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Demokratie – das uneingelöste Versprechen

Urs Marti, Privatdozent für politische Philosophie an der Universität Zürich, legt ein Büchlein über Bedrohungen der Demokratie und allfällige Wege der Demokratisierung vor. Allerdings muss vorweggenommen werden, dass er unter Demokratie nicht unbedingt „Volksherrschaft“ versteht, sondern ein nicht näher spezifiziertes Mehrebenensystem mit „Partizipation“ statt formalen Selbstbestimmungsregeln. Trotzdem kann man etliche seiner Analysen und Wertungen als Direktdemokrat teilen.

Die Ambivalenz seiner Ausführungen zeigt sich in einer bezeichnenden Analyse: „…die linke Demokratiekritik kommt häufig nicht darum herum, die Frage nach den intellektuellen und moralischen Kompetenzen der politisch Mitspracheberechtigten zu stellen. Man kann Fragen nach der Informiertheit der Bürgerinnen und Bürger, nach den ausschlaggebenden Motiven ihrer Entscheidung sowie nach deren Vereinbarkeit mit normativen Prinzipien der Demokratie selbstverständlich nicht ausblenden. Aber die linke Demokratiekritik gerät durch solche Fragen, die die rechte Demokratiekritik weit weniger belasten, notwendig in ein Dilemma“ (S. 23). Dieses Dilemma ist für Demokraten, welche die gleichberechtigte Mitbestimmung aller Betroffenen am politischen Entscheidungsprozess als unveräusserliches Grundrecht betrachten, nicht so richtig einsichtig. Unveräusserliche Grundrechte können zwar in Widerspruch zu anderen unveräusserlichen Grundrechten geraten – trotzdem handelt es sich bei ihnen allen um unveräusserliche Grundrechte. Insbesondere handelt es sich bei allfälligen Spannungen nicht um einen Widerspruch von „Volkssouveränität“ und Menschenrechten (S. 115 ff.). Die verbindliche, gleichberechtigte Mitentscheidung aller ist ja selber ein unveräusserliches Menschenrecht!

Es stellt sich die Frage von welcher Warte aus die Frage nach intellektuellen und moralischen Kompetenzen der Bürgerinnen und Bürger gestellt wird und mit welchen Schlussfolgerungen. Stellt sich Marti diese Frage als Bürger unter Bürgerinnen und Bürgern und ist er sich bewusst, dass es sich bei entsprechenden Urteilen um persönliche Werturteile und Meinungen handelt, um sich anschliessend an der Meinungsbildung zu beteiligen, ist dagegen nichts einzuwenden. Bei ihm hat man jedoch oft den Eindruck, er nehme einen Standpunkt ausserhalb der Geschichte an und sei bereit, die Mitsprache der anderen in Frage zu stellen, wenn sie nicht seine Werte teilen. Er scheint sich als moralische Instanz dafür zu sehen, was als unparteiische Berücksichtigung aller Interessen zu sehen ist und er weist souverän die Anmassungen der Mehrheit in Schranken (S. 115). Wie soll aber eine Minderheit (welche?) sich anmassen, die Entscheidungen der Mehrheit abzuweisen? Entscheidungen der Mehrheit müssen dabei keineswegs als moralisch oder menschenrechtlich korrekt akzeptiert werden, nur weil sie durch die Mehrheit getroffen wurden. Man darf solche Entscheidungen jederzeit kritisierten und in Frage stellen. Bei Menschenrechtsverletzungen durch die Mehrheit ist sogar Widerstand angebracht. All dies ist aber kein Grund dafür, das Prinzip der Mehrheitsentscheidung in Frage zu stellen. Zur Mehrheitsentscheidung gibt es keine Alternative ausser der Entscheidung durch eine Minderheit – und es ist nicht einzusehen, inwiefern diese dauerhaft Menschenrechte besser gewährleisten sollte.

