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Wer hat Angst vor Willhelm Tell?

Der in Oxford lehrende Historiker Oliver Zimmer hat ein lesenswertes Essay zum Thema Demokratie und Globalisierung geschrieben. Manche Referenzen sind etwas literarisch – der Einfluss von Belletristik-Historikern auf den Gang der Geschichte und die Bildung von Ideologien wird dadurch wohl überschätzt.

Zwei Eingangszitate beleuchten die Stossrichtung des Essays bestens: «Was wir gern vergessen: Unser gelehrtes Reden darüber, wann ‘das Volk’ beziehungsweise ‘die Mehrheit’ das Vertrauen erhalten soll (von uns?), über Fragen des Rechts zu entscheiden, hat etwas von dem Hochmut eines John Stuart Mill, wie er sich, von oben herab, Gedanken macht zum Selbstbestimmungsrecht der Eingeborenen in Indien» (Jeremy Waldron, 1999). Und ein Zitat von George Orwell «Führt man sich den servilen oder prahlerischen Mist zu Gemüte, der über Stalin, die Rote Armee etc. von ziemlich intelligenten und vernünftigen Leuten geschrieben wird, wird man gewahr, dass sich hier eine Art von Dislokation vollzogen hat. In Gesellschaften wie der unsrigen ist es für einen als intellektuell geltenden Menschen nämlich ungewöhnlich, eine starke Bindung zu seinem Land zu empfinden. Die öffentliche Meinung – beziehungsweise jener Teil der öffentlichen Meinung, dessen sich der Intellektuell bewusst ist - wird ihm eine solche Haltung verbieten. Die meisten Leute aus seiner Umgebung sind skeptisch oder unzufrieden, und so ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass er aus Nachahmungssucht oder Feigheit dieselbe Haltung einnimmt: er wird jener Form des Nationalismus abschwören, die ihm am nächsten liegt, ohne dadurch einer genuin internationalistischen Haltung auch nur ein Stücklein näher gekommen zu sein. Er hat immer noch das Bedürfnis nach einem Vaterland, und so findet er es irgendwo im Ausland. Einmal fündig geworden, wird er sich in exakt jenen Emotionen suhlen, von denen er sich emanzipiert zu haben glaubt» (Notes On Nationalism, 1945, http://seas3.elte.hu/coursematerial/LojkoMiklos/George_Orwell,_Notes_on_Nationalism_(1945).pdf).

Zum Titel «Wer hat Angst vor Wilhelm Tell» meint Zimmer, das mit Tell sei nur halbwegs ironisch gemeint. «Die ironischen fünfzig Prozent beziehen sich auf den ehemaligen Volkshelden als historische Figur». Zimmer hat also keineswegs die Absicht, die Diskussion über die historische Existenz Tells aufs Tapet zu bringen. Gänzlich unironische gemeint sei hingegen die Frage nach der Angst vor Tell: «Woher rühren die Angst vor demokratischer Mitbestimmung und die damit einhergehende, heute wieder ganz unverhohlen geäusserte Sympathie für technokratische und autoritäre Ansätze in der Politik?». Bei der Frage gehe es also weder um Tell als historische Figur noch um die Schweiz oder Grossbritannien noch um links oder rechts. Es gehe vielmehr um das alte Thema der politischen Herrschaft.

Die Antwort auf die Frage hängt mit der Globalisierung zusammen, die zu einem verstärkten Primat der Wirtschaft über die demokratische Politik führt. Dies führt etwa dazu, dass die globale Wirtschaftsmacht China – mit tatkräftiger Unterstützung westlicher Staats- und Wirtschaftsführer – den demokratisch verfassten Staat in seine Schranken weist, wie das Verhalten der westlichen Regierungen in Bezug auf Empfänge des Dalai Lama zeigt. Die Globalisierung manifestiert sich auch in einem Primat des globalen Raums vor den konkreten Orten: dem Vorrang der mobilen «Eliten» vor den lokal verankerten Bevölkerungen. Erstere nutzen die von der Globalisierung fortlaufend produzierten Krisen fleissig als Legitimation für den Ruf nach mehr «globalen Lösungen» im Bereich der Wirtschaft, des Rechts, der Umwelt-, Sicherheits- und Gesundheitspolitik, wodurch die Tendenz zu neuen Klumpenrisiken verstärkt wird. Demokratie als selbstbewusste Praxis von Bürgerinnen und Bürgern wird dadurch überall gefährdet. An die Stelle demokratischer Teilnahme tritt zunehmend eine ihrer Substanz entleerte Formaldemokratie, die er DINO (Democracy in Name Only, Demokratie nur dem Namen nach) tauft. Symptomatisch diesbezüglich ist die EU. Zimmer zitiert Hans Magnus Enzensberger: «Man schätzt, dass über 80% aller Gesetze nicht mehr von den Parlamenten, sondern von den Brüsseler Behörden beschlossen werden. Genau weiss das niemand. Streng genommen handelt es sich dabei nicht, wie im klassischen Rechtsstaat, um Gesetze, sondern um Direktiven, Richtlinien und Vorschriften. Das entspricht durchaus dem autoritären Duktus, den die Brüsseler Behörden bevorzugen».

