine nationale Ideologie gezüchtet – immer an der vielfältigen sozial-kulturellen Wirklichkeit vorbei und zu Lasten der Vielfalt. Solche Ideologien muss man bekämpfen, sie gehören aber kaum intrinsisch zur territorialen Organisation des Globus. Entsprechend muss die Tatsache des Züchtens nationaler Ideologie von der Frage getrennt werden, ob es auch künftig Territorialstaaten braucht oder nicht, um Rechtssicherheit, demokratische Teilhabe und soziale Absicherung wenigstens teilweise zu verwirklichen. Eine Diskussion dieser Frage vermisst man im Heft. Andererseits ist das Bestreben der Nummer, den Einsatz für Entscheidungsrechte auf möglichst tiefer Ebene sichtbar zu machen und dadurch zu unterstützen, nur zu begrüssen.

In einem ersten Beitrag liefert Wolf Linder eine „gesellschaftspolitische Perspektive“ auf den schweizerischen Föderalismus. Die Auseinandersetzung ist für eine sozialdemokratische Sichtweise recht ausgeglichen. Er weist darauf hin, dass der Föderalismus nur spezifische Minderheiten zu schützen vermag, was mit dem Territorialitätsprinzip zu tun hat. Der Föderalismus sorgt für einen gewissen Ausgleich zwischen Berg und Tal, nicht aber zwischen oben und unten. Er diskutiert die Frage, ob der Föderalismus eine Innovationsbremse sei. Es sieht die Sache nicht als eindeutig an. Oft werde für die konservative Wirkung des Föderalismus die späte Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz angeführt. Diese habe aber nichts mit dem Föderalismus zu tun, vielmehr mit der direkten Männerdemokratie. Während in anderen Staaten das Frauenstimmrecht durch Parteien eingeführt wurde, die davon in Wahlen zu profitieren glaubten, musste man in der Schweiz die Mehrheit der abstimmenden Männer überzeugen. Aus theoretischer Sicht biete ein dezentralisiertes Mehrebenensystem zwar geringe Chancen für „grosse“ Gesellschaftsreformen. Dafür eröffne es besonders Chancen gradueller Transformation: im Verfahren des „trail und error“ lassen sich unterschiedliche Reformversuche für das gleiche Problem mit geringem Risiko ausprobieren, vergleichen und verbessern. Als Beispiel liefert er die Drogenpolitik. Auf lokaler Ebene wurden Erfahrungen mit dem Vier-Säulen-Modell gemacht, einer Kombination von Prävention, Therapie, Schadensminderung und Kontrolle. Lindner meint, ein entsprechender Versuch auf Bundesebene hätte dem heftigen Druck der UN-Agenturen und dem Widerstand gewisser Parteien weniger widerstehen können.

Lindner stellt fest, dass die Globalisierung eine Herausforderung für den Föderalismus darstelle. Diese führt zu Zentralisierungsschüben. Das übernommen EU-Recht nimmt z.B. keine Rücksicht auf innerstaatlichen Föderalismus – die Kantone haben es zu vollziehen, auch wenn es ehemals kantonale Kompetenzen tangiert. Die neoliberale Hyperglobalisierung schränkt den Handlungsspielraum der Territorialstaaten und damit die Demokratie ein, und damit auch die der untergeordneten Gebietskörperschaften.

