Übersicht Buchbesprechungen Schweizer Gewerkschaften und EuropaRebekka Wyler beschreibt in Ihrer Dissertation, die im Gegensatz zu vielen Dissertationen flüssig und gut lesbar geschrieben ist, die Entwicklung der Politik der „freien“ Gewerkschaften bezüglich der Europäischen Integration. Sie stellt diese mittels der Haltung der Gewerkschaften gegenüber vier integrationspolitischen Entscheiden dar (EFTA-Gründung, Freihandelsabkommen 1972, EWR-Abstimmung und Bilaterale Verträge). Die Gewerkschaften verharrten jahrzehntelang bezüglich der EG-Integration in einer Beobachterposition. Insbesondere der Neutralitätsdiskurs trug gemäss Wyler dazu bei, dass für die Gewerkschaften eine Teilhabe am EU-Integrationsprozess lange ausserhalb des Wünschbaren und Möglichen lag. Zudem wurde auf die Problematik der Grössenverhältnisse in der EWG hingewiesen: Ein SGB-Sekretär bemerkte Ende April 1957 vor dem Gewerkschaftsausschuss: „Eine derart weitgehende Wirtschaftsintegration wie der Gemeinsame Markt ist notwendigerweise mit einer erheblichen Einschränkung der politischen Souveränität der beteilgten Länder verbunden und dabei sind Kleinstaaten besonders benachteiligt, indem die grösseren Länder bei der gemeinsamen Beschlussfassung dominieren“ (S. 98). Grundsätzliche, demokratiepolitisch begründete Kritik kommt in einem Refereat des damaligen volkswirtschaftlichen Mitarbeiters des SGB am Kongress 1960 in Basel zum Ausdruck. Die Funktionsweise der EWG-Organe wird von ihm als undemokratsich bezeichnet, da sie keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegen. „Ihre Beratungen sind geheim, ihre interssanten Berichte vertraulich. Sie umgeben sich mit dem Schleier des diplomatischen Geheimnisses“ (S. 99).
Anlässlich des Freihandelsabkommens ergab sich eine gewisse Spannung zwischen exportorientierten und binnenwirtschaftlichen Branchen. Das Ja in den Gremien des SMUV und GTCP war unumstritten. Im SBHV sowie im VHTL kamen jedoch die Differenzen zwischen Binnen- und Exportwirtschaft offen zur Sprache. Zentrales Thema in allen Gewerkschaften war die Angst der Basis vor zunehmender Einwanderung. Befürchtet wurden möglicher Arbeitsplatzverlust und Lohndumping. Die Herauslösung der Migrationspolitik aus der Vorlage war entscheidend für die Zustimmung der Gewerkschaften. Nach dem Ja der stimmberechtigten Bevölkerung zum Freihandelsabkommen blieb die EWG-politische Debatte in der Schweiz auch in den Gewerkschaften eingeschlafen.
Dies änderte sich Ende der 1980er Jahre. Frau Wyler beschreibt anhand von Quellen des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) und seiner Mitgliedorganisationen die Entwicklung der EG/EU-politischen Positionen um 1990 und identifiziert die zentralen Konfliktlinien, die die innerverbandlichen Auseinandersetzungen prägten: divergierende Interessen von Export- und Binnenbranchen, unterschiedliche Perspektiven der verschiedenen Landesteile, Differenzen zwischen gewerkschaftlicher Spitze und Basis, sowie zwischen Gewerkschaftsmitgliedern mit und ohne Schweizer Pass. Bei den Gewerkschaftspitzen sind die Positionen offenbar durch folgende Einstellungen geprägt: die Demokratiefrage wird auf die Wirtschaft eingeschränkt, obwohl die Wirtschaftsdemokratisierungskonzepte auch innerhalb der Gewerkschaften unklar und umstritten sind. Die Frage der politischen Demokratie gerät weitgehend ausser Sichtweite (S. 56 ff). Auf dem Hintergrund der Ausblendung der Wichtigkeit der politischen Demokratie wird „Europa“ zur „Identitäts“-Frage (S. 90). Damit kann man dann die Abgrenzung von der bürgerlichen Rechten zur entscheidenden Frage stilisieren.
