Im Vorwort der Schrift (Orlando Budelacci) wird auf die Bedeutung des Sprachenthemas in der EU hingewiesen, da diese „Auswirkungen auf die Genese eines Bewusstseins des Zusammengehörens“ habe. Sonst komme es zu keinen „Identitätsbildungsprozessen“. Und weiter: „So ist das Problem der Begründung einer „europäischen Identität“ unmittelbar mit der Sprachenfrage verknüpft“. Da wird also unverblümt ein identitärer Diskurs in Bezug auf die EU-Frage gepflegt.
Im ersten Artikel der Schrift (Georges Lüdi: Braucht Europa eine lingua franca?) geht es – wenigstens bezüglich dieses Aspektes der Frage - dann etwas prosaischer zu. Es werden verschiedene Varianten einer möglichen „lingua franca“ diskutiert. Ursprünglich bezeichnete das Wort „lingua franca“ eine Mischsprache aus Französisch, Italienisch, Spanisch, Griechisch, Arabisch, die in den Mittelmeerhäfen gesprochen wurde. Das Wort wurde dann für ähnliche Mischsprachen verwendet (z.B. Pidgin-Englisch). Meint man mit Lingua franca eine solche Mischsprache, die in spezifischen Bereichen den Austausch zwischen Menschen verschiedener Sprachen ermöglicht, so sind die Sprachen selber nicht in Frage gestellt.
Oft wird aber bei der Anführung der Notwendigkeit einer Lingua Franca für die EU nicht nur eine solche Hilfssprache gemeint. Man versteht darunter eine Universalsprache, welche zumindest von den „Gebildeten“ überall verstanden oder gar gesprochen wird und die sich den lokalen, regionalen oder „nationalen“ Sprachen überlagert (z.B. Latein im Europa des Frühmittelalters, Französisch in Frankreich bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts). Eine solche Variante würde die anderen europäischen Sprachen zurückdrängen: so würden die anderen Sprachen vor allem in der Familie, im persönlichen Bereich und bei Transaktionen im lokalen Kontext (Ladengeschäfte) verwendet. Es würde sich um mündliche Sprachen handeln, die vor allem von „Unterschichten“ gesprochen würden. Auf der anderen Seite würde die Universalsprache (z.B. Englisch) in der Öffentlichkeit, in den Medien, in der Wissenschaft, in den globalen Transaktionen (Banking) und im schriftlichen Bereich verwendet. Sie würde vor allem in den Mittel- und Oberschichten verwendet.
Laut Lüdi braucht eine derartige Entwicklung viel Zeit. Vermutlich um ein bisschen zu provozieren, schreibt er, Indizien in diese Richtung seien bereits sichtbar (z.B. wissenschaftliche Kommunikation in gewissen Fachbereichen nur in Englisch, Englisch als interne Kommunikationssprache in bestimmen Unternehmen etc.). Er zählt dann Vorteile einer solchen Entwicklung auf: Englischsprachige Medien können Agenturmeldungen ohne Übersetzungskosten und – zeit übernehmen. Filme brauchen nicht mehr synchronisiert zu werden. Lüdi stellt die Frage: Werden dereinst Le Temps und die Neue Zürcher Zeitung zu einer einzigen, nationalen Zeitung fusionieren? Mit den Bestrebungen in Richtung Frühenglisch gehe man schon in diese Richtung, meint Lüdi.
Eine dritte Variante versteht Lingua franca als einer den anderen Sprachen beigeordnete Verkehrssprache. Unter Verkehrssprache versteht man dabei eine Sprache, die gewohnheitsmässig zur Kommunikation zwischen Gruppen von Menschen dient, deren Erstsprachen verschieden sind. Verschiedene Sprachen haben in der Vergangenheit eine solche Rolle gespielt. Z.B. Deutsch und Russisch in Osteuropa; Italienisch in bestimmten Berufszweigen in der deutschen Schweiz.
Lüdi selber befürwortet dann ein Modell, wo möglichst viele Leute neben der eigenen Sprache eine Verkehrssprache wie Englisch kennen, sowie zusätzlich mindestens eine weitere Sprache. Die Suche nach einer einzigen weltweiten Verkehrssprache findet er absurd (in Westafrika gab es z.B. schon vor der Kolonisation mehrere Verkehrssprachen: Manding, Sango und Dyula).
