Das Buch veröffentlicht vier überarbeitete Diplomarbeiten zum Thema direkte Demokratie. Ralph Kampwirth schreibt eine lesenswerte Analyse zum Thema "Volksentscheid und Öffentlichkeit: Anstösse zu einer kommunikativen Theorie der direkten Demokratie". Er vermeidet konsequent Idealisierung und Unterschätzung von direkter Demokratie, um dem "wirklichen" Funktionieren der direkten Demokratie bezüglich Meinungsbildung auf die Spur zu kommen. Gleichheit kann bezüglich Teilnahme am politischen Prozess nicht bedeuten, dass es zu keinen Institutionalisierungsprozessen (Arbeitsteilung) und unterschiedlichem Zugang zu den Entscheidungsprozessen kommt. "Gleichheit kann nur im Sinne einer pluralistischen Repräsentation aller relevanten gesellschaftlichen Gruppen und Interessen verstanden werden." (S. 25). Direkte Demokratie etwa ist durchaus ressourcenintensiv (Unterschriftensammlung, Aufbau von Öffentlichkeit für ein Anliegen). Dies ergibt auch ein Spannungsverhältnis zwischen den Zielen der direkten Demokratie und dem direktdemokratischen Alltag. "denn gerade der nötige Aufwand an Ressourcen privilegiert jene Akteure, zu deren Domestizierung das Instrument doch gedacht war" (S. 26). Verbände und Parteien sind jedoch im Allgemeinen keineswegs feurige Vertreter der direkten Demokratie, da sie andere, für sie oft billigere Kanäle zur Verfügung haben und die direkte Demokratie auch als Risiko für ihre Interessen wahrnehmen. Zudem darf die Rolle des Geldes etwa auch nicht überschätzt werden: Die Mehrzahl der amerikanischen Studien kommt zum Schluss, dass ein bedeutender Finanzvorsprung auf der Pro-Seite keinen oder nur einen geringen Einfluss auf den Ausgang einer Volksabstimmung hat. Auf der Contra-Seite hingegen ist ein finanzieller Vorsprung durchaus erfolgversprechend. Geld besitzt demnach eine Vetofunktion.
Wenn auch die direkte Demokratie zu einem guten Teil Asymmetrien und Verzerrungen öffentlicher Diskussion reproduziert, so ist sie dennoch geeignet, bestimmte Verzerrungen und Ungleichgewichte in der öffentlichen Diskussion zu mildern und so mehr Chancengleichheit zwischen den gesellschaftlichen Gruppen und Interessen im Wettbewerb um Redezeit und Aufmerksamkeit zu ermöglichen. "Wir können die direkte Demokratie als ein Verfahren erweiterter Elitenkonkurrenz beschreiben" (S. 31). Das Agenda-Setting wird dem Monopol der Medien und der Parteien teilweise zugunsten oppositioneller Akteure entzogen.
Bezüglich Stimmbeteiligung stellt Kampwirth fest, dass die Stimmbeteiligung bei Volksabstimmungen durchschnittlich niedriger liegt als bei Wahlen. Diese Tatsache erklärt er durch die höheren Informationskosten bei Sachabstimmungen, ihrer oft geringeren Bedeutung gegenüber Wahlen und dem Fehlen des Spannungsmomentes von Personalkonkurrenz. Allerdings erreichen konfliktintensive Abstimmungen durchaus hohe Teilnahmeraten. Interessanterweise gefährden niedrige Beteiligungszahlen offensichtlich nicht die hohe Akzeptanz der direkten Demokratie. Die Möglichkeit teilzunehmen wird hochgeschätzt, selbst wenn man nicht abstimmt. Zudem ist die politische Gesamtaktivität in Gebieten mit direkter Demokratie bedeutend höher als in repräsentativen Demokratien (z.B. Summe aller Stimmabgaben!).
