Übersicht Buchbesprechungen Der letzte Souverän oder das Ende der FreiheitMit einem Seitenblick auf Francis Fukuyamas viel zitiertes Werk "The End of History and the Last Man" hat Johannes B. Kunz, ein zurzeit in der Schweizer UNO-Mission in New York tätiger Diplomat, sein umfangreiches Buch "Der letzte Souverän oder das Ende der Freiheit" genannt. Wie man erfahren konnte, hat Kunz' im NZZ-Verlag erschienenes Buch in den Kreisen der Schweizer Diplomatie Wellen geworfen, da es eher unübliche Thesen vertritt. Johannes Kunz versichert denn auch am Anfang des Buches, dass sein Werk nicht als "offizielle Haltung der Schweiz zu verstehen sei".
Johannes Kunz setzt sich für die staatliche Souveränität ein, die nach ihm als einzige geeignet ist, Freiheit, Recht und den Wohlstand der Bürger zu wahren. Er wendet sich mit dieser These gegen die Meinung, Souveränitätsverzicht zugunsten überstaatlicher Organisationen sei ein geeignetes Mittel zur Mehrung von Frieden, Freiheit, Recht und Wohlstand. Er weist darauf hin, dass diese Sicht von den modernen internationalen Akteuren vertreten wird, verkörpert u.a. durch die Europäische Union, die UNO, aber auch humanitäre Organisationen, die in Tat und Wahrheit die Tendenz haben, den Bürger zu entmündigen und die Interessen einer kleinen internationalen "Elite" zu fördern. Kunz stützt seine These auf seine eigenen langjährigen Erfahrungen und Beobachtungen, die er im Rahmen seiner diplomatischen Tätigkeit sammeln konnte (Afrika, Ostasien, West- und Osteuropa, UNO). Er erweist sich aber auch als profunder Kenner der politologischen Weltliteratur - er zitiert den im 16. Jahrhundert wirkenden französichen politischen Denker Jean Bodin, Nicolo Machiavelli, Marco Polo, Noam Chomski, Francis Fukuyama, Alfred Grosser, Hannah Arendt, aber auch Immanuel Kant und Jeremias Gotthelf, sowie eine eindrückliche Zahl von modernen Staatsmännern, Denkern, Politologen und Politikern.
Kunz beginnt seine Darstellung mit einer eingehenden Diskussion des Souveränitatsbegriffs bei Bodin im 16. Jh. im Vorfeld des Absolutismus ("Souveränität ist die absolute und dauernde Gewalt eines Staates. Souveränität bedeutet höchste Befehlsgewalt". Von Bodin stammt auch der bedeutungsschwere Satz, dass "Nur wer die Macht hat, Gesetze zu erlassen, kann Währungsfragen entscheiden"). Anschliessend wendet er sich Rousseau zu: ("Die Souveränität ist nur die Ausübung des allgemeinen Willens und kann nie veräussert werden. Der Souverän, der immer ein kollektives Wesen ist, kann nur durch sich selbst vertreten sein; die Macht kann sehr wohl übertragen werden, nicht aber der Wille"). Zuletzt erwähnt er die „heute noch geltende juristische“ Definition ("Der Staat als Subjekt des internationale Rechts sollte folgende Eigenschaften besitzen: eine ständige Bevölkerung, eine definiertes Staatsgebiet, eine Regierung, und die Fähigkeit, in Beziehung mit anderen Staaten zu treten"). Wie vor ihm der Staatsrechtler Max Imboden, weist Kunz aber auch darauf hin, dass staatsrechtliche Begriffe wie "Staat" und "Souveränität" nicht nur abstrakte juristische Definitionen sind, sondern tief in der menschlichen Psyche gründen. Kunz erwähnt insbesondere die Tatsache, dass in der keltischen Mythologie die "Lady Sovereignty" eine Göttin war, die der angehende König gewinnen musste.
Für Kunz ist die Souveränität nicht unbedingt an Demokratie gebunden, muss aber immer einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten entsprechen. Ihre absoluteste Verwirklichung erreicht die Souveränität aber dort, wo sie "wie in der Schweiz, im Staatsvolk selber liegt, und wo dieses auch das Bewusstsein entwickelt hat, der Souverän zu sein".
Dem souveränen Staatsvolk stellt Kunz die "Akteure der gewollten Zukunft" entgegen, die einerseits als Grossmächte eine reine Machtpolitik betreiben, sich anderseits aber auch im Rahmen der multilateralen Diplomatie innerhalb von internationalen Organisationen eine oligarchische Stellung geschaffen haben und unabhängig von ihren Ursprungsland agieren können. Weiter erwähnt Kunz den "humanitär-interventionistischen Komplex" (von ihm so definiert in Anlehnung an den bekannten Begriff des "militärisch-politischen Komplexes" in den USA), der auf Grund an sich unbestrittener moralischer Grundsätze, versucht "den Bevölkerungen ganzer Kontinente fremde Vorstellungen über ihre Zukunft aufzuzwingen". Johannes Kunz weist darauf hin, dass heute die "Anzahl des von der internationalen Gemeinschaft in Afrika eingesetzten Personals die ständige Militär- und Verwaltungspräsenz der europäischen Mächte zur Kolonialzeit übersteigt". Er erinnert auch an die vielfachen militärischen Interventionen mit verheerenden Konsequenzen, die in den vergangenen Jahrzehnten von der "internationalen Gemeinschaft" im Namen edler Grundsätze durchgeführt worden sind.