Typisch für diese Einstellung ist folgendes Zitat: „Eine isolationistische (sic!) Position ist vor allem aber auch deshalb abzulehnen, weil sie die Probleme für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, welche mit der verschärften Konkurrenz auf dem Weltmarkt und den fehlenden übernationalen Normen entstehen, keineswegs löst. […] Auch würde die Entwicklung der Schweiz zu einem desindustrialierten Zentrum aller möglichen dubiosen und weniger dubiosen Finanz- und Diensleistungsgeschäfte beschleunigt. Eine isolationistische Position würde uns von den anderen europäischen Gewerkschaften und deren gemeinsamen Programmen und Aktionen abschneiden und und zum Bündnispartner des rekationärsten Teils des schweizerischen Bürgertums machen“ (S. 123). Am Zitat fallen ein paar typische Fehleinschätzungen auf, die von Frau Wyler nicht disktuiert werden:
(1) Ersten ging es bei der EWR-Abstimmung nicht um Isolationismus, sondern um die zu wählenden Formen der Zusammenarbeit mit dem europäischen Umfeld. Die Demokratiefrage spielte dabei eine wesentliche Rolle.
(2) Die These, dass sich die Schweiz ausserhalb des EWR oder der EG/EU zum Off-Shore-Zentrum für dubiose Finanzgeschäfte entwickelt, hat sich nicht bewahrheitet.
(3) Die fehlenden übernationalen Normen sind durch das EU-Deregulierungsprojekt nicht eher einführbar als durch sonstige internationale Zusammenarbeit.
(4) Es wird nicht erwähnt, dass die Gewerkschaften mangels finanzieller Kapazitäten so oder so wenig in die internationale Zusammenarbeit investieren und dass solche Investionen von der Frage der Formen der Mitgliedschaft oder Assoziation an den EG/EU-Binnenmarkt unabhängig sind.
(5) Durch ein Nein zum EWR hätte man sich nicht zum Bündnisparter des reaktionäresten Teil des schweizerischen Bürgertums gemacht - ausser man hätte mit diesen gemeinsame Komitees gegründet und gemeinsame Kampagnen geführt, was nie zur Debatte stand. Das Scheinargument war damals allerdings sehr wirksam und hat dem „reaktionärsten Teil des schweizerischen Bürgertums“ in die Hände gespielt (Aufstieg der SVP)!
Neben geschürten Abgrenzungsreflexen kam in manchen Gewerkschaftsspitzen eine gewisse, damals in vielen Kreisen verbreitete Euphorie bezüglich der EG/EU-Intergration zum Tragen (Binnemarkprojekt, Europäische Union, Zusammenbruch der kommunistischen Regimes). In diesem Zusammenhang wurden dann die „sozialen Errungenschaften“ der EU überschätzt, die der Schweiz unterschätzt. Die Euphorie war vor allem in den Gewerkschaften des Exportsektors verbreitet. Der SMUV war stolz, die „europäischste Gewerkschaft“ zu sein. An der Delegiertenversammlung im Sommer 1990 wurde ein „Menu Euronomique“ serviert: spanische Nüssli, Brüsseler Endivien, Schwedenbraten, italienischer Kaffee und Diplomatencrème wurden gereicht.
In manchen Gewerkschaftskreisen wurde die Befürwortung der EU-Integration (Blockbildungsprojekt!) mit Internationalismus gleichgesetzt: „La FOBB en tant que syndicat européen, de par sa composition et par sa vocation internationaliste ne peut pas se permettre de tourner le dos au processus d’intégration européenne, même s’il est fortement marqué actuellement par l’empreinte du capitalisme néoliberal“ (S. 124).
Zuletzt spielten auch die Zusammensetzung der Gewerkschaften eine Rolle. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem EG/EU-Raum versprachen sich von der Teilnahme am Binnenmarktprojekt Verbesserungen. Da sie an der politischen Demokratie in der Schweiz nicht teilnehmen konnten, waren sie durch entsprechende Einschränkungen nicht betroffen.
Dabei gab es zuerst durchaus kritische Positionen, die aber bald weggeschwemmt wurden. „Ein Teil der schweizerischen Linken und der Gewerkschaftsbewegung ist offensichtlich bereit, die Rolle der idealistischen Nationalisten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zu spielen: Die ‚Enge der Heimat‘ soll mit dem Hineinwachsen in einen neuen weiten Raum durchbrochen werden“ (S. 115). Damit wird hier noch deutlich gesehen, dass das EU-Integrationsprojekt den Nationalismus des 19. Jahrhunderts nicht überwindet, sondern ihn auf höherer Ebene reproduziert. Hans Schäppi sieht die EG als liberales Deregulierungsprojekt, das möglichst viele Schranken im Kapitalverwertungsprozess beseitigen will. „Es wird zu noch mehr Konkurrenz, noch mehr Konzentrationen führen, der Rationalisierungsprozess wird beschleunigt. EG 92 wird also zumindest zu Beginn Arbeitsplätze vernichten und regionale Ungleichgewichte verschärfen, weil sich die ökonomische Macht noch mehr in den Zentren konzentrieren wird“ (S. 117). Ein Vertreter des VPOD meinte“ „Jetzt sollen wir die Festung Europa lieben, damit wir im Wirtschaftskrieg gegen Japan und die USA bestehen können. Nein, Kolleginnen und Kollegen, wir lieben nicht Staaten, nicht Bündnisse, nicht Organisationen oder Kontinente, wenn schon lieben wir den Menschen und die Natur, und darum müssen wir uns auch für eine bessere und andere Welt, für ein besseres und anderes Europa als die EG einsetzen“ (S. 119).
