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Das politische System der Schweiz

Adrian Vatter erläutert in der vierten, aktualisierten und erweiterten Auflage seines Lehrbuchs nicht nur die wichtigsten politischen Institutionen der Schweiz, wie die Konkordanz, die direkte Demokratie und den Föderalismus, sondern auch Bereiche wie das Wahlsystem, das Parteiensystem, das Verbandsystem, die Regierung, das Parlament, das Zweikammersystem, die Verfassung und die Justiz. Er untersucht bezüglich dieser Themen die Ebene der Kantone und des Bundes, wobei der Wandel durch die letzten Jahrzehnte verfolgt wird. Zudem wird am Schluss eines jeden Kapitels ein internationaler Vergleich angestellt. Das Buch ist informativ und reichhaltig.

In der Einleitung diskutiert Vatter die Relevanz des politischen Systems der Schweiz für den politisch interessierten Leser. «Das politische System der Schweiz gilt bis heute als Sonderfall unter den modernen Demokratien. Die Ursprünge dafür liegen in einer ausgesprochenen Pluralität unterschiedlicher Sprachen, Konfessionen und Gesellschaftsstrukturen sowie einer kontinuierlichen historischen Entwicklung ohne die für zahlreiche europäische Länder typischen Strukturbrüche durch die beiden Weltkriege . Diese Rahmenbedingen haben zur Herausbildung eines auf den ersten Blick einzigartigen politischen Systems geführt, das sich durch eine aussergewöhnliche Kombination von ausgebautem Föderalismus, starker direkter Demokratie und ausgeprägter Konkordanz auszeichnet.» Folgende Besonderheiten sprechen gemäss Vatter für eine vertiefte und vergleichende Analyse der Schweiz:

1. Die Schweiz stellt gemäss verbreiteten Vorstellungen und gemäss Vatter eine sogenannte Willensnation auf multikultureller Grundlage dar. Vatter meint, dass die Schweiz im Gegensatz zu den meisten Staaten nicht durch eine gemeinsame Sprache, Konfession, Ethnie oder Kultur zusammengehalten werde. Diese Darstellung ist kritisierbar: es ist z.B. nicht einsichtig, was eine Nation sein soll. Noch viel weniger kann man sich etwas unter einer «Willensnation» vorstellen. Der Unterschied der Schweiz etwa zu den umliegenden Ländern liegt zudem nicht darin, dass die übrigen Länder sprachlich, kulturell, «ethnisch» völlig einheitlich wären, sondern darin, dass es in den umliegenden Ländern jeweils eine Sprache gibt, die viel dominanter ist als in der Schweiz - anerkannte Sprachen in der BRD sind etwa neben deutsch dänisch, sorbisch, nordfriesisch. Während in der Schweiz ein verbreitetes Bewusstsein dafür besteht, dass in der Bevölkerung verschiedene Sprachen gesprochen werden, ist das in Deutschland vermutlich weniger der Fall.

2. Vatter meint, die Schweiz sei eine Art Minieuropa: Die Schweiz biete sich mit ihrer ausgesprochen grossen politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Heterogenität innerhalb eines föderalen Systems auf kleinstem Raum als ideales Forschungslabor an. Der norwegische Politikwissenschafter Stein Rikkan (1970) meinte, die Schweiz habe den schwierigen Einigungsprozess mehrerer souveräner Staaten zu einem föderalen Bundesstaat schon im 19. Jahrhundert erfolgreich durchlaufen. Wer die Dynamik und Realität der europäischen Integration heterogener Staaten und ihre Fort- und Rückschritte verstehen wolle, solle deshalb die Schweizer Politik und Geschichte studieren. Die Darstellung erinnert etwas an Propaganda der EU-Befürworter: sie picken eine wirkliche oder angebliche Errungenschaft in ihrem Land heraus und stellen diese dann als Vorbild für den Rest Europas dar. Daraus folgern sie einen Auftrag ans eigene Land, das Vorbildliche im Rest Europa zu verwirklichen – Propaganda, die an den Nationalismus der Widerspenstigen appelliert.