In den Augen von Kunz stellt auch die europäische Integration "einen Angriff auf die staatliche Souveränität" dar, da sie das System souveräner Staaten, das seit dem westfälischen Frieden in Europa besteht, durch ein "vom karolingischen Erbe abgeleitetes neumittelalterliches Reich zu ersetzen sucht", in welchem der Souverän zwar "ideell besteht", die Macht aber faktisch durch eine "weitverzweigte Kaste internationaler Verwalter" ausgeübt wird, "die den Platz der mittelalterlichen Aristokratie einnimmt und wie diese keine von Souveränität geprägte Legitimierung gegenüber den Regierten besitzt". Diese werden dadurch von Regierten („gouvernés“) zu Verwalteten („administrés“). Die Legitimation dieser neuen Ordnung durch Volksabstimmungen wird in der grossen Mehrheit der Fälle tunlichst vermieden. Kunz hat sein Buch noch vor der Einsetzung durch die EU der "Troika" in Griechenland abgeschlossen - er verweist entsprechend nicht auf dieses Beispiel.
Johannes Kunz diskutiert einige sehr verschiedene Ausformungen der Souveränität in der globalen Geschichte, beginnend bei kleinen Dorfgemeinschaften Westafrikas und in Königreichen Ostafrikas, über den Stadtstaat Florenz bis hin zur Gründung des geeinigten China im 3. Jh. vor Christus, in einem Reich, in dem die Regierten allerdings kein politisches Mitspracherecht im Sinne der modernen Demokratie besassen. Wie Kunz bemerkt, erscheint die Organisation der chinesischen Gesellschaft zu jener Zeit dennoch "nicht nur als brutale Unterdrückung, sondern als Ursprung echter staatlicher Souveränität, die von den Regierenden gegenüber den steuerpflichtigen Regierten auch Leistungen abverlangte, so die Sicherheit und Ordnung im Staat“.
Ein interessantes Kapitel betrifft die "Theorie des Souveräns". Kunz sieht extreme Formen dieses Prinzips in der absoluten Monarchie, welche "mit der möglichen Ausnahme Saudi-Arabiens und der Emirate kaum mehr anzutreffen ist" und in der absoluten Demokratie, denen die Schweiz und einige Einzelstaaten der USA am nächsten kommen. Im allgemeinen herrschen aber Mischformen vor. Als wesentliche Attribute der Souveränität ortet Kunz das Monopol der Geldprägung, der Eigentumslegitimierung und der Steuererhebung. Das Wesen der Souveränität wird dann auf Grund der Selektoratstheorie von Bueno de Mesquita weiter diskutiert. Gemäss Bueno de Mesquita wird die Regierung eines Landes von einem Teil der Bevölkerung, dem "Selektorat" gewählt. Das Selektorat kann sehr klein sein, wie im römisch-deutschen Kaisertum wo es die sieben Kurfürsten umfasste, während es in einer Demokratie aus dem Stimmvolk besteht - dem Elektorat, insofern dieses an der Wahl auch tatsächlich teilnimmt. Die "Siegerkoalition" besteht aus der Unterguppe des Selektorates, dem der Kandidat, z.B. der deutsch-römische Kaiser, seine Wahl verdankt. Einmal an der Macht, erheben die Regierenden Steuern, die dazu dienen, öffentliche Güter, wie Infrastukturen, Schulen, Gesundheitsversorgung, Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, u.a., aber auch private Güter für die "Siegerkoalition", wie Besoldungen im Staatsdienst und Privilegien, zugunsten der Regierten zu verteilen.
