Die Briefe nach Feuerland sind ein Plädoyer für den EU-Beitritt der Schweiz. Der Stil der hiesigen Auseinandersetzung für oder gegen Europa sei bedenklich, meint Laure Wyss (S. 6). Sie beweist die These in ihrer Schrift deutlich. So geht es bei der Diskussion um die europäische Integration z.B. nicht um ein Für oder Wider Europa, sondern um die Frage der politischen Organisation dieses Kontinents. Die unsorgfältige Ausdrucksweise hat bei den Euro-Nationalen allerdings System: die wesentlichen Fragen können durch die fortwährende Bemühung "Europas" umschifft werden. Wer die Medien kontrolliert, kann auf Argumentation verzichten und sich auf die Wiederholung von Schlagwörtern und Halbwahrheiten beschränken. Dies ist um so nützlicher, wenn man argumentativ die schlechteren Karten hat. Das Plädoyer von Laure Wyss reiht sich in diese Tendenz nahtlos ein. Da kommen sämtliche Verkürzungen und Ungereimtheiten des euronationalen Diskurses vor. Sie bezeichnet sich etwa emphatisch als "Europäerin". Dabei sind wohl alle, die in Europa wohnen, Europäer. Worin der informative Wert des seltsamen Bekenntnisses, Europäerin zu sein, besteht, ist schleierhaft. Einige Seiten weiter, behauptet sie dann, es wäre zur Kenntnis zu nehmen, wir (Schweizer) seien keine Europäer (S. 15). Laure Wyss unterlässt es leider, uns zu informieren, ob wir nun Asiaten, Amerikaner, Afrikaner oder Australier sind. Zudem behauptet sie dadurch, dass sie selber keine Europäerin ist. Somit ist sie Europäerin und nicht.
In klassischer Manier bemüht sie die Warteschlangen vor den Abfertigungsschaltern von Flughäfen in EU-Ländern. Nachdem sie sich genüsslich über den gravierenden Nachteil ausgelassen hat, zusammen mit "anderen" länger anstehen zu müssen als die "Europäer", fährt sie fort: "Aber Zorn steigt auf, wenn Miteidgenossen in dieser Schlange laut schimpfen, sie würden behandelt wie Neger oder wie braune und gelbe Asiaten, das sei ja unerhört, jenen gleichgestellt zu werden." Da würde sie sich umdrehen und höflich bemerken "Darf ich fragen, was Sie abgestimmt haben im Dezember 1992, waren Sie für oder gegen den Beitritt der Schweiz zum EWR (dem Europäischen Wirtschaftsraum)?" Sie wirft ihren Miteidgenossen vorerst also nicht den Rassismus vor, sondern den Umstand, dass Sie gegen den EWR gestimmt haben. Erst dann fährt sie fort "Und Rassisten scheinen Sie auch noch zu sein, Sie fühlen sich wegen Ihrer Hautfarbe besser als dunkle Menschen". Da hat Laure Wyss den Dreh doch noch geschafft: der latente Rassismus des "Schlangen-Arguments" wird mit offiziellem Anti-Rassismus getarnt. Später gibt sie diese Tarnung aber wieder auf: "Ja, auch deshalb sind wir Rassisten geworden" (S. 56, Hervorhebung durch pr).
Es verbergen sich in Ihrer Prosa noch weitere verschleierte Ungemütlichkeiten: Sie behauptet etwa, die Basler seien schon "immer europäisch gewesen durch ihren offenen Geist" (S. 23). Daraus kann man schliessen, dass offene Menschen europäisch sind und wer nicht europäisch ist, kein offener Mensch ist. Derlei Überheblichkeiten, flüchtig hingeworfen und um so verräterischer, zeigen deutlich, worum es den "überzeugten Europäern" geht. Spitzfindigkeiten? Nun - es handelt sich beim Büchlein von Frau Wyss nicht um gesprochenes Wort, sondern um geschriebenes. Man kann somit annehmen, dass gemeint wird, was geäussert wird. Und genaues Lesen hat sich immer schon bezahlt gemacht - wer nicht genau liest, so lehrt die Geschichte, den bestraft sie! Ein weiteres Müsterchen? - Europa hat, laut (der Paul Valéry zitierenden) Laure Wyss, der modernen Welt die Grundlage ihrer Zivilisation geliefert. Um so unverständlicher findet sie die machtpolitische Unterlegenheit Europas gegenüber seiner Umwelt. Es handelt sich um krassen Ethnozentrismus: der eigene Machtanspruch wird durch die Rolle als Kulturbringer gerechtfertigt.