Kampwirth verweist auf die bedeutende Unterrepräsentation der Unterschichten hin, die bei Abstimmungen stärker ausgeprägt ist als bei Wahlen (Ausnahme sind konfliktträchtige, wichtige Vorlagen). Die Differenz erklärt er durch die höheren Informationskosten für Sachabstimmungen. Die direkte Demokratie ist somit ein Beteiligungsinstrument für eine Aktivbürgerschaft, die sich vor allem aus Mittel- und Oberschichten rekrutiert. Allerdings muss bei dieser Feststellung berücksichtigt werden, dass die Unterschichten in den gewählten Gremien noch massiver untervertreten sind. Auch wenn die Beteiligung der Unterschichten an Wahlen durchschnittlich höher ist als bei Abstimmungen, wird durch Wahlen der Zugang zu Gremien, in denen sie völlig unterrepräsentiert sind, nicht verbessert.
Sind die Bürgerinnen und Bürger durch Sachabstimmungen überfordert? Im Vorfeld von Abstimmungen erreicht die öffentliche Diskussion im Abstimmungskampf in der Regel eine hohe Intensität. Sie ist auf den Abstimmungsgegenstand ausgerichtet und dies ermöglicht es dem Publikum, sich bei geringen Kosten zu informieren. Die Diskussions- und Informationsbereitschaft der Aktivbürger nimmt zu, da sie selber entscheiden können (Kosten lohnen sich). Bei einer alleinigen Diskussion im Parlament lohnt es sich nicht, Informationskosten zu tragen. Viele politische Entscheidungen beruhen vor allem auf Werturteilen und moralischen Haltungen. "Auch evaluative Fragen sind mitunter komplex und nicht "einfach" zu entscheiden. Aber die entsprechenden Urteilsfähigkeiten sind nicht - wie etwa in technischen oder rechtlichen Fragen - an Expertenwissen gebunden". (S. 37).
Kampwirth vertritt die Meinung, dass bei komplexen Vorlagen ein Grossteil der Abstimmenden nicht fähig seien, ein sachlich begründetes Urteil über die Vorlage und ihre Konsequenzen zu fällen. Studien hätten jedoch gezeigt, dass es auch schlecht informierten Stimmbürgern gelingen kann, ihre Präferenzen in ein Abstimmungsvotum zu übersetzen, indem die sachlichen Defizite durch den Rückgriff auf kostengünstige Empfehlungen von Akteuren, die ähnliche Präferenzen haben oder die gewöhnlich genau gegenteilige Präferenzen haben. Hier scheint Kampwirth etwas optimistisch zu sein - die Rolle von Abgrenzungsreflexen und Fehlidentifikationen ist vor allem in Umbruchsituationen wohl bedeutsam und führt zu Stimmverhalten, das den eigenen Interessen zuwiderlaufen kann (in einer repräsentativen Demokratie ist man diesbezüglich jedoch noch schlechter dran).
Die Erfolgssaussichten für irreführende Kampagnen sind laut Kampwrith dann hoch, wenn keine stabilen Präferenzen vorhanden sind, das Sachwissen der Bürger gering ist und ein Mangel an Orientierungshilfen (Parteilandschaft, Verbände) vorliegt. Die Propaganda kann sich zwar schlichtweg falscher Informationen bedienen. Diese Taktik ist jedoch riskant, da sie von den Kontrahenten im Abstimmungskampf öffentlichkeitswirksam überführt werden kann. Dadurch droht der Verlust der für die Herstellung öffentlicher Zustimmung entscheidenden Ressource Vertrauen. Erfolgversprechender sind demnach Strategien, die Komplexität nicht sachgerecht reduzieren, ohne jedoch eigentliche Fehlinformationen zu verbreiten. Dies gelingt jedoch nur, wenn die Kampagnen nicht ausgeglichen sind und wesentliche Aspekte von Gruppierungen eingebracht werden, die totgeschwiegen werden können. Zudem sind der Manipulation durch den Sachbezug Grenzen gesetzt. "Der sachbezogne Fokus einer direktdemokratischen Debatte setzt irreführenden Beeinflussungsversuchen gewisse Grenzen, die vermutlich enger sind als in "sachfremden", für personaliserende, inszenierende und symbolische Kommunikationspraktiken anfälligeren Wahlen. Die bisherigen Erfahrungen sprechen dafür, dass Manipulationsversuche zwar im Einzelfall erfolgreich sind, sich aber in einem Rahmen bewegen, der Volksabstimmungen nicht prinzipiell in Frage stellt" (S. 47).