Vordergründig argumentiert Marti demokratisch - die real existierende Demokratie sei auf dem Hintergrund demokratischer Prinzipien zu kritisieren: „Eine demokratischen Prinzipien verpflichtete Demokratiekritik kann geltend machen, politische Entscheidungen seien in dem Masse illegitim, wie keineswegs alle davon betroffenen Menschen als gleichberechtigte Partner daran teilgenommen haben, sei es auf nationaler oder auf globaler Ebene, und sie kann eine Veränderung dieser Situation im Sinne einer breiteren Verteilung von Macht unter Berufung auf die Demokratie fordern“ (S. 23). Diese Position hält er aber nicht immer durch. Einerseits meint er, es gebe für Ausländer keinen Rechtsanspruch auf Einbürgerung, andererseits stellt er die direkte Demokratie in der Schweiz in Frage, da sie oft Ausländer ausgrenze. Aus demokratischer Warte müsste hingegen die Ausweitung der direkten Demokratie auf alle Personen gefordert werden, welche von entsprechenden Entscheidungen betroffen sind. Es ist klar, dass damit Minderheitenschutz allein noch nicht gewährleistet ist. Es gibt aber keine Institutionen, die Minderheiten dauerhaft gegen die Bevölkerungsmehrheit schützen könnten. Zudem wäre es blauäugig, sich beim Minderheitenschutz auf irgendwelche „Eliten“ verlassen zu wollen. Letztlich müssen Menschenrechte in der Bevölkerung abgesichert sein, wobei diese durchaus gut beraten ist, die Menschenrechte rechtstaatlich zu verankern. Statt Grundrechte in Frage zu stellen, muss man sich für diese einsetzten – dazu gibt es keine demokratische Alternative. Und vor allem gibt es keine Flucht vor der Geschichte in aussergeschichtliche oder aussergesellschaftliche Instanzen!

Die Diskussion der Frage, ob die „Demokratie ein moralisches Fundament“ brauche, nimmt im Buch einen wichtigen Platz ein. Montesquieu, Rousseau und Tocqueville geben sich ein Stelldichein – immer auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie die Demokratie innerhalb demokratischer Institutionen abgesichert werden kann. Marti verneint die Bedeutung moralischer Fundamente: „Moralische Prinzipien können, wie die Geschichte lehrt, zwecks Durchsetzung der Interessen privilegierter Gruppen einer Gesellschaft instrumentalisiert werden. Überdies widerspricht jede Art moralischer Bevormundung dem modernen, demokratischen Freiheitsverständnis. Im Sinne liberaler Auffassungen ist daran festzuhalten, dass jeder Mensch seine ganz egoistischen Interessen vertreten und durchaus auch dem Luxus frönen darf, solange er dadurch die anderen Menschen in ihrem Streben nach Autonomie nicht behindert.“ (S. 81). Nun, man kann aus der der Tatsache, dass Moral zwecks Durchsetzung der Interessen privilegierter Gruppen instrumentalisiert wurde, nicht schliessen, dass es für die Demokratie kein moralisches Fundament braucht. Zudem kann aus der allfälligen Wichtigkeit moralischer Fundamente nicht darauf geschlossen werden, dass die entsprechende Einsicht in moralische Bevormundung münden muss, die Marti bei der Frage nach den moralischen Kompetenzen der Bürger nicht scheut (s.o.).

Die auf der Seite 81 gemachten Ausführungen relativiert er dann eine Seite später: „Bürgerinnen und Bürger einer liberalen Demokratie müssen also fähig und bereit sein, für die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse Verantwortung zu übernehmen. Sie brauchen somit neben intellektuellen auch moralische Kompetenzen, insofern scheint die obige negative Antwort voreilig zu sein. Freilich handelt es sich dabei nicht um die Bereitschaft, sich bestimmten, mehr oder weniger autoritär verordneten Normen zu unterwerfen, sondern um die Fähigkeit, Handlungsregeln kritisch beurteilen, vernünftiges von unvernünftigem Handeln unterscheiden und den Autonomieanspruch anderer Menschen respektieren zu können“ (S. 82). Inwiefern die Bejahung der Notwendigkeit moralischer Fundamente der Demokratie die Forderung nach der „Bereitschaft, sich bestimmten, mehr oder weniger autoritär verordneten Normen zu unterwerfen“ impliziert und die Forderung nach der „Fähigkeit, Handlungsregeln kritisch zu beurteilen, vernünftiges von unvernünftigem Handeln zu unterscheiden und den Autonomieanspruch anderer Menschen respektieren zu können“, nicht impliziert, ist allerdings ziemlich unklar – aber typisch für die Ausführungen des Autors.

