Übersicht Buchbesprechungen Die Europäische Integration als ElitenprozessMax Haller, Professor der Soziologie an der Universität Graz, legt ein umfangreiches Buch zur EU als Elitenprozess und -Projekt dar. Zuerst analysiert er die zunehmende Kluft zwischen den „Eliten“ und den Bürgern bezüglich des EU-Projektes. Diese äussert sich auf verschiedenen Feldern: Da ist erstens die häufige Ablehnung von „Reformverträgen“ durch die Bevölkerung von Mitgliedstaaten, sollten diese ausnahmsweise befragt werden (Ablehnung der „Verfassung“ durch Frankreich und die Niederlande 2005; Ablehnung des Vertrages von Lissabon durch die Iren im Jahr 2008). Eine Kluft ergibt sich zweitens auch zwischen den Ergebnissen von Abstimmungen in Parlamenten und Resultaten bei Volksbefragungen. Die Unterschiede betragen um die 20 bis 30 %. Zuletzt ergeben Meinungsumfragen ein wenig enthusiastisches Bild der EU-Integration bei Bürgern, in Abweichung von der Euphorie der politischen „Eliten“. Bei den „Eliten“ schätzen um die 95% die EU-Integration als positiv für ihr Land ein, bei der Bevölkerung glauben weniger als die Hälfte (46%), dass dies der Fall ist. Auch der Umstand, dass die Bevölkerungen vieler Mitgliedsländer nie in Volksabstimmungen konsultiert wurden, zeugt von dieser Kluft. Die Kluft wird von Haller an Hand zahlreichen Datenmaterials systematisch nachgewiesen. Haller kommt zum Schluss: bezüglich der EU-Integration leben Politiker und die Bevölkerungen in zwei verschiedenen Welten.
In den nächsten Kapiteln des Buches versucht er dann, diese Kluft zwischen Eliten und Bürgern zu erklären. Er lässt sich dabei von folgenden Hypothesen leiten: (a) Die Eliten haben den Integrationsprozess ohne Einbeziehung der Bürger vorangetrieben. Als Folge davon sehen die neuen Institutionen keine Möglichkeit für eine substantielle Mitarbeit der Bürger vor; tatsächlich wurden die Möglichkeiten der demokratischen Mitbestimmung auch auf der Ebene der Mitgliedsstaaten reduziert, weil viele ihrer Kompetenzen auf die Union übertragen wurden. (b) Im Hinblick auf die soziale und wirtschaftliche Entwicklung profitieren Eliten und Bürger sehr unterschiedlich vom Integrationsprozess. Dies wurde in den letzten Jahrzehnten, nach der Beseitigung des eisernen Vorhanges und dem Beitritt der früheren staatssozialistischen Länder in die EU am deutlichsten. Diese Prozesse eröffneten immense Möglichkeiten für Investitionen und Profite für westeuropäische Wirtschaftsunternehmen, sie führten aber nicht zu einem entsprechenden Anstieg von Beschäftigungsmöglichkeiten und Einkommen unter der Bevölkerung insgesamt. Es gilt deshalb, die Motive, Strategien und Handlungsweisen der drei mächtigen Elitengruppen - der politischen, ökonomischen und bürokratischen Eliten – zu untersuchten sowie die Ideen von „Intellektuellen“ in Zusammenhang mit der europäischen Integration darzustellen.
Es erscheint paradox, dass die politischen Eliten die EU-Integration vorangetrieben haben, welche ihnen erhebliche Kompetenzen auf der Ebene ihres eigenen Staates weggenommen hat. Die Erklärung, die für dieses Paradox üblicherweise gegeben wird, lautet, dass die nationalen Politiker dazu bereit waren, weil sie - angesichts des Aufstiegs neuer Supermächte und des Durchbruchs der Globalisierung - auf diese Weise die Autonomie ihres eigenen Staates aufrecht erhalten oder wieder herstellen konnten. Das hiesse, dass die Eliten im Interesse ihrer Nationen handeln. Eine nüchterne Analyse der Interessen der politischen Eliten zeigt aber auf, dass die EU-Integration von den Eliten vor allem auch deshalb vorangetrieben wird, weil sie ihnen vielfältige, persönliche und kollektive Vorteile bringt. (1) Durch die EU-Integration werden viele neue politische Positionen und Karrieren im Europäischen Parlament, in der Kommission und im Europäischen Gerichtshof eröffnet. Diese Positionen eröffnen Möglichkeiten für neue Karrierechancen für national Politiker ausserhalb ihres eigenen Staates, die früher gar nicht existiert haben. (2) Die neuen Karrieremöglichkeiten eröffnet Parteien zusätzliche Möglichkeiten, Politiker für ihren Einsatz für die Partei zu belohnen. (3) Darüber hinaus besitzt die Teilnahme der Mitglieder von nationalen Regierungen an den regelmässigen Treffen und Entscheidungen auf der europäischen Ebene einen hohen symbolischen Wert. Sie können sich wichtig fühlen und den Eindruck haben, grosse Politik zu machen. (4) Schliesslich eröffnet die EU-Integration auch Möglichkeiten, politische Ziele durchzusetzen, die zuhause wenig populär sind. Die Exekutive und der Staatsapparat können sich der parlamentarischen und demokratischen Kontrolle in den Heimstaaten dadurch entziehen, dass sie Entscheide auf der EU-Ebene treffen.