Schliesslich ist gemäss Vatter die Schweiz ein modernes direktdemokratisches Labor. Die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme in zahlreichen Staaten machten gemäss Vatter deutlich, dass gerade die bedeutendsten schweizerischen Institutionen wie die direkte Demokratie, der Föderalismus und die Konkordanz in jüngerer Zeit stark an Attraktivität gewonnen hätten. Nach der Einleitung wird das Wahlsystem diskutiert (z.B. Majorz oder Proporz, Aufteilung in Wahlkreise, Quoren, Listenverbindungen, etc.). «Wahlsysteme sind die Regeln, nach welchen die Wähler ihre politischen Präferenzen für Parteien und Kandidierende in Stimmen ausdrücken und wie diese in Mandate übertragen werden. Sie prägen den Charakter eines politischen Systems entscheidend mit und werden von führenden Politikwissenschaftlern als das fundamentalste Element der repräsentativen Demokratie betrachtet.» So besteht in der Schweiz etwa ein starker Zusammenhang zwischen Wahlkreisgrösse und der (fehlenden) Übereinstimmung von Stimmen- und Abgeordnetenanteilen: je grösser die Wahlkreise sind, desto besser wird die Parteienlandschaft gemäss der gemachten Stimmen abgebildet.

Im dritten Kapitel untersucht Vatter das Parteiensystem in der Schweiz. Wichtige Einflussfaktoren auf die Parteienlandschaft haben das Proporzwahlsystem und die direkte Demokratie – letztere bedingt, dass Parteien und Wahlen weniger wichtig sind als in anderen Ländern. Weitere Faktoren für die Schwäche der Parteien in der Schweiz ist die gesellschaftliche und kulturelle Heterogenität der Schweiz sowie die politische Kleinstrukturiertheit (Gemeinden und Kantone). Zudem gibt es in der Schweiz keine staatliche Finanzierung der Parteien.

In den letzten drei Jahrzehnten kam Fluss ins Parteiensystem: «Angesichts der wachsenden Furcht vor dem Verlust schweizerischen Traditionen durch die Europäisierung und Globalisierung der Politik gelingt es vornehmlich der SVP, die national-konservative Wählerschaft in den bürgerlichen Parteien sowie rechte Protestwähler im Rahmen dieses Identitätskonflikts zu sammeln, während die Globalisierungsgewinner hauptsächlich durch die SP und die Grünen mobilisiert werden» (S. 105). Die Demokratiefrage, die sich im Zusammenhang mit der Internationalisierung stellt, wird hier auf Identitätsprobleme und die Angst vor dem Verlust von Traditionen reduziert. Die Darstellung steht zudem in einem gewissen Spannungsverhältnis zu einer späteren Aussage: «In Bezug auf die Berufsgruppen sticht heraus, dass in neuerer Zeit die SVP nicht nur von den Bauern, dem alten Mittelstand und Selbständigen am stärksten gewählt wird, sondern auch von der ungelernten Arbeiterschaft. Damit in Einklang steht die Tatsache, dass noch 2011 fast jeder zweiter Wähler aus den untersten Einkommens- und Bildungsschichten die SVP wählten und sich damit die Verlierer der fortlaufenden Globalisierung auf die Seite dieser Partei geschlagen haben».

