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Dikatur der Finanzmärkte, EU-Krise und Widerstand

Die Nummer 61 des Widerspruchs liefert einige interessante, kritische Analysen der neuesten Entwicklungen in der EU. Klaus Dräger beschreibt die EU-Integration als eine Realisierung gewisser Hayekscher Ideen: Für Friedrich von Hayek, einem der geistigen Väter des Neoliberalismus, gründeten die Probleme Europas im Aufstieg der Volkssouveränität und demokratischer Kontrolle über die Wirschaftspolitik. Seine Lösung, die er 1939 veröffentlichte, war eine Europäische Föderation, welche den demoratischen ‚Weg in die Knechtschaft’ versperren würde, indem die europäischen Staaten vertragliche Verpflichtungen zur Beendigung öffentlicher demokratischer Kontrolle über die Wirtschafts- und Sozialpolitik eingehen. Unter internationalem Vertragsrecht könnten so die normalen parlamentarischen Gesetze und Politiken einzelner Staaten unterlaufen werden. So kann ein Vertrag, der innerstaatliche Angelegenheiten betrifft, demokratische Politikgestaltung blockieren. In der Tat verordnen die Bestimmungen des EG-Vertrags bis hin zum geltenden Vertrag von Lissabon regelgebundene Verfahren, um vor allem die Ökonomie vor Eingriffen des demokratischen Souveräns der Mitgliedstaaten zu bewahren. Die EU-Verträge bilden ein Korsett mit Verfassungsrang. Der neoliberale Bau der EU gelang durch die Einbindung der Sozialdemokratie und williger Teil der Gewerkschaften. Die neuesten Regeln zum raschen Abbau der öffentlichen Gesamtverschuldung unter 60 % des BIP wirken pro-zyklisch und verschärfen die Krise. Jede auch noch so moderate sozial-liberale Politik auf der Ebene der Mitgliestaaten wird im Prinzip unmöglich gemacht.

Gregor Kritidis beschreibt unter anderem die Folgen der Ersetzung von Wechselkursflexibilität durch Lohnflexibilität in Griechenland. Das ohnehin bestehende Handelsbilanzdefizit wurde nach der Einführung des Euro durch die nun günstigen Kredite verstärkt. Die niedrigen Löhne und durch Staatskredit finanzierte Grossprojekte machten Griechenland zu einem idealen Ziel von Kapitalexport. Gleichzeitig sank das Steueraufkommen der immer weniger konkurrenzfähigen Exportindustrien. Zum Kapitalexport nach Griechenland gehören vor allem auch Rüstungsgüter (4 % des BIP). Anscheinend haben die französische und die deutsche Regierung die finanziellen Zusagen der EU auch davon abhängig gemacht, dass die griechische Regierung die laufenden Rüstungsauftraäg nicht storniert. Der Artikel ist vor allem auch interessant als eine griechische Darstellung des Widerstands zur EU-Sparpolitik.

Giorgos Kassamatis, emeritierter Verfassungsrechtler der Universität Athen, beschreibt ausführlich, wie die EU durch ihr Spardiktat gegen Griechenland gegen die demokratische Rechtskultur verstösst. „Die Kreditabkommen Griechenlands mit den Ländern der Euro-Zone und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) sowie die ersten legislatorischen Mitteln, mit denen die Massnahmen für die Bedienung der Kredite durchgesetzt werden sollten, lassen ein methodisch geplantes Vorgehen beim rechtswidrigen Abschluss internationaler Verträge erkennen“ (S. 49). Das Vertragswerk wurde in Griechelands implementiert, ohne den von der Verfassung vorgeschriebenen Weg zur Ratifikation einzuhalten. Die Regierung informierte das Parlament darüber, dass Verträge abgschlossen wurden und diese ab Datum der Unterschrift gültig sind. Weder wurde ihr Wortlaut veröffentlicht, noch wurden die Vertragstexte an die Abgeordneten verteilt. Eine Ratifizierung mit der in der Verfassung geforderten 3/5-Mehrheit erfolgte nicht. Die Abkommen verletzen aber auch grundlegende Prinzipien und Rechte. Kassamatis kommt nach ausführliche Darlegung zum Schluss, dass der Vertrag völkerrechtswidrig, verfassungswidrig und EU-rechtswidrig ist, insbesonders auch durch die teilweise oder völlige Abschaffung von Rechten von Arbeitnehmern und Rentner, die gesetzlich verankert sind.

Hans-Jürgen Bieling, Professor für Politik und Wirtschaft an der Universität Tübingen, legt dar, wie das EG-Binnenmarktprojekt und die Wirtschafts- und Währungsunion einen Bruch mit der alt-konstitutionalistischen Logik einer sukzessiv erweiterten Volkssouveränität bringt. Durch die wiederholt reformierten vertrags- und verfassungsrechtlichen Grundlagen wird die Gestaltungs- und Definitionsmacht des transnationalen Kapitals erweitert und werden die demokratischen Kontroll- und Einflussmöglichketien beschnitten. Es liegt ein anti-demokratisch ausgerichteter Prozess der Verfassungsbildung vor, der durch gegenläufige Entwicklungen wie z.B. den erweiterten Kompetenzen des EU-Parelaments nur punktuell abgeschwächt worden ist (S. 61). Die EU ist in mancher Hinsicht ein System weitgehend autonomer Regierungstätigkeit, die nur sehr selektiv an zivilgesellschaftliche Netzwerke zurückgebunden bleibt. Sie privilegiert eindeutig transnationale Konzerne, Wirtschaftsverbände sowie diesen nahestehende Wissenschaftler und Journalisten. Da viele zivilgesellschaftliche Einflusskanäle zugleich wenig transparent und demokratiepolitisch fragwürdig sind, scheint es angebracht, das EU-Politgefüge als „Kumulation informeller Herrschaft“ zu charakterisieren.

Einer eingehenderen Analyse bedürfte der Umstand, dass alle EU-kritischen Autoren die Intergration als solche befürworten, obwohl die kritisierten Entwicklungen kaum Unfall, sondern Ausdruck kontinentaler Strukturen sind. Sie bevorzugen - auch wenn sie formal demokratischer organisiert wären - strukturell Multis und Wirtchaftsverbände zu lasten aller anderen Akteure und der Bevölkerungen. Die USA können diesbezüglich Anschauungsmaterial genug sein. Der Sehnsucht nach menschenfeindlichen Grossstrukturen, die die Individuen erst recht Prozessen aussetzt, die sie kaum beeinflussen können, wäre vielleicht mal eine eigene Nummer des Widerspruchs zu widmen.

Widerspruch 61 (31. Jg/2. Halbjahr 2011), Diktatur der Finanzmärkte, EU-Krise und Widerstand, Beiträge zu sozialistischer Politik, Zürich.


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