Die EU-Integration wurde und wird vor allem mit wirtschaftlichen Argumenten begründet: die Etablierung eines grossen, freien Marktes fördere Wirtschaftswachstum und Wohlfahrt für alle. Die wirtschaftlichen „Eliten“ spielten seit Beginn der EU-Integration eine ausschlaggebende Rolle, wobei sie eigene Interessen verfolgt. Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) diente auch den Interessen der französischen und deutschen Kohle- und Stahlindustrie; ihre Weiterentwicklung zur EWG und zum vollen freien Markt der EU, ebenso wie die Erweiterung der Union nach Süden und Osten, wurden von den aufsteigenden europäischen Unternehmen und multinationalen Konzernen nach Kräften gefördert und nach ihren Vorstellungen gestaltet. In manchen Aspekten wurde in der EU eine besondere Form von reguliertem Kapitalismus institutionalisiert, der auch Elemente eines neuen Korporatismus auf grosser Stufenleiter involviert - im Dienste mancher Unternehmungen in der EU. Multis und Interessenverbände können in Brüssel für viele Länder auf einmal Regulierungen beeinflussen – demokratischer Kontrolle weitgehend entzogen. Für sie wäre die Durchsetzung genehmer Regelungen in jedem Land kostspieliger und wegen der demokratischen Kontrolle unsicherer. Diese Fakten und Tendenzen sind in der Öffentlichkeit nicht unbemerkt geblieben. Die enge Verflechtung zwischen wirtschaftlichen und politischen Interessen, der überproportionale Einfluss von Grossunternehmen und ihren Lobbyisten in Brüssel ist nicht zuletzt einer der Gründe für die zunehmende Skepsis gegenüber dem Integrationsprozess. Zudem hat die EU-Integration nicht jene grossen Wohlstandszuwächse mit sich gebracht hat, die immer wieder versprochen wurden. Die Arbeitslosigkeit hat sich auf hohem Niveau trotz (oder wegen) der Schaffung des Binnenmarktes und der Einheitswährung stabilisiert.
Die im Jahr 1957 eingerichtete „Hohe Behörde“ der EGKS, die später zur heutigen EU-Kommission entwickelt wurde, ist die zentrale Institution, welche die „Monnet-Methode“ umsetzt: eine kontinuierliche und in der Regel mit kleinen Schritten voranschreitende Integration, ohne die Formulierung eines bestimmten Endzieles. In der Kommission und ihrer Verwaltung finden solche Schritte tagtäglich und tausendfach statt, ohne dass sie große öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen - auch in Zeiten von »Eurosklerose«. Dadurch kann man, demokratisch unkontrolliert, politischen Einfluss haben und Entwicklungen steuern. Zudem kann man die eigenen Privilegien sichern und die eigene Macht durch Wachstum der Bürokratie erweitern. Dieses Wachstum wird garantiert zum einen durch eine kollektiv agierende Kommission und mächtige, von der Öffentlichkeit abgeschirmte Generaldirektoren, und zum zweiten durch die Existenz einer umfangreichen Bürokratie und eines eng mit ihr verflochtenen Netzwerks von nationalen und europäischen Politikern, Beamten, Experten und Lobbyisten. Sie alle entwickeln ein Eigeninteresse an der Aufrechterhaltung ihres Einflusses und ihrer Macht, ihres Status und ihrer Privilegien. Jobs in der Euro-Bürokratie in Brüssel sind sehr gefragt, da Beamte dort mehr verdienen als in den Staatsbürokratien in ihren Mitgliedstaaten. In diesem Sinn ist eine echt neue »europäische Elite« entstanden - zusammengesetzt aus all den Menschen, deren Existenz und Zukunft eng mit der EU verknüpft ist. Diese Euro-Bürokratie ist nicht nur in Brüssel angesiedelt, sondern hat auch Ableger in den nationalen Staatsbürokratien. Dort arbeiten viele Beamte ausschliesslich oder grösstenteils an der Umsetzung von EU-Regulierungen.