Schliesslich ortet Lindner, traditionell sozialdemokratisch, ein Spannungsfeld zwischen Föderalismus und Demokratieprinzip. In Volksabstimmungen könne die Überrepräsentation der Kleinkantone nach wie vor eine starke Rolle spielen. Der EWR-Betritt wäre nur mit 57% der Stimmen möglich geworden. Nun, das Ständemehr wirkt hier wie eine höhere Hürde bei wichtigen Abstimmungen, wie sie in vielen Verfassungen bezüglich Parlamentsentscheiden üblich ist. Der EWR entsprach durchaus der Bedeutung einer neuen Verfassung, was höhere Hürden als 50% rechtfertigt. Man kann der Meinung sein, dass andere Hürden vorziehen wären (z.B. 55% Mehrheit der Frauen und der Männer). Hürden sind aber bei wichtigen Fragen gerechtfertigt, damit wesentliche Entscheidungen nicht Ausfluss momentaner Modenwellen wie der EU-EG-Hysterie Ende 80 er Jahre werden. Zudem mutet es recht merkwürdig an, dass Befürworter des EWR die Demokratie bemühen, die durch den EWR-Beitritt eine massive Einbusse erlitten hätte.

In einem zweiten Beitrag beschreiben Marianne Haueter und Therese Wüthrich, gleichsam als Fallstudie, den Einsatz von Frauen für eine wohnortsnahe Geburtshilfe im Simmental und Saanenland. Sie beschreiben, wie mit Hilfe fragwürdiger Effizienzrechnungen – auch mit rot-grün-urbaner Unterstützung, Spitäler oder Abteilungen in Randregionen geschlossen werden. Begründet werden Schliessungen oft mit fehlenden Fallzahlen, wobei bei 120 bis 130 Geburten im Jahr z.B. in Zweisimmen das Argument mehr als fadenscheinig sei. Das nächstgelegene Spital mit Geburtenabteilung liegt für das Hintere Simmental und das Saanenland nun 50 bis 70 Kilometer weit weg.

Gemäss Haueter und Wüthrich sind am Konflikt um die Schliessung der Geburtshilfeabteilung in Zweisimmen sehr unterschiedliche politische Bündnisse auf kantonaler und regionaler Ebene wirksam: der zentralistischen, technokratischen und betriebswirtschaftlichen Sichtweise der Berner Regierung haben sich auch die linksgrünen Parteien und der Gewerkschaftsverband des öffentlichen Dienstes angeschlossen. Mit Berufung auf formal technokratische und finanzielle Regelungen solle jede politische Kontroverse verhindert werden. Die dafür verantwortlichen AkteurInnen schlachten bereitwillig angeblich heilige Kühe der föderalistischen Demokratie und sind bereit, grundlegende Fragen der gesundheitlichen Grundversorgung von Frauen schlicht zu ignorieren. Auf der anderen Seiter entstand ein breites Bündnis von vor allem jungen Frauen, Parteiangehörigen der SVP, GewerkschafterInnen der regionalen Unia, von regional verankerten bürgerlichen Parteien, Vertretungen von Gemeinden und dem Hebammenverband. Haueter und Wüthrich sind überzeugt, dass solche politischen Konflikte exemplarisch sind für zukünftig zu erwartende weitere Auseinandersetzungen. „Linke und grüne Parteien sind gut beraten, sich genauer damit zu befassen“ (S. 25). Dieser Aufruf wird in Anbetracht des sozialen Hintergrundes der Rot-Grün-Urban-Parteien allerdings wenig nützen. Deren Politik ist nicht Resultat einer Fehlinformation, sondern der realen Intressenlage der mobilen, staatsnahen Mittelschichten, die sie vertreten (gesellschaftspolitisch liberal, politico-wirschaftlich allerdings rechtsliberal, wobei rechtsliberal weniger Demokratie, mehr technokratische Durch“rationalisierung“ und mehr Supranationalismus bedeutet).

