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Die Beteiligung des Deutschen Bundestages an der Sekundärrechtssetzung der Europäischen Union

Clarissa Freundorfer analysiert – ausgehend von der „Sternstunde der Peinlichkeit“, als deutsche Parlamentarier vor dem Deutschen Bundesverfassungsgericht anlässlich der Verhandlungen über das Gesetz zum Europäischen Haftbefehl ihre massive Unkenntnis der Verfahren, bei denen auch der Deutsche Bundestag eine Rolle hätte spielen können, zum Besten gaben – die Rolle des Deutschen Bundestages bei der EU-Gesetzgebung. Durch ihre ausführlichen Analysen kommt sie zum Schluss, dass der Bundestag nach wie vor nicht in der Lage ist, seine Rechte in EU-Angelegenheiten effektiv auszuüben. Es muss davon ausgegangen werden, dass der Bundestag wenig bis gar keinen Einfluss auf die europäische Rechtsetzung ausübt. Das ist angesichts der Menge an Kompetenzen, die zwischenzeitlich auf die EU übergegangen sind, ein besorgniserregender Befund. Selbst wenn die nationalen Parlamente durch den Vertrag von Lissabon pro Forma zusätzliche Rechte erhalten (Stichwort: Frühwarnmechanismus), ist es äußerst zweifelhaft, ob der Bundestag in der Lage wäre, diese neuen Rechte überhaupt wahrzunehmen. Dafür bedürfte es nämlich einer wesentlich frühzeitigeren Beratung von EU-Vorlagen und überdies einer besseren Vernetzung mit anderen nationalen Parlamenten.

Es stellt sich die Frage, woran die unzureichende Wahrnehmung der Rechte des Bundestages liegt. Es ist eher zweifelhaft, dass es dem Bundestag an ausreichenden Mitwirkungsrechten fehlt. Denn die Rechte, die der Bundestag bereits hat, nutzt er nicht annähernd aus. So werden nur zu sehr wenigen EU-Vorlagen überhaupt Stellungnahmen abgegeben und das Beispiel der Beschlussempfehlungen des Rechtsausschusses zu EU-Vorlagen zeigt, dass diese sehr weich formuliert sind, mithin noch nicht einmal eine politische Bindung erzeugt werden soll. Wenn der Bundestag aber schon jetzt den Spielraum bei der Herbeiführung einer Bindung der Bundesregierung nicht ausnutzt, warum sollte es dann etwas ändern, wenn der Vertrag von Lissabon eine stärkere Bindung ermöglichen würde?

Am Anfang der europäischen Integration war der politische Wille zu einer starken Mitwirkung des Bundestages nicht sehr ausgeprägt. Es bestand ein weitgehender politischer und gesellschaftlicher Konsens darüber, dass die Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaften sinnvoll ist und insgesamt einen großen Nutzen für die Gesellschaft hat. Dieses Phänomen bekam in der Politikwissenschaft den Titel "permissive consensus". Dies führte dazu, dass die Legitimität der Gemeinschaften gar nicht in Frage gestellt wurde und folglich auch kein besonderer Bedarf für eine Mitwirkung des Bundestages gesehen wurde. Von einem "permissive consensus" kann heute allerdings sicher nicht mehr gesprochen werden. Die Legitimität der Tätigkeit der Europäischen Union wird vielmehr häufig in Frage gestellt. Außerdem hat sich die Gewissheit durchgesetzt, dass die nationalen Parlamente eine eigene wichtige Rolle bei deren Legitimation zu spielen haben. Man kann daher davon ausgehen, dass ein grundsätzlicher Wille des Bundestages, auch an der Rechtsetzung der EU mitzuwirken, gegeben ist. Allerdings fehlt der politische Wille, die Bundesregierung bei ihrer Tätigkeit auf dem EU-Parkett deutlich zu binden. Die Beschlussempfehlungen des Rechtsausschusses haben gezeigt, dass der Bundestag bemüht ist, der Bundesregierung größtmögliche Handlungsfreiheit im Rat der EU zu belassen.