Nach der Analyse der Interessen dieser drei Hauptakteure der EU-Integration analysiert Haller die unterschiedlichen Erwartungen gegenüber und Einstellungen zur EU-Integration in den verschiedenen Ländern. Unter anderem zeigt er, dass Wissen über die EU mit EU-Kritik in den Bevölkerungen stark korreliert: je mehr die Bürgerinnen und Bürger über die EU wissen, desto kritischer sind sie. Es erweist sich zudem, dass die EU kaum als „Wertegemeinschaft“ verstanden werden kann. Manche Länder haben mit aussereuropäischen Ländern mehr Gemeinsamkeiten als mit europäischen (z.B. GB, Irland, USA und Australien versus Rumänien). Die Erwartungen der verschiedenen Ländergruppen an die EU-Integration sind sehr unterschiedlich: Für manche von ihnen ist sie ein Mittel, um eine neue, machtvolle Rolle in der Welt spielen zu können (Frankreich). Für andere ist sie ein Mittel, um ökonomische Rückständigkeit und politische Instabilität zu überwinden (Südeuropa) und sich zusätzlich gegen Russland abzusichern (Osteuropa). Für andere sollte die EU ein großer freier Markt bleiben (oder wieder werden; GB); Für die Deutschen dient die Identifikation mit der EU als Ersatz für die durch die historischen Ereignisse unmöglich gewordene nationale Identität. Ein Ausweg aus diesen Widersprüchen und der mangelnden demokratischen Kontrolle wird von vielen darin gesehen, dass die EU eine hohe »Output-Legitimität« aufweist, das heißt effiziente sozioökonomische Leistungen für die Bürger erbringt. Es hat sich jedoch gezeigt, dass diese Leistungen weit weniger spektakulär sind als von den Eliten gepriesen; diese Tatsache wird von den Bürgern auch gesehen. Output-Legitimität ist aber grundsätzlich ungeeignet, fehlende Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bürger zu ersetzen.
Ein ganzes Kapitel widmet Haller der Geschichte der „Europa-Idee“. Haller weist nach, dass man nicht sagen kann, dass die EU einen Jahrhunderte alten Traum von Europa „realisiere“, schon deswegen nicht, weil es einen kohärenten, einzelnen Traum dieser Art gar nicht gab. Die EU-Macher benützen die Ideen über Europa, um ihre politischen Ambitionen zu legitimieren, und bemühen dazu Mythen, wie die Ideologen von Nationalstaaten es schon immer vorführten. Von den Pro-EU-Eliten wird etwa oft von der „Wiedervereinigung Europas“ gesprochen, wobei man sich auf Karl den Grossen beruft. In der Tat sind jedoch das Imperium Karls des Grossen und dieser selber mythische Figuren.
Bei den Europa-Ideen von Philosophen ging es oft, aber nicht immer, um Frieden. Allerdings wurden von den Philosophen (z.B. Kant) und Schriftstellern dabei an ein Europa unabhängiger Demokratien gedacht: der Friede wird durch Demokratie in allen europäischen Staaten abgesichert. Die Idee vom demokratischen Frieden hat sich in Europa nach dem zweiten Weltkrieg bestätigt: der westeuropäische Friede der letzten Jahrzehnte ist gemäss Haller der Demokratisierung der Staaten zu zuschreiben und weniger der EU-Integration, die ihrerseits demokratische Errungenschaften einschränkt. Zudem ist festzustellen, dass für die EU selber, obwohl in Sonntagsreden immer bemüht, der Friede und dessen demokratische Absicherung kein besonders zentrales Anliegen darstellt, im Gegenteil: Der Lissabonner Vertrag fordert eine Erhöhung der Militärausgaben der Mitgliedstaaten. Die Entscheidungen über „Missionen“ liegen in den Händen des Europäischen Rates; er kann eine Gruppe von Mitgliedstaaten mit solchen Missionen beauftragen „um die Werte der Union zu schützen und ihre Interessen zu fördern“. Das EU-Parlament soll nur „regelmässig konsultiert“ werden und über die Entscheidungen der GASP informiert werden. Die Stossrichtung der EU liegt damit eher auf der Linie jener Geschichtsphilosophen und Schriftsteller, welche Grossmachtideen für Europa hegten, als jener, die auf ein friedliches, demokratisches Europa hofften.
Im letzten Kapitel diskutiert Haller mögliche Alternativen. Die Zielrichtung der Schaffung eines europäischen Bundesstaates weist er dabei als unrealistisch und zu konfliktreich zurück. Er möchte die EU als Rechtsgemeinschaft von Staaten definieren, wobei bei künftigen Reformen Exekutivaufgaben der EU zurückzuentwickeln wären und eine schrittweise Demokratisierung von Teilbereichen nötig wäre. Er fordert dazu auch Elemente direkter Demokratie. Er unterlässt es allerdings, soziale Kräfte nachzuweisen, welche an einer solchen Reform interessiert wären und genügend stark wären, um solche durchzusetzen. In der Kritik ist das Buch von Haller stärker als in den Alternativen, wenn auch seine Sicht der EU als „Rechtsgemeinschaft“ interessant ist. Bezüglich EU-Kritik handelt es sich um eines der informativsten und interessantesten Bücher der letzten Jahre.
Max Haller, Die Europäische Integration als Elitenprozess: Das Ende eines Traums?, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009.
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