Kunz sieht hier einen Grund für die relative Stabilität von Diktaturen (kleines Selektorat), da es einfacher ist, eine kleine Gruppe "bei guter Laune zu halten" als eine grosse. Umgekehrt sind Unruhen und Revolten zu erwarten, falls die Steuerlast für die Verlierer des Systems ohne entsprechende Gegenleistung der "Siegerkoalition" zu gross wird (z. B. immer wiederkehrende Bauernrevolten in Europa im Mittelalter und der Neuzeit). Kunz sieht hier einen Grund, warum die Demokratisierungsversuche durch Intervention der "internationalen Gemeinschaft" meist scheitern: der Weg in die Dikatur ist immer einfacher als die "Entwicklung demokratischer Ansätze", da es genügt, die "Siegerkoalition" zu verkleinern. Souveränität entwickelt sich, wenn eine - manchmal allerdings kleine wie im alten China - "Siegerkoalition" Rücksicht nimmt - oder nehmen muss - auf ein grosses Selektorat, so dass ein für einen grossen Teil der Bevölkerung zufriedenstellender Austausch zwischen Regierenden und Regierten entsteht. Johannes Kunz ist der Meinung, dass schliesslich die so definierte Souveränität nur in einem freiheitlichen System möglich ist. Er sieht in der direkten Demokratie "den Gegenentwurf zur Diktatur", da das Selektorat die "gesamte erwachsene einheimische Bevölkerung umfasst" mit einer sehr grossen Siegerkoalition, die "gemessen an der Wahlbeteiligung etwa 50% des Selektorats entspricht".
Man könnte, die Überlegungen von Johannes Kunz weiterspinnend, sich fragen, ob wir in der gegenwärtigen Entwicklung der EU nicht eine Reduktion der "Siegerkoalition" zu Ungunsten einer wachsenden Gruppe von Verliererländern sehen müssen.
Wie sieht Johannes Kunz die Zukunft der Schweiz? Zwei Möglichkeiten werden genannt. Einerseit die "Optimierung der Souveränität", eventuell unter Verzicht auf einen Teil derselben. Ein Beispiel dafür stellt gemäss Kunz der Grundsatz der Neutralität dar. Dieser beinhaltet den Verzicht des souveränen Staates auf die Möglichkeit, Krieg zu führen, hat es aber der Schweiz erlaubt, sich über lange Zeit aus internationalen bewaffneten Konflikten herauszuhalten.
Eine andere Möglichkeit für den Kleinstaat, in der globalisierten Welt mit einem vernünftigen Mass an Unabhängigkeit zu überleben, stellt laut Johannes Kunz das "incomplete contracting" dar. Diese Möglichkeit ist mehr diplomatischer Natur und entspringt wohl der Vertrautheit des Autors mit diplomatischen Praktiken. Das "incomplete contracting", so wie es im Buch dargestellt wird, kann angewendet werden wenn zwei mit sehr ungleicher realer Macht ausgestattete Staaten in Verhandlungen treten. Wie J. Kunz ausführt, gibt das "incomplete contracting" der schwächeren Partei - im Falle der Schweiz wohl fast immer ihr selbst - "die Möglichkeit, für den Fall künftiger Machtverschiebungen Optionen offenzuhalten. Beide Parteien lassen sich leichter binden, wenn sie wissen, dass über ein Abkommen in der Zukunft weitere Verhandlungen möglich sind. Er weist darauf hin, dass die Auflösung der europäischen Kolonialreiche weitgehend nach diesem Schema erfolgt ist. Ein Merkmal dieses Mechanismus ist, dass die Verschiebung der Souveränitätsrechte zugunsten der ursprünglich schwächeren Partei oft schneller vor sich geht als vom zunächst stärkeren Partner erwartet wurde. Kunz legt in diesem Zusammenhang Gewicht auf die Bedeutung hartnäckiger Verhandlungen über Teillösungen, wobei der schwache Partner sich der Möglichkeit von über längere Zeiträumen eintretender Machtverschiebungen bewusst ist. Kunz bemerkt in diesem Zusammenhang, dass die Schweiz in ihrem seit Jahrhunderten währendenVersuch, ihre Souveränität zu bewahren, recht erfolgreich gewesen ist, und dass in dieser Zeit manche Machtkonstellationen sich gebildet haben und auch wieder vergangen sind. Deshalb ist es nicht einzusehen, warum die Schweiz sich heute an einen Machtblock anschliessen sollte, der nicht wirklich auf die Volkssouveränität abgestützt ist, und dessen Langlebigkeit deshalb nicht als gesichert gelten kann.
Alles in allem ist das Buch von Johannes Kunz anregend. Das hier verarbeitete historische und politische Wissen ist beeindruckend, wenn auch der Ideenfülle - die hier auch nicht annähernd wiedergegeben werden konnte - im Einzelnen nicht immer ganz leicht zu folgen ist. Auch wer nicht unbedingt alle Argumentationen von Johannes Kunz übernehmen will, findet in seinem Werk doch ein wertvolles Instrumentarium zum besseren Verständnis unserer Zeit. Zum Schluss sei noch ein bedenkenswerter Satz von Johannes Kunz zitiert: "Die Grossmachtpolitik beschneidet zwar ohne Zweifel die Souveränität kleinerer Staaten. Da jedoch Imperien auch Schwankungen der Machtfülle bis hin zu deren Verlust erleiden, wird auch schwächeren Staaten die Entfaltung ihrer Souveränität ermöglicht" (Christian Jungen)
Johannes B. Kunz "Der letzte Souverän und das Ende der Freiheit", Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich, 2012.
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