Zimmer verordnet die damit einhergehende Ideologie der «Eliten» als eine Form von Liberalismus, der mit dem klassischen politischen Liberalismus nichts mehr zu tun habe. Der neue Liberalismus sei eher eine Art universalistische Offenbarungsreligion. Dagegen hätte es sich beim klassischen Liberalismus um eine auf die Lösung praktischer Probleme ausgerichtete politische Doktrin gehandelt, deren Ziel es war, die Sicherung der für die Ausübung der politischen Freiheit nötigen Bedingungen zu schaffen. Zu diesen Grundbedingungen gehörten zwingend auch die Demokratie. Politischer Liberalismus und Demokratie bildeten – nach einem schwierigen Start, da die Liberalen zu Beginn möglichst wenig Demokratie wollten – eine Vernunftehe.

Der neue Liberalismus ist das Weltbild gut ausgebildeter Schichten. Deren Vertreter wurden auch als WEIRDS bezeichnet (Western, Educated, Industrial, Rich and Developed - westlich, gebildet, industriell, reich und entwickelt). Die WEIRDS vertreten Positionen, die in der allgemeinen Bevölkerung nur sehr bedingt geteilt werden – und gleichzeitig dominieren sie dank ihrer Position in den Medien, Universitäten und anderen Kulturinstitutionen die veröffentlichte Meinung. Der Hang zu technokratischen Lösungen vermählt sich mit einem auf das Individuum und seine Rechte zentrierten Supranationalismus.

Gemäss Zimmer lässt sich der neue Liberalismus anhand von vier weltanschaulichen Leitlinien genauer charakterisieren:

Erstens: radikaler Individualismus. Er beinhaltet den Glauben, dass man seine Position in der gesellschaftliche Statusordnung einzig und allein der eigenen Leistung beziehungsweise dem eigenen Versagen zuzuschreiben habe. Nicht soziale oder kulturelle Zugehörigkeit, sondern angeblich durch individuell Fähigkeiten und Leistung erworbenes Verdienst entscheiden gemäss dieser Auffassung über Lebenschancen. Der «Nationalstaat» wird als Überbleibsel einer zu überwindenden Vormoderne dargestellt, der aufgrund seiner Grenzziehungen gegen aussen als altbacken gilt, als Hindernis auf dem Weg der persönlichen Selbstverwirklichung.

Zweitens: radikale Verrechtlichung der Politik. Die Vertreter des neuen Liberalismus befürworten die Verrechtlichung der politischen, bislang von demokratischen Aushandlungsprozessen geprägten gesellschaftlichen Praxis. Dadurch verringert sich Bedeutung der Demokratie in ihren verschiedenen Spielarten, inklusive der parlamentarisch-repräsentativen.

Drittens: radikaler Supranationalismus. Der «Nationalstaat» wird als gefährliches Relikt aus dem Zeitalter des Nationalismus betrachte. Die Entwicklung hin zur Globalen Führung (global governance) gilt den neuen Liberalen als alternativlos – als Ausdruck eines naturhaften Vorgangs, in dem sich eine höhere Vernunft offenbart. Wer die supranationale Weltanschauung infrage stellt, muss damit rechnen, als Populist oder Nationalist beschimpft zu werden. Politische Gegner werden oft nicht als Personen mit anderen Ansichten wahrgenommen, sondern als moralische Mängelwesen. Während der klassische Liberalismus gemäss Zimmer politische Entscheidungen als Produkt des Streits unterschiedlicher Meinungen betrachtete, entpuppt sich der neue Liberalismus als autoritäre Ideologie, da sich diese als alternativlos betrachtet.