In vielem kann man seine Analysen der realexistierenden Demokratie teilen. Es ist offensichtlich, dass trotz formaler Gleichberechtigung in realen Demokratien kleine Minoritäten regieren und Gesetze erlassen. „Strittig bleibt aber, ob es sich dabei um ein Relikt vordemokratischer Zustände handelt, das es zu überwinden gilt, oder ob Demokratie gar nicht anders funktionieren kann. Strittig ist ebenfalls, ob es sich bei dieser Minorität um eine herrschende Klasse handelt oder um eine Vielfalt konkurrierender Gruppen mit unterschiedlichen Interessen. So oder so stellt das Faktum der Elitenherrschaft für jede Demokratietheorie ein Herausforderung dar“ (S. 98).

Erstaunlich ist allerdings, dass Marti in diesem Kontext nicht die Verdienste der direkten Demokratie hervorhebt, die elitären Tendenzen der realen Demokratie wenn auch nicht abzuschaffen, so doch zu mindern und der Bevölkerung ein Veto- und Initiativrecht zuzugestehen vermag. Dass diese Bevölkerung bei der Wahrnehmung ihrer Rechte nicht als amorphe „Masse“ handelt, sondern mittels Vereinen, Verbänden, Gewerkschaften und sonstigen organisierten Bevölkerungsgruppen, ist dabei völlig klar. Die Bevölkerung selber kann ja nicht handeln. Nur Individuen könne handeln und diese können nur im Verbund mit anderen etwas erreichen. Ebenso klar ist, dass dabei nicht alle dieselben Möglichkeiten haben. Wirtschaftliche Interessen und darunter vor allem die Kapitalinteressen dominieren. Es gibt allerdings keine politischen Institutionen, welche die gesellschaftlichen Machtverhältnisse nicht widerspiegelten. Entsprechend kann dies der direkten Demokratie nicht angelastet werden. Wer mit den bestehenden Machtverhältnissen nicht einverstanden ist, muss versuchen, diese zu ändern. Die direkte Demokratie offeriert diesbezüglich im Vergleich aller bekannter Systeme optimale Bedingungen.

Einverstanden kann man auch mit der Betonung der ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse für die Wahrnehmung politischer Rechte sein: „Die Überzeugung, [soziale] Sicherheit gehöre zusammen mit Freiheit und Gleichheit zur normativen Grundlage politischer Ordnung, entspricht dem Selbstverständnis der demokratischen Moderne. Sobald soziale Rechte garantiert sind, muss Freiheit kein Privileg der ökonomisch Selbständigen bleiben, und Unselbständige dürfen, weil sie dem ökonomischen Druck nicht mehr wehrlos ausgesetzt sind, politisch partizipieren. Soziale Sicherheit kann dazu beitragen, die Position der Unterprivilegierten zu stärken, ihre Optionen zu erweitern und das Machtgefälle zwischen gesellschaftlichen Gruppen abzubauen“ (S. 105). Die entsprechenden Bestrebungen, soziale Sicherheit zu gewähren, gingen dabei oft auf das Bedürfnis der Herrschenden zurück, die Lohnabhängigen ins System zu integrieren. Durch die wirtschaftliche Liberalisierung wird der bisherige Stand an sozialer Sicherheit und damit an Möglichkeiten zur politischen Teilnahme jedoch wieder gefährdet.

Die Durchsetzung von Marktmechanismen könnte langfristig zur Errichtung einer neuen Privilegienordnung führen (S. 114). „Offenbar ist die Demokratie primär deshalb in eine Krise geraten, weil immer mehr Menschen von der Möglichkeit, bei der Gestaltung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen mitzuwirken, ausgeschlossen sind. Wer diese Diagnose teilt, wird bei der Suche nach Strategien einer Demokratisierung, die die individuellen Freiheitsräume erweitert, berücksichtigen, dass die „Demokratisierung der Demokratie“ ohne eine Demokratisierung der Wirtschaft nicht zu realisieren ist, dass umfassende demokratische Partizipation nicht nur die Kontrolle staatlicher Macht, sondern ebenso die Kontrolle der Form privater, sozialer und ökonomischer Macht erfordert“. Dagegen ist wohl wenig einzuwenden, wenn auch das Wie der demokratischen Kontrolle ökonomischer Macht nicht befriedigend gelöst ist.

Urs Marti, Demokratie: Das uneingelöste Versprechen, Zürich: Rotpunktverlag, 2006


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