Professor Wolf Linder legt in seinem Buch eine recht detaillierte Analyse des schweizerischen politischen Systems vor. Er stellt seine Untersuchungen unter die Leitidee der Demokratie: "die grundlegende Leitidee von Demokratie zielt weit: sie erstrebt die chancengleiche Entfaltung aller Fähigkeiten und Fertigkeiten der Person in der Gesellschaft. Zwischen diesem utopischen Ideal von Demokratie und seiner realen Verwirklichung klafft eine erhebliche Distanz. Das gilt auch im schweizerischen System. Auch hierzulande gibt es das Gefühl politischer Ohnmacht, den Befund politischer Apathie oder Unzufriedenheit, die Erscheinung wenig kontrollierter oder intransparenter Macht. Wir finden sodann keine Hinweise dafür, dass gesellschaftliche Ungleichheit, die Abhängigkeit von den globalen Zwängen der Ökonomie in der schweizerischen Demokratie stärker abgebaut oder zurückgedrängt werden könnten als anderswo".
Nach einer historischen Einleitung untersucht Linder die verschiedenen Aspekte des schweizerischen Staates: das Volk, die Parteien und das Parteiensystem, die Verbände, die sozialen Bewegungen, den Föderalismus, das Parlament, die Regierung, die direkte Demokratie, die Konkordanz. Anschliessend diskutiert Linder die Perspektiven der direkten Demokratie, des Föderalismus und der Konsendemokratie sowie generell die "Zukunftsfähigkeit" der schweizerischen Institutionen. Seine Darlegungen sind lesenswert, wenn auch Kritiken an der direkten Demokratie nicht immer durch die Gegenüberstellung mit der realexistierenden parlamentarischen Demokratie relativiert werden. Nicht folgen kann man Linder in seinem Schlusskapitel, das dann vor allem auch in der Presse aufgegriffen wurde. Hier propagiert er den EU-Beitritt, ohne diesen unter dem Aspekt der "chancengleichen Entfaltung aller Fähigkeiten und Fertigkeiten der Person in der Gesellschaft." zu analysieren, ohne zu überprüfen, wie sich ein solcher auf "Gefühle politischer Ohnmacht" auswirkt und wie es mit "wenig kontrollierter oder intransparenter Macht" in der EU im Vergleich zur Schweiz aussieht.
Zudem schleichen sich bezüglich der EU bei Linder krasse Fehler ein, die einem universitären Politologen nicht unterlaufen dürften: "Bei der Anwendung und Umsetzung des sekundären Rechts [der EU] sind zwei Konstellationen zu unterscheiden. EU-Verordnungen sind in jedem Land direkt anwendbar und haben Vorrang vor dem Landesrecht.[..] Verordnungen sind jedoch relativ selten. Der grösste Teil der EU-Harmonisierung erfolgt durch Richtlinien." (S. 383). Dies ist schlichtweg falsch: Laut Integrationsbericht 99 wurden vom 1. Januar 1992 bis zum 30. Juni 1998 von der EU 2'100 Verordnungen und 204 Richtlinien erlassen. Zudem vergisst Linder zu erwähnen, dass Richtlinien immer konkreter ausgestaltet werden und damit bei der Umsetzung ins Landesrecht immer weniger Spielraum verbleibt. Zuletzt unterschlägt er die Tatsache, dass Richtlinien dann unmittelbar anwendbar sind, wenn sie nicht fristgerecht in Landesrecht umgesetzt werden.
Bedenklich auch Linders Ratschlag, im Falle eines EU-Beitritts das EU-Recht nicht immer einzuhalten. Das wesentliche Rechtsgut der Rechtssichterheit, das für allem für Kleinstaaten von zentraler Bedeutung ist, opfert er bereitwillig, um dem Leser den EU-Beitritt schmackhaft zu machen und ihm zu suggerieren, dass man in der EU als Staat eigentlich frei ist, das zu übernehmen, was einem in den Kram passt. Linder behauptet, die Globalisierung schränke den Handlungsspielraum der Schweiz ein, nicht jedoch ein EU-Beitritt. Dabei ist Globalisierung in Europa vor allem ein europäisches Binnen-Phänomen. 90% des internationalen Handels der EU-Länder findet innerhalb der EU statt. Ein EU-Beitritt beinhaltet ein Ausmass an Übernahme von Recht, die mit keinen sonstigen wirklichen oder angeblichen Zwängen der globalisierten Welt zu vergleichen ist. Linder verkörpert auch die Tendenz, Globalisierung als naturwüchsigen Prozess zu schildern, dem man sich einfach zu unterwerfen hat: "Freilich kann die Schweiz anders als in der Europa-Frage [!] nicht darüber entscheiden, ob sie der Globalisierung beitreten will oder nicht" (S. 381). Linder unterlässt es, die Rolle der Regierungen (auch der schweizerischen) im Prozess der Globalisierung zu analysieren. Es ist nämlich keineswegs so, dass Kompetenzen den Regierungen einfach so "entgleiten", wie dies Linder darstellt. Die Stärkung der internationalen Ebene ist oft ein Versuch der Regierungen, Entscheidungen an den demokratischen Kontrollen ihrer Länder vorbei durchzusetzen.
Wolf Linder, Schweizerische Demokratie, Institutionen, Prozesse, Perspektiven, Bern, Haupt, 1999.
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