Moritz Rosenmund schreibt über den bröckelnden Bildungsföderalismus der Schweiz. Die Bildungspolitik hat sich mit drei hauptsächlichen Veränderungen auseinanderzusetzen. Die Grundsätze des Föderalismus und der Subsidiarität sind mit dem Streben nach vermehrter Zentralisierung konfrontiert, die auf eine hierarchische Strukturierung abzielt. Zweitens hat das Prinzip der Kontrolle des Bildungswesen durch die politisch verfasste Öffentlichkeit auf lokaler und kantonaler Ebene gegenüber bürokratisch-administrativen, managerialen Ordnungsprinzipien an Bedeutung eingebüsst. Drittens stellt sich die Entwicklung als Modernisierung- beziehungsweise Rationalisierungsschub dar, der „Wissenschaftlichkeit“ zu einem vorherrschenden Kriterium der Legitimation bildungspolitischer Entscheidungen erhebt (PISA-Studie). Dies läuft auf eine technokratische Steuerung der Bildung hinaus, die für - auf Effizienz und ökonomische Verwertbarkeit von Bildung - zielende Zwecke leicht instrumentalisiert werden kann.

Philippe Koch beschreibt das emanzipatorische Potential der Gemeindeautonomie. Dieses situiert er im Neuen Munizipalismus, der der Überzeugung ist, dass im lokalen Alltag verankerte Politik wesentlich zu einer Demokratisierung der Gesellschaft beiträgt. Gleichzeit ist die Hinwendung zur lokalen Ebene auch eine Reaktion auf das Versagen „nationalstaatlicher Intuitionen“, die sich als unfähig (oder unwillig?) erwiesen hätten, Probleme, wie etwa die Wohnungsnot, die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern und Leistungen vor Ort zu lösen. Gemäss Koch wird auf Gemeindeebene die lokale Gemeinschaft nicht als unverrückbare, ahistorisch oder ethnisch definierte Entität verstanden. Sie existiere nur als Folge der gemeinsamen Formulierung und Lösung kollektiver Angelegenheiten. Er fasst die Gemeinde als sozialräumliches Gebilde mit unscharfen Grenzen und ohne Aspekte „staatlicher Souveränität“ auf – dies ein Punkt, der bei ihm häufig auftaucht und den er betont: „Im Unterschied zu staatlichen Körperschaften verkörpern Gemeinden eine nichtsouveräne Form des Regierens. Sie können Raum schaffen für politische Praktiken der Selbstregierung, deren Wirkmächtigkeit nicht an die Rechtsgewalt einer staatlich gefassten Souveränität, sondern an die Idee kollektiver Einbindung und Aneignung der Gemeinsamen gebunden ist“. Dabei haben Gemeinden durchaus scharfe territoriale Grenzen und sie haben zudem gesetzlich zugeschriebenen Kompetenzen. Souveränität ist letztlich Entscheidungskompetenz – und ohne solche gibt es auch keine „politische Praktiken der Selbstregierung“. Es ist bei Koch allerdings nicht so klar, was er unter „Souveränität“ versteht.

Lesenswert im Heft sind auch der Beitrag von Kubaczek und Gerald Raunig zur neuen munizipalistischen Bewegung in Spanien (die ähnlich wie Koch versuchen, das Territoriale zu verwischen), sowie Artikel von Panagiotis Sotiris zur „internationalistischen Wiederaneignung der Volkssouveränität von links“. Unter „Volkssouveränität“ versteht er allerdings nicht Entscheidungskompetenzen der stimmberechtigten Bevölkerung eines Staates, sondern „das kollektive politische Vermögen der subalternen sozialen Klassen, Prozesse sozialer Transformation in Gang zu setzen, aber auch Solidarität mit Bewegungen herzustellen, die über die Grenzen des Nationalstaates hinausreichen. Ein Prozess also, der die Möglichkeit bietet für eine emanzipatorische Überwindung des Nationalstaates“. Wie nach der „Überwindung des Nationalstaates“ die Welt organisiert sein wird, bleibt unklar. Etwa als „Prozesse sozialer Transformation“ – ohne rechtliche Absicherung von Menschenrechten, ohne rechtlich saubere demokratische Organisation von Entscheidungsprozessen?

Widerspruch 71, Beiträge zu sozialistischer Politik, 37. Jg. / 1. Halbjahr 2018, www.widerspruch.ch, Postfach, 8031 Zürich.


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