Das Buch stellt ein Sammlung von Beiträgen zu einer Tagung dar, die 1995 an der Universität Genf stattfand. Es beleuchtet verschiedene Aspekte der Entstehung der Formen direkter Demokratie in der Schweiz. Es werden die vorrevolutionären Traditionen analysiert, die dafür sorgten, dass Ideen der französischen Revolution in der Schweiz auf fruchtbareren Boden fielen als anderswo.
Als vermutlich bedeutsam erwies sich das Bündner Gemeindereferendum. Zwar lässt sich sein Einfluss auf die Entstehung des Referendums in der Schweiz nicht nachweisen, dieser ist aber sehr wahrscheinlich, entstand der erste Vorläufer des modernen Referendums doch 1831 in der Nähe von Graubünden, nämlich im Kanton St. Gallen. Dem Landvolk, dass am 13. Januar 1831 in St. Gallen vor dem Parlament unter der Leitung eines Wirtes demonstrierte, schwebte eine Art dezentralisierte Landsgemeinde vor. Um dies zu verhindern und um das Volk zu besänftigen, schlugen die St. Galler Verfassungsräte ein Gesetzesveto vor, das dem droit de réclamation, wie es in den Artikeln 56 bis 60 der französischen Montagnard-Verfassung von 1793 festgelegt war, glich. Beim St. Galler Veto mussten die Gegner eines Gesetzes allerdings die Mehrheit der Stimmberechtigten für sich gewinnen können, um eine Vorlage zu Fall zu bringen.
Trotz der Absicht der Erfinder, die Demokratie zu zähmen, hatte das St. Galler Veto weitreichende Wirkung. Es stellt eine Form dar, welche die Tradition der älteren demokratischen Institutionen (oder der entsprechende Mythen) im modernen Verfassungsstaat fortzuführen vermochte. Das Beispiel, so restriktiv es auch blieb, wirkte sich auf die Entwicklung fortschrittlicherer Formen in anderen Kantonen aus - ein schöner Beleg dafür, dass institutionelle Erfindungen andere Folgen haben können als die, welche die Erfinder beabsichtigten. Obwohl die französischen Wurzeln des St. Galler Vetos offenkundig sind, wurden diese bei dessen Einführung verschwiegen. Die französische Revolution hatte sich durch Bluttaten und Eroberungskriege desavouiert. Entsprechend wurde die Einführung des Vetos durch alteidgenössische Traditionen gerechtfertigt.
In einem zweiten Teil des Buches werden die freisinnigen Positionen bezüglich der direkten Demokratie dargestellt, sowie die Bewegungen, die zur Stärkung der direkten Demokratie in den Kantonen führte. Die Freisinnigen waren der direkten Demokratie gegenüber mehrheitlich nicht besonders wohlgesonnen. Sie stellen ein Beispiel für das eherne Gesetz der Politik dar, dass niemand Macht freiwillig teilt. Die direkte Demokratie wurde in den 60er Jahren des letzten Jahrhundert von der sogenannten "demokratischen Bewegung" erstritten. Sozial war die demokratische Bewegung im Bauernstand, im städtischen Handwerk und in der Arbeiterschaft jener Zeit verankert. Es ging darum, die Exekutivgewalt zu kontrollieren und die Kompetenzen der Parlamente zu begrenzen. Zum anderen äusserten sich in ihr materielle Interessen: die soziale und ökonomische Notlage der Unterschicht in Stadt und Land sollte mit Hilfe der neu zu schaffenden Institutionen der direkten Demokratie behoben werden.
Die demokratische Bewegung war dabei nicht eine institutionell organisierte einheitliche Kraft. Mit dem Ausdruck wird eher ein ganzes Sammelsurium von verschiedenen Volksaufläufen, kantonalen Bewegungen und politischen Bestrebungen bezeichnet, denen eine einheitliche Doktrin abgeht. Diesen Umstand verwenden denn auch heute Historiker, welche die direkte Demokratie in Hinblick auf die EU-Debatte delegitimieren möchten, um diese ins Zwielicht zu bringen. Gab es in z.B. in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts unter den vielen Strömungen und Aufläufen eine Volksbewegung mit antisemitischen Untertönen und wurden von dieser zugleich direktdemokratische Anliegen vertreten, wird daraus auf die Ambivalenz der Forderung nach direkter Demokratie geschlossen (Martin Schaffner, S. 155 - 162).
