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Projekt Europa: eine kritische Geschichte

Kiran Klaus Patel, Professor für Europäische und Globale Geschichte und Inhaber des Jean-Monnet-Lehrstuhls für Geschichte an der Universität Maastricht, legt – angesichts dieser Titel – eine bemerkenswert kritische Geschichte der EU vor, wobei seine Darlegungen durch die vielen Sowohl-Als-Auchs – offensichtlich Ausfluss des Stebens nach Ausgewogenheit – oft eher unpräzise sind. Er möchte jedenfalls nicht unkritisch das Bild der EU, das diese gerne von sich selber zeichnet, übernehmen: die EU stellt sich gerne dar als Inbegriff für «Friedensstiftung, Wirtschaftswachstum, eine an Werten orientierte Politik sowie ein zusammenwachsendes Europa.» Zum anderen verwahrt Patel sich auch gegen die Darstellung der EU als bürokratisches Monster, das Geld verschwendet, nationale Souveränität zersetzt und im besten Fall einfach überflüssig ist, im schlimmsten jedoch brandgefährlich. Er möchte die vielen Mythen, die sich um die Geschichte der EU-Integration ranken auf einen kritischen Prüfstand stellen, aber ebenso jene Vorwürfe, mit denen sich die EU oft konfrontiert sieht. Es geht ihm um eine kritische Geschichte, die sich fragt, wie und warum die EU wirklich entstand und was sie leistete – jenseits des Wunschbilds politischer Sonntagsreden und billiger Polemik.

Interessant ist seine Darstellung der Entstehung der EG/EU. Von späterer Warte aus stellt sich vieles als kontinuierliche Entwicklung aus einer Gründungsakte heraus dar – dies ist aber laut Patel eine Täuschung. In den 15 Jahren nach dem Ende des zweiten Weltkrieges gab es teilweise konkurrierende internationale Organisationen, besonders in Westeuropa. Bereits in den 1950er Jahren erreichten Internationalisierung und Globalisierung ein solches Ausmass, dass die westeuropäischen Staaten keine abgeschlossenen Einheiten mehr bildeten (wenn sie das je waren) – sie waren untereinander und global stark vernetzt. In der in der kurzen Phase zwischen 1945 und 1948 wurden global rund hundert internationale Organisation gegründet. Bis 1960 schwoll die Gesamtzahl internationaler Organisationen weltweit von 832 auf 1255 an. Die EG war eine unter viele, auch unter jenen, die in Westeuropa gegründet wurden. Sie kümmerte sich in erster Linie um Wirtschaftsprobleme, aber auch da war sie nicht allein. Mit diesen befassten sich mehr als 20 weitere Organisationen, die in den ersten 15 Jahren nach Ende des Zweiten Weltkreise in Westeuropa Wurzeln schlugen. Zu den vergleichswese bekannten, wie dem Europarat und der OECD, gesellt sich viele weitere wie etwa die Wirtschaftskommission für Europa (UNECE), die EFTA oder die Europäische Zahlungsunion. Im Vergleich zu vielen anderen Initiativen auf internationaler Ebene umfasste die EG auffallend wenige Mitgliedsstaaten. Sie war Zwerg, nicht Riese.

