Markus Kutter, ehemaliger Grossrat in der Liberalen Partei Basel Stadt und Historiker, legt nach eigenen Worten (Untertitel) einen "Schweizer Beitrag zur Theorie der direkten Demokratie" vor. Beim Lesen des Untertitels fragt man sich unwillkürlich, worin eine Theorie der direkten Demokratie bestehen könnte oder was sie leisten sollte. Mit entsprechender Spannung öffnet man das Buch, um etwas enttäuscht zu werden. Es handelt sich um ein Essay, dem die Systematik von Theorien abgeht. Erst im letzten Drittel des Buches fragt sich Kutter offiziell, was eine Theorie der direkten Demokratie zu leisten habe. Er legt folgendes fest: "Sie müsste die verfassungsmässigen Grundlagen für Referendum, Initiative und Abberufung formulieren, das Zusammenspiel solcher Volksrechte mit den Mechanismen der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie umschreiben, ihre gesellschaftlichen (und das hiesse auch: ihre parteipolitischen) Voraussetzungen definieren, die Einflüsse auf das politische Geschehen - etwa Wahlen, Koalitionsverträge und entscheidende Verwaltungsvorgänge - untersuchen; sie müsste nach ihren Auswirkungen und Spätfolgen, auch nach ihrer Effizienz und ihren (an was gemessenen?) Nachteilen befragt werden. Und natürlich ständen ihre verschiedenen Ausformungen nach unterschiedlichen Gemeinwesen in einer föderalistischen Hierarchie zur Diskussion". (S. 149).
Obwohl Kutter eingangs behauptet, eine Theorie der direkten Demokratie gebe es noch nicht, muss angesichts dieses Programmes festgehalten werden, dass es eine solche sehr wohl gibt. Die erste Hälfte seiner Anforderungen beinhalten Verfassungsrecht, das bezüglich der direktdemokratischen Institutionen in der Schweiz etwa ausführlich dargestellt wurde. Die zweite Hälfte betrifft politologische Analysen, die ebenfalls reichlich vorhanden sind. Was in seinem Programm allerdings fehlt, ist die entscheidende Grundwertfrage: stellt die inhaltliche und verbindliche Teilhabe der Bevölkerung an politischen Entscheidungsprozessen ein Grundrecht dar? Wenn solche Teilhabe aller an der Politik als Grundrecht zu betrachten ist, ist eine Diskussion der Effizienz oder der Vor- und Nachteile der direkten Demokratie sinnlos. Beim Grundrecht, nicht gefoltert zu werden oder die elementaren Grundbedürfnisse befriedigen zu können, fragen wir uns schliesslich auch nicht, was sie nützen oder ob sie "effizient" sind. Offenbar ergeben sich solche Diskussionen nur dann, wenn ein Grundrecht noch nicht allgemein anerkannt ist oder wieder in Frage gestellt wird.
Abgesehen von diesen kritischen Bemerkungen ist das Buch von Kutter durchaus interessant. Es ist süffig geschrieben und der essayistische Ansatz hat auch seine Vorzüge. Die inhaltliche Mischung - Bündner Referendum und korsische Verfassung von Pasquale Paoli (1725), die Gironde-Verfassung der französischen Revolution, die gegenseitigen Einflüsse USA-Schweiz, die Beiträge Rousseaus, die Gegenüberstellung der Geschichtsschreibung Theodor Curtis und Wilhelm Oechlis - ist anregend, wenn auch nicht von Ungenauigkeiten frei. Auf Seite 127 behauptet Kutter, Frankreich kenne das obligatorische Verfassungsreferendum "aber es kann nicht vom Volk, sondern nur vom Präsidenten, dem Premierminister und den Kammern ausgelöst werden". Der Zusatz sagt aus, dass es in Frankreich kein obligatorisches Verfassungsreferendum gibt, das ja bekanntlich bei jeder Verfassungsänderung durchgeführt wird und nicht vom Belieben eines Präsidenten oder sonstigen politischen Institutionen abhängt. Von mangelnder Genauigkeit zeugt auch die Begründung des Fehlens von Sachabstimmungen auf Bundesdeutscher Ebene: "Die Erfahrungen mit der Weimarer Republik und dann der nationalsozialistischen Periode haben eine deutsche Republik in Bezug auf die Volksrechte geradezu stigmatisiert" und zudem sei Hitler durch Volkswahl an die Macht gekommen (S. 129). Erstens gab es in der Weimarer Republik keine verbindliche Volksrechte (Initiative und Referendum). Zweitens kann das Argument höchstens Wahlen, nicht jedoch Abstimmungen in Misskredit bringen.
Die Haltung Kutters der direkten Demokratie gegenüber ist von einer gewissen Ambivalenz gezeichnet. Neben klassischen Argumenten für die direkte Demokratie bringt er auch die traditionellen Argumente wider diese Staatsform vor. Das vorletzte Kapitel, das sich der Frage des EU-Beitrittes der Schweiz widmet, heisst bezeichnender weise "In den Volksrechten gefangen". Wer in den Volksrechten gefangen ist, wird von Kutter nicht angegeben. Die stimmberechtigte Bevölkerung fühlt sich kaum hinter Gefängnismauern. Sie kann auf ihre Rechte problemlos verzichten und der EU beitreten. Gefangen können sich nur die politischen "Eliten" fühlen. Das ist allerdings der Zweck der direktdemokratischen Rechte. pr.
Markus Kutter, Doch dann regiert das Volk: Ein Schweizer Beitrag zur Theorie der direkten Demokratie, Zürich, Ammann, 1996.
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