Zur Stützung dieser Auffassung beruft er sich auf den Ministerrat des Europarates. Dieser befürwortet eine Mehrsprachigkeit in mindestens drei europäischen Sprachen als Ziel für die europäischen Bildungssysteme (da gehen aussereuropäische Sprachen in typischer Euroborniertheit offenbar verloren). Lüdi meint dann, sprachliche Vielfalt gehöre zum unverzichtbaren historischen Erbe Europas (als würde dies für andere Kontinente nicht auch gelten!). Andererseits gehöre die Freiheit, sowohl im privaten wie auch im öffentlichen Umfeld eine Regional- oder Minderheitssprache zu verwenden zu den fundamentalen Menschenrechten. „Dies wird sowohl in den Vereinbarungen über politische Rechte im Rahmen der UNO wie auch in den Vertragstexten zum Schutz der Menschenrechte und fundamentalen Freiheitsrechte des Europarates unmissverständlich festgehalten“. (S. 15). Ohne die Akzeptanz aller Sprachen droht die Gefahr, dass namhafte Bevölkerungsgruppen auf Grund der Sprache teilweise oder völlig von der Teilnahme am wirtschaftlichen und sozialen Leben in einem Staat ausgeschlossen sind. „In der Tat ist die Teilnahme eines Individuums an gesellschaftlichen Prozessen davon abhängig, dass es Zugang hat zu einer Fülle von Diskursforen und – ebenen“. S. 16.
Der zweite Beitrag der Schrift (Anne Theme: Rechtliche Ausgangssituation und Perspektiven einer Lingua franca innerhalb des europäischen Marktes und der europäischen Politik) ist – im Widerspruch zum Titel – nicht eine nüchterne rechtliche Analyse, sondern oft ein Pamphlet für Vereinheitlichung aus wirtschaftlichen Überlegungen. „Die Kosten für Dolmetscher, Übersetzungen und das notwendige Arbeitsmaterial verschlingen 30 oder mehr Prozent der gesamten Verwaltungskosten der Europäischen Union“. „Die europäische Union wird sich in Zukunft vor ihrer Sprachenproblematik nicht verschliessen können. Um auf wirtschaftlicher Ebene mit den Grossmächten USA und Japan, die ohne interne Sprachbarrieren operieren, konkurrieren zu können, muss sie Reibungsverluste, die durch unterschiedliche Sprachregelungen entstehen, möglichst gering halten. Aber nicht nur auf wirtschaftlicher, auch auf institutioneller Ebene ist sichtbar geworden, dass eine umfassende Regelung des Sprachenregimes notwendig ist. Kommen zu den 15 Mitgliedstaaten weitere hinzu, ist das heutige Sprachenregime der Europäischen Union nicht länger tragbar“ (S. 40).
Neben solchen Aspirationen, die nur auf Kosten der Demokratie gehen können – werden doch durch Vereinheitlichungen Leute aus dem politischen Prozess ausgeschlossen – beschreibt Theme jedoch auch die aktuelle rechtliche Lage. Die EWG hat sich bereits in ihrer ersten Verordnung vom 15.4.1958 mit der Sprachenfrage befasst. Die Verordnung stellt den Grundsatz auf, dass die Nationalsprachen innerhalb der EWG gleichberechtigt sind. Damit bleiben Minderheitensprachen innerhalb der Mitgliedländer Aussen vor. Heute gibt es elf offizielle Amtssprachen, die technisch gleichberechtigt sind. In der Alltagspraxis sind diese jedoch nicht gleichberechtigt. Englisch, Französisch und manchmal Deutsch setzen sich im Brüsseler Alltag durch. Im EU-Parlament können zwar alle ihre Sprache sprechen – aber nicht erwarten, dass ihre Voten direkt in alle anderen Sprachen übersetzt werden. Manche Sprachen werden zuerst ins Englische, Französische oder Deutsche übersetzt, und erst dann in die anderen Sprachen – wie viel dann von der ursprünglichen Intention des Parlamentariers übrigbleibt, kann man sich ausrechnen.
Bezeichnend für die Einstellung der Verfasserin ist das folgende Zitat: „Aus ökonomischen Gründen wird vielfach Englisch als europaweite Amts-, Arbeits- bzw. Handelssprache vorgeschlagen. Dieser Vorschlag ist zwar praxisorientiert, da internationale Politik (ausserhalb der EU) und Wirtschaft bereits auf Englisch abgewickelt werden. Gegen einen solche Vorschlag spricht jedoch neben der ablehnenden Haltung fast aller Mitgliedstaaten die integrationsbremsende Haltung der Briten.“ (S. 40). Wer nicht mit wehenden Fahnen jeden Integrationsschritt der antidemokratischen EU-Politeliten absegnet, soll bestraft werden.
Lüdi, Georges; Theme, Anne, Die Bedeutung einer lingua franca für Europa, Basler Schriften zur europäischen Integration, 60, 2002 (Europainstitut der Universität Basel)
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