Angesichts dieser Tatsache stellt sich die Frage, wieso ausgerechnet dieser Organisation sich zu einem zentralen Faktor in Mittel-West-Europa gemausert hat – mit supranationalem Charakter und heute 27 Mitgliedstaaten. Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Unterschiedlichste Faktoren spielten eine Rolle. Patel nennt drei von ihm ausgesehen wesentliche: Erstens erwies ich der aus der EWG kommende Fokus der Gemeinschaft auf eine Zollunion und einen Gemeinsamen Markt als wichtig. Von dieser ökonomischen Logik aus gab es viele funktionale Verbindungen zu anderen Politikbereichen. Bereits in den 1950er Jahre erkannte man das und sprach von «Spill over»-Effekten von einem Politikfeld zum anderen. So hatte die Errichtung des Gemeinsamen Marktes etwas Auswirkungen auf so verschiedene Gebiete wie Hygienestandards, Verbraucherschutz, berufliche Ausbildung oder Sozialpolitik. Der Einbezug anderer Politikfelder ergab sich allerdings nicht automatisch, sondern hing davon ab, ob spezifische Interessen sich die entsprechenden Probleme für eine entsprechende Politik zu Nutze machten. Zweitens kam bei der EG-EU-Integration der Aspekte des zwingenden Rechtes hinzu. Das langsame Entstehen einer eigenen Rechtskultur mit hohem Verbindlichkeitsgrad gab der Gemeinschaft einen grossen Wachstumsvorteil im Vergleich zu anderen westeuropäischen Organisationen. Letztere waren zumeist auf die freiwillige Kooperation der Mitgliedstaaten angewiesen, eher breit gehaltene Empfehlungen in Landesrecht zu überführen. Zudem konnten Bürgerinnen und Bürger der Gemeinschaft unter gewissen Bedingungen EG-Recht selbst juristisch durchsetzen, was in Organisationen wie der OECD oder dem Europarat nicht möglich war. Ganz allgemein erwies sich der EG-Gerichtshof (EuGH) immer wieder als treibender Faktor, den Kompetenzbereich der EG zu vergrössern, indem er das marktbezogene Mandat der Verträge weit auslegte (z.B. das bekannte Cassis de Dijon-Urteil). Drittens verfügte die EU über grössere finanzielle Ressourcen als die anderen westeuropäischen Organisationen. Das Budget der OECD zum Beispiel erlaubte kaum mehr als die Finanzierung des Sekretariats und eigener statistischer Forschungen. Ähnlich verhielt es sich beim Europarat, dessen Geschichte voll von Klagen über seine unzureichende finanzielle Ausstattung ist. Die EWG und Euratom verfügten demgegenüber über eigene Einnahmen, was sie gegenüber den Mitgliedstaaten unabhängiger machten, zumal die Entscheidung über die Verfügung des Geldes grösstenteils bei der EG-Kommission lag. Gemeinsam halfen diese drei Faktoren der EG, mit der Zeit zum zentralen Forum unter den westeuropäischen Organisationen zu werden. Ein eigenes Kapitel widmet Patel dem Thema «Frieden und Sicherheit». Gemäss Patel profitierte der EG-Integrationsprozess zunächst weit mehr von der europäischen Nachkriegs-Friedensordnung, als dass er diese selbst wesentlich geprägt hätte. Gemäss Patel ist es zugleich wichtig, zwischen verschiedenen Friedensbegriffen zu unterscheiden, vor allem zwischen drei Dimensionen: Aussöhnung zwischen den Mitgliedstaaten, den Beitrag der EG zum Frieden in einer hauptsächlich durch den Kalten Krieg definierten Welt, sowie drittens den sozialen Frieden in den Mitgliedstaaten. In Sicherheitsfragen spielt die EG erst spät und erst noch eine ziemlich nachrangige Rolle, während in dieser Hinsicht die jeweilige Aussenpolitik der Mitgliedstaaten, besonders der ehemaligen Grossmächte ausschlaggebend blieb. Zudem standen die «Sechs» keineswegs für «Europa» und nicht einmal für Westeuropa, sondern lediglich für ein Kleinwesteuropa. Dies reduzierte ihren potenziellen Beitrag zur Sicherung des Friedens deutlich. Trotzdem wurde der Friedenspathos schon früh zelebriert, als z.B. 1962 Charles de Gaulle und Konrad Adenauer gemeinsam an der berühmt gewordenen Friedensmesse in der gotischen Kathedrale von Reims teilnahmen. De Gaulle verwies auf die «grosse europäische und globale Aufgabe, die Deutsche und Franzosen gemeinsam vollenden müssen». 22 Jahre später traten François Mitterand und Helmut Kohl bewusst in die Fusstapfen ihrer Vorgänger, als sie sich auf dem ehemaligen Schlachtfeld von Verdun die Hände gaben. «Die EG war demnach Europa, und Europa stand für Frieden. Bedenkt man einerseits, wie wenig die EG für Friedensfragen zuständig war, und andererseits die breite Spur der Gewalt, die sich durch die Geschichte der Alten Welt und ihrer Verhältnisse zu anderen Teilen des Globus zieht, zeigt sich wie gewagt diese doppelte Behauptung war. Wirkmächtig konnte dieses Narrativ nur werden, weil sich niemand für die Details und die konkreten Ergebnisse des Einigungsprozesses interessierte». Patel schreibt dem EG-Integrationsprozess insofern eine gewisse friedensstiftende Rolle zu, als sich bei den an der EG-Entwicklung beteiligten «Eliten» eine Kultur des Kompromisses entwickelte.