Dem Bundestag fehlt neben dem politischen Willen die zeitliche und personelle Kapazität für die Behandlung von EU-Vorlagen und das Verfahren der Überweisung von EU-Vorlagen funktioniert nicht richtig. Anhand des Beispiels des Rechtsausschusses zeigt Freundorfer auf, dass EU-Vorlagen in den Ausschüssen zu spät behandelt werden, um noch wirklich Einfluss nehmen zu können. Das Überweisungsverfahren dauert schlichtweg zu lange. Es steht aber auch zu wenig Zeit zur Verfügung, um die EU-Vorlagen zu beraten. Um wirklich Einfluss nehmen zu können, müsste wesentlich intensiver über die Vorlagen beraten werden. Notwendig wäre auch eine bessere Aufbereitung der Vorlagen innerhalb des Bundestages. Die Abgeordneten müssten sich eine eigene Informationsbasis über die Vorlagen erschließen. Sie dürfen sich nicht nur auf die Informationen verlassen, die ihnen von der Bundesregierung zur Verfügung gestellt werden. Außerdem sollten sie wichtige Vorhaben auf europäischer Ebene frühzeitig identifizieren, noch bevor sie den Ausschüssen überwiesen worden sind. All dies kann wohl nur durch eine Aufstockung des Personals, welches den Abgeordneten und den Ausschüssen zuarbeitet, erreicht werden. Die notwendige zeitliche Kapazität für die Beratung der Vorlagen müsste letztlich auf Kosten der Beratungszeit für nationale Vorlagen gehen. Hier müssen sich die Abgeordneten bewusst werden, in welchem Maße gesetzgeberische Entscheidungen inzwischen auf europäischer Ebene getroffen werden. Die Zeit für "Scheingefechte" über nationale Umsetzungsgesetze, bei denen inhaltlich oft gar nichts mehr zu bewegen ist, könnte man sich gemäss Freundorfer jedenfalls ersparen, wenn man schon bei der Beratung des europäischen Rechtsaktes effektiv mitgewirkt hätte.

Die unzureichende Mitwirkung des Deutschen Bundestages führt dazu, dass keine ausreichende demokratische Rückkopplung der Handlungen der deutschen Regierungsvertreter im Rat an den Willen des deutschen Volkes erfolgt. Der theoretisch vorhandene Legitimationsstrang zum Bundestag funktioniert in der Praxis nicht. Der Bundestag wird seiner aus den Prinzipien der Demokratie und der Gewaltenteilung abgeleiteten Verpflichtung zur Mitwirkung an der europäischen Rechtsetzung nicht gerecht. Die mangelhafte Mitwirkung des Deutschen Bundestages führt aber nicht nur zu einem Defizit an parlamentarischer Beteiligung, sondern birgt auch die Gefahr in sich, dass auch die Regierung selbst nicht in notwendigem Maße an der europäischen Rechtsetzung beteiligt ist.

Wenn der Bundestag von der Regierung keine Rechenschaft über ihr Abstimmungsverhalten bei europäischen Vorlagen verlangt, ist es aber denkbar, dass die Regierung viele Vorhaben gar nicht vollständig selbst hinterfragt, sondern ihrem ministeriellen Unterbau vertraut. Es wurde herausgearbeitet, dass die Mehrheit der Beschlussgegenstände als so genannte A- Punkte auf die Tagesordnung des Rates der EU gelangen. Über diese Gegenstände wird in der Ministerratssitzung ohne vorherige Aussprache entschieden. Hier ist die endgültige Entscheidung also praktisch bereits in den Arbeitsgruppen des Rates gefallen. In diesen Arbeitsgruppen sitzen jedoch nicht die Minister oder Staatssekretäre, sondern Ministerialbeamte. Aufgrund der Masse der jährlich zu bewältigenden EU-Vorhaben ist nicht auszuschließen, dass hier Entscheidungen getroffen werden, ohne dass sie jemals auf der politischen Ebene der Regierung behandelt worden wären. Auch deshalb muss der Bundestag aufmerksam sein und von der Regierung gegebenenfalls Rechenschaft verlangen. Insofern würde eine stärkere Mitwirkung des Bundestages auch eine Stärkung der politischen Leitungsebene gegenüber der operativen Ebene der Ministerien nach sich ziehen.

Clarissa Freundorfer, Die Beteiligung des Deutschen Bundestages an der Sekundärrechtsetzung der Euorpäischen Union, Bern, Peter Lang, 2008.


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