In direktdemokratischen Debatten müssen die Kontrahenten einander ernster nehmen und auf die Argumente wirklich eingehen, da sie die Wähler von ihrem Standpunkt überzeugen müssen. Sie können die Diskussion nicht mehr verweigern. In einer direkten Demokratie liegt der Argumentationsaufwand zur Durchsetzung politischer Ziele höher als in der repräsentativen Demokratie. Dies darf allerdings nicht idealisiert werden. Es wird unter den Bedingungen verschärfter Konkurrenz kommuniziert, nicht die Diskussion, sondern die Mehrheit bei der Volksabstimmung ist das Ziel. Die Sprecher in öffentlichen Arenen wollen nicht den Gegner überzeugen, sondern die Abstimmenden. Handkehrum sprechen Befunde dafür, dass zivilgesellschaftliche Akteure dazu tendieren, einen weniger strategischen, eher argumentativen Kommunikationsstil zu pflegen als Regierungs-, Partei- oder Wirtschaftsvertreter. "Diese Beobachtung lässt sich plausibel erklären, wenn wir bedenken, das Argumente für zivilgesellschaftliche Gruppen schon aufgrund ihres Mangels an anderen Mitteln wie Macht oder Geld eine weitaus wichtigere Ressource darstellen als für politische oder ökonomische Eliten" (S. 51). Auf alle Fälle nötige die direkte Demokratie die politischen Eliten, sich auf die Problemdefinition und Lösungsvorschläge oppositioneller Akteure einzulassen - abgehobenes Regieren und Diskussionsverweigerung der Machthabenden werden erschwert. Die etablierte Politik gerät unter stärkere Begründungszwänge, sie muss Einwände aus der Gesellschaft ernst nehmen und glaubwürdig verarbeiten. Zudem wirkt die direkte Demokratie der Tendenz zu unpraktischer, weil von tatsächlichen Entscheidungszwängen abgelöster Kritik aus der Öffentlichkeit entgegen. Da ein praktikabler Einflusskanal existiert, droht kritischen Akteuren ein Glaubwürdigkeitsverlust, wenn sie nicht versuchen, behauptete Mehrheitsansprüche auf diesem Weg in das politische Entscheidungssystem einzubringen. "Die direkte Demokratie nötigt sie zur Umsetzung ihrer Kritik in tragfähige Politikkonzepte, sie fördert die produktive Einbindung kritizistischer Tendenzen in den Gesetzgebungsprozess" (S. 54).
Interessant ist die Feststellung Kampwirths, dass bei der oft hohen Loyalität von Partei-Anhängern bei Wahlen, diese in mehr als der Hälfte der Abstimmungen wissentlich nicht im Sinne ihrer Partei entscheiden. "Die Bürger nutzen offenbar die Möglichkeit, divergierende Auffassungen im Volksentscheid zum Ausdruck zu bringen, ohne der favorisierten Partei insgesamt den Rücken zu kehren" (S. 43).
Ein zweiter Beitrag widmet sich dem "Willensbildungsprozess im Rahmen von Bürgerentscheiden". Er bleibt leider oft etwas im Begrifflichen stecken. Die beiden letzten Beiträge untersuchen die direkte Demokratie auf kommunaler Ebene: "Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in Bayern, Hessen und Schleswig-Holstein" und schliesslich "Verkehrsberuhigung in Winterthur".
Theo Schiller (Hg.), Direkte Demokratie in Theorie und kommunaler Praxis, Studien zur Demokratieforschung, Frankfurt, Campus, 1999.
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