Ein weiteres Kapitel widmet Patel dem Beitrag der EG/EU zum Wirtschaftswachstum und Wohlstand in den Mitgliedstaaten. Der Spiegel befand dazu schon 1969, dass die Frage nach diesem Beitrag «kaum zu beantworten» sei. Gemäss Patel sind die Befunde zu den ökonomischen Effekten der EG erstaunlich spärlich. Sie werden in der politikhistorischen Forschung zum Einigungsprozess weitgehend ignoriert. «Das an sich ist bereits aufschlussreich – bedenkt man, wie sehr Integration stets über ihre Wohlstandeffekte gerechtfertigt wurde». Die Entwicklung der frühen EG fällt mit den sogenannten glorreichen Dreissig zusammen, der rasanten Wirtschaftsentwicklung in den dreissig Jahren nach dem zweiten Weltkrieg. Ob diese rasanten Wirtschaftsentwicklung jedoch der EG-Integration zuzuschreiben ist, ist allerdings fraglich: Zwischen 1950 und 1973 wuchs das Bruttoinlandprodukt in der Bundesrepublik Deutschland und in Italien durchschnittlich pro Kopf und Jahre jeweils um 5.0 Prozent. In Frankreich lag der entsprechende Werte bei 4.0, in Belgien bei 3.5 und in den Niederlanden bei 3.4 Prozent. Dies muss mit dem Wachstum in Ländern ausserhalb der EG verglichen werden: In Österreich, das in dem Zeitraum kein EG-Mitglied war, stieg das Bruttoinlandprodukt gemittelt um 4.9 Prozent; im politisch instabilen Griechenland um ganze 6.2 Prozent. Spanien und Portugal, damals Diktaturen, kamen auf 5.8 bzw. 5.7 Prozente. Bulgarien stand bei 5.2 Prozent, Jugoslawien bei 4.4 Prozente und die Sowjetunion immerhin bei 3.4 Prozente.

Ein weiteres Kapitel widmet Patel dem Thema den «Werten und Normen». Anlässlich der Präambel des 2004 parafierten – aber schliesslich an den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten – Verfassungsvertrages entspann sich ein heftiger Streit über die Werte und Normen der EU. Kontrovers war etwa, ob es einen Gottesbezug geben solle, wie unter anderem die Regierungen von Polen, Irland und Italien sowie Kirchenvertreter forderten. Frankreich lehnte dies seiner laizistischen Tradition folgend ab, aber auch andere Stimmen äusserten schwerwiegende Bedenken. So beliess man es dabei, in der Präambel recht allgemein auf die «kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas» zu verweisen und jene Werte, «die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft». An dieser Aufzählung wurde lange gefeilscht. Versuche etwas die «Geltung des Glaubens», die «Renaissance» oder «das Christentum» in sie aufzunehmen, erwiesen sich als nicht mehrheitsfähig. Die Kontroverse verweist gemäss Patel darauf, dass die häufig bemühte Formel von der EU als Wertegemeinschaft den Blick auf all jene Konflikte verdeckt, die sich seit der Nachkriegszeit über solche Fragen entfalteten. Die EG definierter sich keineswegs seit ihren Anfängen in den 1950er Jahren explizit als Wertegemeinschaft und auch in Folgezeit tat sie sich häufig schwer, ihre Werte und Normen zu bestimmen, und mehr noch, zu ihnen zu stehen.

Kiran Klaus Patel, Projekt Europa: eine kritische Geschichte, München: C.H.Beck.


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