Solche Argumentationen sind allerdings unhaltbar und dürften bei Wissenschaftern aus zwei Gründen nicht vorkommen: (1) Vertritt eine Person zwei politischen Positionen B und C, die logisch von einander unabhängig sind, und ist B moralisch verwerflich, kann daraus nicht geschlossen werden, dass C "ambivalent" (oder ebenfalls moralisch verwerflich) ist. (2) Es ist in den Wissenschaften gang und gäbe, zwischen Entstehungs- und Begründungszusammenhang zu unterscheiden. Die Gültigkeit einer Idee oder der moralische Wert eines Grundsatzes hängt nicht davon ab, mit welchen Argumenten oder mit welchen Absichten diese ursprünglich eingeführt wurden.
Von Interesse ist der Artikel von Marc Vuilleumier, der den Zusammenhang von "Sozialismus" und direkter Demokratie nachzeichnet. In der internationalen, sozialistischen Bewegung stritten sich verschiedene Tendenzen: Die direkte Demokratie wurde nach dem Kongress von Eisenach (1869) ins Programm der deutschen Sozialisten aufgenommen. Die Schweiz spielte dabei eine gewisse Rolle, waren doch verschiedene Sozialisten vorübergehend in die Schweiz geflüchtet, wodurch sie einige kantonalen Institutionen der direkten Demokratie kannten. Zudem traten Schweizer Sozialisten wie Bürkli international für die direkte Demokratie ein.
Bei den deutschen Sozialisten gab es aber auch Anhänger der Auflösung des Parlamentarismus in die direkte Demokratie (Rittinghausen). Gegen solche Tendenzen wehrte sich z.B. Karl Kautsky vehement. In der Schweiz selber gehörten die Vorläufer der Sozialisten im Allgemeinen zu den aktiven Betreibern der Stärkung der direkten Demokratie (abgesehen von einigen anarchistischen Strömungen im Jura). Gegen Ende des Jahrhunderts setzte sich allerdings eine partiellere Sicht der direkten Demokratie durch: diese wurde nun durch die Überlegung abgewertet, dass sie die klare Sicht des historischen Prozesses und die Position des "Proletariats" in diesem Prozess zu verschleiern drohe. Geschichtsmetaphysik begann demokratisches Denken zu übertünchen. International verlor die Idee der direkten Demokratie gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der sozialistischen Bewegung ebenfalls an Gewicht. Kautsky machte aus der direkten Demokratie schliesslich in "Parlamentarismus und Sozialismus" eine schweizerische Eigentümlichkeit, die schwer exportierbar sei.
In einem letzten Teil des Buches werden die geschichtlichen Hintergründe der Ausweitung der direkten Demokratie auf Bundesebene analysiert. (1) obligatorisches Verfassungsreferendum in der Bundesverfassung von 1848, (2) fakultatives Referendum in der Verfassung von 1874, (3) Einführung der Verfassungsinitiative im Jahre 1891 und schliesslich die Demokratisierung der Aussenpolitik durch die Einführung des Staatsvertragsreferendums 1921 (gültig für unbefristete und unkündbare Verträge) und dessen Verstärkung 1977 (Beitritt zu internationalen Organisationen und für Akte multilateraler Rechtsvereinheitlichung). Dabei ist etwa erwähnenswert, dass bei der Einführung von mehr direkter Demokratie in aussenpolitischen Dingen zu Beginn des Jahrhunderts ausgerechnet die liberalen Oberschichten der welschen Schweiz eine wichtige Rolle spielte - les tours de passe-passe de l'histoire.
Das Buch liefert interessante Detailinformationen und zeigt die Geschichte der Direkten Demokratie als komplexen Prozess, der sich durch eine Vielfalt von Interessen hindurch artikuliert. Das Buch bleibt aber auch irgendwie bruchstückhaft, etliches bleibt etwas fleischlos. Eine ausführliche, dichte Geschichte der direkten Demokratie, die sich nicht zu sehr von tagespolitischen Bestrebungen leiten lässt - diese Aufgabe bleibt Historikern noch erhalten.
Andreas Auer (Hrsg.), Les origines de la démocratie directe en Suisse, Die Ursprünge der schweizerischen direkten Demokratie, Centre d'études et de documentation sur la démocratie directe, CD2, Faculté de Droit de Genève, Basel, Helbing & Lichtenhahn, 1996.
|