Viertens: radikaler Elitismus. Der neue Liberalismus betreibt eine neue Art von sozialer Ausgrenzung. Beschimpfung der übrigen Bevölkerungen und eigenes moralisches Sich-Aufplustern sind die zwei Seiten der Medaille. Das Verhalten dient dazu, neue meritokratische Hierarchien und Dynastien zu errichten.

Zimmer fasst zusammen: Als Säulen des neuen Liberalismus wirken die im 19. Jahrhundert zur Blüte gebrachten, von der Aufklärung inspirierten Geschichtsphilosophien. Es handelt sich um moderne Mythen. Diesen gemäss lassen sich historische Vorgänge in eine universale Entwicklungslogik eingliedern. Einheitlichkeit gilt als progressiv, Vielfalt als Ausdruck eines primitiven Stadiums menschlicher Entwicklung. Daraus entsteht in dieser Ideologie eine krude Spaltung in Anhänger und Gegner des «Fortschritts», ein Dualismus von Zivilisation und Barbarei, die u.a. für Anhänger dieser Ideologie den europäischen Imperialismus legitimierte. In der heutigen Fortsetzung dieser Ideologie manifestiert sich Fortschritt u.a. in der Überwindung des «Nationalstaats» durch supranationale Integration. Im Gegensatz zum Imperialismus des 19. Und frühen 20. Jahrhunderts, der die vermeintlichen zu zivilisierenden Wilden in Afrika, Indien oder Asien suchte, residieren die kulturell Minderbemittelten heute mitten in der westlichen Welt: wer z.B. die EU kritisiert oder gar ablehnt, dokumentiert seine zivilisatorische Zurückgebliebenheit.

Zimmer befürwortet eine Einstellung, die geschichtsphilosophischen Versuchungen nach allen Seiten hin widersteht: Jede Vermischung von Mythos und Geschichte muss zurückgewiesen werden. Die «progressiven» nach «Europa» oder «der Welt» hinführende Mythenerzählungen sind genauso abzulehnen, wie die nationalistischen, welche die Menschen im «nationalen Reduit» verewigen wollen. Zimmer äussert sich auch zum Rahmenvertrag und stellt Verbindungen zum Brexit her. Diesen deutet er als Ausdruck der sozialen Spaltung in Grossbritannien, die teilweise hausgemacht ist, andererseits aber durch die EU befeuert wurde. Durch deren Politik der Privilegierung mobiler «Eliten» gegenüber der mehrheitlich sesshaften Bevölkerung ausserhalb der urbanen Dienstleistungszentren fördert die EU die soziale Spaltung, besonders durch die Personenfreizügigkeit. Diese wirkte besonders in einem Land wie Grossbritannien, wo mächtige Teil der Wirtschaft den Import billiger Arbeitskräfte zum Geschäftsmodell erhoben hatten. So konnte man sich um die Investitionen in die Ausbildung der Leute drücken. Ähnliche Tendenzen deuten sich in der Schweiz zumindest an, wobei auch hier die Beziehung zur EU eine entscheidende Rolle spielt. Das wurde in den letzten Jahren deutlich, als die EU den Druck und die Drohgebärden gegenüber der Schweiz systematisch erhöhte, um die Schweiz stärker ins Rechts- und Regelsystem der EU einzubinden. Was auf dem Spiel steht , ist gemäss Zimmer jener Gesellschafts- und Sozialvertrag, dem die Schweiz neben ihrem Wohlstand weitgehend auch ihre soziale Kohäsion verdankt. Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, machte gemäss Zimmer die entsprechende Grosswetterlage deutlich: das durch das Freizügigkeitsabkommen mit der EU geförderte Lohndumping wird von Schweizer Wirtschaftskreisen unterstützt, darunter auch vom «Wirtschaftsflügel» der SVP, der die EU sonst politisch bekämpft. Die EU-Freizügigkeit ermöglicht es den wirtschaftsliberalen Gruppierungen, sich vom Projekt der nachhaltigen Produktivitätsförderung vor Ort zu verabschieden. Laut Lampart funktioniert der Gesellschaftsvertrag in der Schweiz vorab dank der Gesamtarbeitsverträge, die durch das Rahmenabkommen gefährdet gewesen wären. Dabei ist die Ursache des Problems nicht unbedingt die EU-Freizügigkeit an sich, sondern bei jenen wirtschaftsliberalen Kreisen zu finden, die sich um ihre soziale Verantwortung drücken.

Oliver Zimmer (2020), Wer hat Angst vor Tell? Unzeitgemässes zur Demokratie, Echtzeit Verlag, Basel.


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