Interessant ist die mit Literaturangaben zu Studien belegte Entwicklung der SP von einer Arbeiterpartei zu einer Partei der neuen Mittelschichten. «Während die ungelernte, teilweise auch die gelernte Arbeiterschaft zu beträchtlichen Teilen von der SP zur SVP abgewandert ist, wandten sich die neuen Mittelschichten, vor allem die sogenannten soziokulturellen Spezialisten (z.B. Beschäftigte in der Sozialarbeit, Lehr- und Pflegeberufen) sowie technische Spezialisten und Kaderangestellte den Sozialdemokraten zu.» In einer Studie von Sciarini (2010) wird der SP der Charakter einer milieuspezifischen Partei zugeschrieben, die hochqualifizierte Junge, Frauen und Städter sowie Personen in soziokulturellen und -technischen Berufen anspricht. Es sind dabei vor allem die Grünen, die neben der SP um die Gunst dieser neuen urbanen Wählerschicht buhlen, wobei sich die grüne Wählerschaft nur um Nuancen von derjenigen der sozialdemokratischen unterscheidet: Sie verfügt insgesamt über eine noch etwas besser formale Bildung, leicht höhere Einkommen und ist noch etwas weiblicher (S. 138).

In einem vierten Kapitel analysiert Vatter die Verbände und das Verbandsystem in der Schweiz. Die Wirtschaftsverbände (Unternehmer wie Gewerkschaften) haben in den letzten dreissig Jahren einen gewissen Mitgliederschwund zu verschmerzen. Bei den Gewerkschaften liegen die Gründe dafür vor allem im wirtschaftlichen und technologischen Strukturwandel (Tertiarisierung) sowie einer verstärkten Feminisierung des Arbeitsmarktes. Die Gewerkschaften konnte sich kaum im privaten Dienstleistungssektor etablieren, wo auch neue Arbeitsplätze geschaffen werden (S. 167). Bezüglich der Regierung konstatiert Vatter einen Bedeutungsverlust des Kollegialitätsprinzips. Es dominiert zunehmend das Departementalprinzip. Darunter werden die Vorbereitung und der Vollzug der Regierungsgeschäfte durch die einzelnen Bundesräte in den jeweiligen Departementen verstanden. Der Bedeutungsgewinn des Departementalprinzips hat zur Folge, dass dem Bundesrat zu wenig Zeit für eine übergeordnet strategische und politische Regierungsführung bleibt (S. 224). Durch die Europäisierung der Politik konnte der Bundesrat Gewicht gewinnen, indem er in den meisten Fällen als Vermittler des äusseren Drucks dient, da die Regierung für die Anpassung des Schweizer Rechts an internationales Recht verantwortlich ist.

Die schweizerische Bundesversammlung hat verfassungsrechtlich betrachtet eine starke und unabhängige Position. Sie wählt die Regierung und die Bundesrichter. Die Regierung verfügt nicht über ein Vetorecht gegenüber dem Parlament. Die Legislative und ihre Mitglieder verfügen über ausgeprägte Informations-, Antrags- und Initiativrechte. Das Bundesgericht kann Erlasse des Parlamentes nicht auf Verfassungsmässigkeit überprüfen. Gemäss Verfassung ist die Bundesversammlung die «oberste Gewalt», unter Vorbehalt der Rechte von Volk und Kantonen (Art. 148 BV). Die Parlamente habe sich dabei von Milizparlamenten zu Halbberufsparlamenten gewandelt. Das Einkommen der Parlamentarier erreicht heute Bezüge, die bei den zehn Prozent der bestverdienenden Berufsangestellten der Schweiz liegen. Bei den Fraktionen ist ein Trend hin zu mehr Parteilinientreue festzustellen.

Damit ein paar Feststellungen aus Kapiteln, die jeweils umfangreich sind und auch viel empirisches Material enthalten. Es gibt sicher ein paar kritisierbare Punkte - z.B. eine oft allzu einfache Darstellung von Parteien auf einer einzigen Achse von links nach rechts nach diskutablen Kriterien und eine gewissen Tendenz, fragwürdige Indizes zu berechnen, um dann auf diese paarweise statistische Verfahren anzuwenden, die nur für metrische Daten geeignet sind. Das Buch ist insgesamt sehr informativ und sehr lesenswert.

Adrian Vatter (2020), Das politische System der Schweiz, 4. Auflage, Baden-Baden: Nomos-Verlag (Studienkurs Politikwissenschaft).


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