Bei vielen Texten zu kontroversen Themen merkt man recht schnell, auf welcher Seite die Autorin oder der Autor steht. Frank R. Pfetsch, der Autor der vorliegenden Einführung in die Europäische Union ist diesbezüglich keine Ausnahme. Pfetsch gehört zu jenen, die den "europäischen Einigungsprozess" befürworten. Das sieht man unter anderem an seiner Sprache, die immer wieder die EU mit "Europa" gleichsetzt. Es ist da die Rede von Kräften, die "gegen Europa" eingestellt sind. Diesen Kräften ist die "Europafreundlichkeit" entgegengesetzt. Ein anderes Wort, das diesbezüglich bezeichnend ist und von Pfetsch verwendet wird, ist "Demokratiedefizit". Der Ausdruck Demokratiedefizit mag zwar kritisch tönen, hat aber einen recht optimistischen Beiklang. Das klingt etwa so, wie wenn ein Steakliebhaber sagen würde, ein vegetarisches Restaurant habe ein Fleischdefizit.
Die vorliegende Publikation ist inhaltlich breit angelegt. Sie beginnt mit einem geschichtlichen Rückblick; dann werden die einzelnen EU-Mitgliedsländer kurz vorgestellt. Weitere Kapitel sind dem Institutionensystem der EU gewidmet, ausserdem wird die Reformdiskussion der EU behandelt. Die verschiedenen Politikbereiche - z.B. die Agrarpolitik, die Wirtschaftspolitik oder die Zusammenarbeit in Justizfragen - werden je in einem gesonderten Kapitel behandelt. Für einen ersten Überblick ist diese gut verständliche Einführung zweifellos geeignet. Allerdings ist sie selbst für eine Einführung etwas oberflächlich herausgekommen. Wer zum Beispiel wissen möchte, was denn Föderalismus in der EU bedeutet, muss sich mit einzelnen im Buch verstreuten Stellen zufrieden geben, die das Thema zwar streifen, aber nicht systematisch darlegen und erklären.
Widersprüchlich ist ausserdem, wie Pfetsch die Frage der demokratischen Legitimation behandelt. Er kritisiert zwar, die EU habe "ein beträchtliches Demokratie- bzw. Legitimationsdefizit" und fordert, die Union müsse sich "dem Bürger öffnen", aber kaum zehn Zeilen später schreibt er: "Der Weg zurück zu einer Straffung der Entscheidungsstrukturen scheint unvermeidlich, wenn angesichts der bevorstehenden Erweiterung die Nichtsteuerbarkeit vermieden werden soll." Er thematisiert dabei nicht, dass eine "Straffung der Entscheidungsstrukturen" meist auf Kosten von demokratischer Partizipation geht. Das Spannungsverhältnis zwischen demokratischer Legitimation und Steuerbarkeit stellt für ihn offenbar kein grosses Dilemma und auch keine Unzumutbarkeit dar. Aus demokratischer Perspektive müsste man aber fragen, wie und weshalb solche Sachzwänge überhaupt entstehen konnten und welchen Interessen sie entgegenkommen.
Pfetschs Äusserungen zur Währungsunion verraten mehr Sorge über die Stabilität des Euro als über die Lage der Menschen, die seine Folgen - zum Beispiel verschärfter Wettbewerb zwischen und in den EU-Ländern - ertragen müssen. Der Währungsunion bescheinigt er bereits im Vorfeld - sein Buch ist 1997 erschienen - eine "heilsame Wirkung" auf Ausgabenpolitik und Preisstabilität. Dass diese Wirkung auch eine Zunahme von sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit einschliesst, erwähnt er nicht. Und wem soziale Ungleicheit kein Thema ist, dem entgeht auch, dass diese sich mit dem Anspruch auf Demokratie und Menschenrechte nicht vereinbaren lässt.
Pfetsch schreibt, das Institutionensystem der EU trage dem Schutz individueller Grundrechte Rechnung. "Zur Sicherung der Menschenrechte können sowohl die Gerichtshöfe in den Mitgliedstaaten als auch der Europäische Gerichtshof angerufen werden." Ob dies einen ausreichenden Schutz der Menschenrechte gewährleistet, ist fraglich. Vor allem wenn man bedenkt, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten einen Abbau der Grundrechte betreiben (dies gilt natürlich auch für die Schweiz, aber dass ist hier nicht das Thema). Ein Beispiel dafür ist das Abkommen von Schengen. Die Abschaffung der Binnengrenzen, mit der dieses Abkommen angepriesen worden ist, ist der einzige freiheitliche Absatz im Schengenvertrag; die restlichen 366 Absätze zielen auf die Einschränkung der Grundrechte. Es geht da um die Verschärfung von Kontrollen im Innern, um mehr Überwachung, um Einreiseverweigerung und Visumszwang für Menschen, die von ausserhalb der Schengen-Staaten kommen. Davon ist in dieser Einführung nichts zu lesen.
Der Grund dafür liegt in der Grundannahme des Autors, die lauten könnte: "Die EU ist grundsätzlich ein wichtiges und sinnvolles Unternehmen, das aber noch einige Fehler hat." Diese Haltung ermöglicht es zwar, einzelne Probleme wahrzunehmen, aber sie führt zum Ausblenden von allen Informationen, die der Grundannahme widersprechen. Alex Schärer
Frank R. Pfetsch: Die Europäische Union. Geschichte, Institutionen, Prozesse. Wilhelm Fink Verlag. München1997.
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