Laure Wyss nimmt es mit den Institutionen nicht sehr genau. Sie hält diese nicht klar auseinander, um deren Vor- und Nachteile für Frieden, Menschenrechte sowie soziale und ökologische Entwicklung in Europa zu untersuchen. Unter "Europa" versteht sie manchmal den Kontinent, manchmal die EU, den EWR, den Europarat oder die OSZE. Amalgam hat bei ihr System. Die anerkennenswerte Arbeit des Europarats ist für sie ein Argument für "Öffnung", die dann nur EWR oder EU-Beitritt heissen kann, da die Schweiz in "Europa" sonst ja überall dabei ist. Auf diesem Niveau geht's durchs ganze Büchlein. Statt "Weg in die EU" heisst's "Weg nach Europa" - wie soll die Schweiz sich aber auf den Weg nach Europa machen, wenn sie doch seit ihrer Existenz schon dort liegt!?? Und auf welchen Füssen machen sich Länder auf den Weg zu anderen Kontinenten?. Laure Wyss erspart uns kein europopulistisches Scheinargument: Nur 16 000 Beamte hätte der Brüsseler Beamtenstab, was genau dem des Kantons Bern entspreche und der "ist ja beträchtlich kleiner als ganz Europa und geeinter" (S. 38). Der Vergleich hinkt offensichtlich: Während der Kanton Bern vor allem eine exekutive Bürokratie hat (mit Lehrern, Strassenunterhalt, Spitälern, Sozialversicherungsverwaltung, usw.) ist Brüssel abgesehen von den Übersetzerinnen und Übersetzern vor allem eine legislative Bürokratie: Es wird die Gesetzgebung der EU vorbereitet. Ein zutreffender Vergleich müsste die Beamtenstäbe vergleichen, die mit der Vorbereitung von Gesetzen und Verordnungen beschäftigt sind. Auf ähnlichem Niveau bewegt sich die Frage "Was sagen wir denjenigen, die überhaupt keine Lehrstelle mehr finden?" Bekanntlich liegt die Jugendarbeitslosigkeit in der Schweiz wesentlich tiefer als im EU-Durchschnitt und es ist auch nicht ersichtlich, wie ein Beitritt der Schweiz zum monetaristischen Deregulierungsprojekt EU entsprechende Probleme in der Schweiz lösen könnte.
Laure Wyss versucht verschiedentlich, die EU-Integration als eine Fortführung der Aufklärung und einer entsprechenden Fortentwicklung der Demokratie darzustellen. Die Langsamkeit der EU-Integration der Schweiz vergleicht sie etwa mit der Langsamkeit der Einführung des Frauenstimmrechts. Gegen keimenden Faschismus fordert sie richtig "die Verteidigung der Demokratie und des Parlamentarismus, sowie das Festhalten am Programm der Aufklärung" (sie zitiert hier aus einem Vortrag von Berthold Rothschild). Dieses Programm ist allerdings mit ihrer EU-Intergrations-Euphorie unverträglich: Man kann es drehen, wie man will, ein demokratisches Projekt ist die EU nun wirklich nicht. Es ist eher ein Unternehmen der Multis und der politischen Oberschichten der Mitgliedsländer, um die Demokratie für die Durchsetzung ihrer Interessen "unschädlich" zu machen. Ein Vergleich von Frauenstimmrecht und EU-Integration ist entsprechend absurd - als ob die Frauen, nachdem ihnen die politischen Rechte hierzulande solange vorenthalten wurden, nun darauf erpicht sein müssten, diese möglichst bald in der EU-Intergration weitgehend wieder zu verlieren. Ebensowenig hat die EU-Euphorie Laure Wyss' mit Aufklärung zu tun. Schon die Wortwahl verrät sie: Da wird "stolzes Schweizertum" bemüht (S. 74), da raunt es vom "künftigen Auftrag Europas" und vom "Abendland als Schicksal und Werk". Es wird geschwärmt von der "Erlösung durch Integration" (S. 69) und von einem "Finnland, das sich glühend zu Europa bekennt"(S. 39) - der religiöse Wortschatz bringt's an den Tag. Wo glühende Bekenntnisse abgelegt werden, hat die Rationalität schon lange ausgedient. Das Programm der Aufklärung verlangt nicht nach glühenden Bekenntnissen, sondern nach der Bejahung oder Ablehnung von politischen Institutionen auf Grund einer detaillierten und nüchternen Analyse ihrer Leistungen für die Menschen. Laure Wyss Büchlein stellt das genaue Gegenteil einer solchen Analyse dar. Schade, dass sich eine sonst liberale Journalistin in der EU-Frage mit Bekenntnissen begnügt. pr.
Laure Wyss, Briefe nach Feuerland: Wahrnehmungen zur Schweiz in Europa, Zürich, Limmat, 1997.
|