Diese kritischen Stimmen waren zuletzt kaum mehr zu vermehmen. Umso bitterer fiel dann das Aufwachen für die eu-philen Gewerkschaftsspitzen nach dem 6. Dezember 1992 aus. Nicht nur das „Volk“, sondern auch viele der Gewerkschaftsmitglieder mit Schweizer Pass hatten Nein gestimmt. Wyler schreibt: „Beim SMUV scheint es, dass die Führung den Graben in der Mitglieschaft erst nach verlorener Abstimmung feststellte. Dies auf grund des Ärgers, den der Abstimmungskommentar in der SMUV-Zeitung unter dem Titel ‚Katzenjammer der Dummheit‘ in der Mitgliedschaft ausgelöst hatte. Süffisant wurde an der Sitzung des SGB-Präsdialausschusses von Mitte Dezember bemerkt: ‚[…] la base n’a pas suivi plus mal que d’habitude‘“ (S. 140).
Im Nachgang zur EWR-Abstimmung änderte sich dann die Strategie des SGB. Während man beim EWR noch „Ja, aber“ sagte und damit nichts herausholte, ging man bei den bilateralen Verträgen zu einem „Nein, ausser“ über. Man stellte klare Bedingungen an die Befürwortung und forderte „flankierende Massnahmen“, Forderungen, die bereits anlässlich der EWR-Abstimmung vom GBH gestellt wurden, sich aber im SGB nicht als verbindliche Forderung durchsetzten. Die Haltung der GBH lässt sich durch die exponierte Position des Baugewerbes erklären, das durch die mit dem EWR einhergehende Personenfreizügigkeit im Gegensatz zu früheren Abkommen direkt tangiert wurde. Die Haltung des GBH wurde am SGB-Kongress von 1998 dann zur offiziellen Position. Die Tessiner Vertreter spielten beim Positionswechsel eine wichtige Rolle. Selbst im SMUV wurde 1999 das Beitrittsziel aus einer Resolution gestrichen, um den Text auf die Bilateralen Verträge zu konzentieren. Die Forderung nach „effizienten Kontrollmechanismen“, um Lohndumping zu verhindern, wurde auch hier erhoben. Bei der Kampagne zu den Bilateralen Verträgen vermieden die Gewerkschaften den Schulterschluss mit den Arbeitgebern, wie er von manchen Gewerkschaften anlässlich der EWR-Abstimmung durchaus punktuell vollzogen wurde. Die Gewerkschaften begannen, die EU-Frage als Hebel für die Erreichung innenpolitischer Reformen zu nutzen, die ohne diese vermutlich nicht mehrheitsfähig gewesen wären. Nach der Annahme der Bilateralen Verträge durch die stimmberechtigte Bevölkerung wurde das EU-Beitrittsziel vom SGB dann allerdings erneuert und die Initiative „Ja zu Europa“ offiziell unterstützt. Die krasse Niederlage der Initiative bedeutete auch eine Niederlage für die „EU-Strategie“ der Gewerkschaftsspitzen.
In der Folge konzentrierten sich die Gewerkschaften auf die Umsetzung der flankierenden Massnahmen. Hauptthema waren die lückenhaften Kontrollen der Löhne und Arbeitsbedingungen: „den paritätischen Kontrollorganen mangle es an personellen und finanziellen Ressourcen, so dass nicht einmal Stichprobenkontrollen, sondern bloss Kontrollen auf Meldung hin durchgeführt werden könnten“. (S. 165). Die Positionen der Gewerkschaften erfuhren im Nachgang zu einigen Entscheiden des EU-Gerichtshofes weitere Veränderungen, die allerdings von Frau Wyler nicht mehr diskutiert werden. Ihre Geschichtssschreibung hört 2005 auf.
In eigenen Kapiteln werden im Buch die Schwierigkeiten der Pflege der internationalen Beziehungen der Gewerkschaften sowie die Geschichte, die Probleme (Sprachprobleme; finzanzielle und personelle Schwierigkeiten) und die Bedeutung der Europäischen Betriebsräte diskutiert. Auch diese Kapitel sind lesenswert.
Rebekka Wyler, Schweizer Gewerkschaften und Europa, Münster, Westfälisches Dampfboot, 2012.
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