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Von der Provokation zum Irrtum

Das Büchlein wurde im Frühjahr nach der Annahme der „Minarett-Initiative“ veröffentlicht und stellt eine kritische Diskussion des Abstimmungsergebnisses dar. Der Titel weist auf eine der Schwächen mancher der Argumentationen hin: wo unterschiedliche Werte und Interessen vorliegen, wird von „Irrtum“ gesprochen, obwohl nicht ersichtlich ist, wie man sich bezüglich Werten „irren“ kann! Die 44 Autoren repräsentieren im übrigen ein recht breites Meinungsspektrum, wobei man en gros drei Hauptgruppen von Argumentationen unterscheiden kann. (1) konkrete Auseinandersetzungen mit Argumenten von Befürwortern; (2) Beschreibung von „Ursachen“ des Ja und (3) Vorschläge für eine Ausweitung der Ungültigkeitsgründe bei Initiativen.

Konkrete Auseinandersetzungen mit Argumenten erfolgen eher spärlich. Eine diesbezügliche Ausnahme stellt der Beitrag von Elisabeth Joris und Katrin Riederer dar, welche recht ausführlich die Argumentationen z.B. von Julia Onken oder von SP-Frauen diskutiert, welche ein Burka-Verbot bejahen. Sie kritisieren solche Einstellungen: „Ein den Menschenrechten verpflichteter Staat erlässt Gesetze, welche die Wahlfreiheit schützen, und gibt den Menschen die Möglichkeit sich zu wehren, falls irgendwer diese Wahlfreiheit beschränken will. Absicherung der individuellen Rechte und Freiheiten heisst daher, frei zu wählen, für sich zu entscheiden, ob er oder sie religiös aufgeladene Kleidungsstücke tragen will oder nicht. [...] Daher ist es höchst problematisch, wenn nun die SP-Frauen in der Diskussion um die Burka die Menschenrechte zitieren“ (S. 35). Hier hätten manche Aussagen vielleicht etwas umsichtigere Formulierungen verdient: Immerhin ist die freie Wahl manchmal durchaus einzuschränken – wenn diese anderen schadet. Entsprechende Einschränkungen müssen aber angemessen begründet und verhältnismässig sein - Bedingungen, welche das Minarett- und ein Burka-Verbot sicher nicht erfüllen. Zudem fügen Minarette und Burkas anderen keinen objektiven Schaden zu.

Bei der Suche nach Gründen für das Ja werden oft Ängste der Bevölkerung erwähnt, welche von der SVP für ihre politischen Zwecke ausgeschlachtet werden. Diese Ängste verhindern eine „rationale“ oder „vernünftige“ Entscheidung. Argumentationen, die dem politischen Gegner Ängste unterschieben – wir kennen sie etwa auch von der EU-Debatte her – und sich selber die Vernunft, den Verstand oder sogar die „Logik“ (steht so in einem der Artikel!), übersehen allerdings, dass Politik immer mit Bedürfnissen und Werten zu tun hat, die selber keine „rationale“ Basis haben. Jede politische Partei wirbt mit Vor- und Nachteilen, welche ihre Politik beinhalte. Eine Politik, die nicht auf Vor- und Nachteile von Entscheidungen verweist, wäre sinnlos. Jeder Hinweis auf mögliche Folgen einer Politik kann aber vom politischen Gegner als Angstmacherei qualifiziert werden.

Der Versuch, sich selber „die Vernunft“ zuzuschreiben und den andern unreflektierte Ängste, ist nicht nur inhaltlich sinnlos, er hat zudem politisch kaum die erwünschte Wirkung. Wie soll ein „Opfer der Angst“ sich zur „Vernunft“ bekehren, wenn er als ängstlicher, unvernünftiger Trottel hingestellt wird. Recht typisch für eine solche Darstellung ist der Beitrag von Martin Stohler: „Sollen die Bürgerinnen und Bürger nicht aus einer blossen Laune heraus entscheiden, sondern auf Grund rationaler Überlegungen, sind dazu die Fähigkeit zur rationalen Auseinandersetzung und entsprechendes Wissen nötig.“ Die Selbstdarstellung mancher Autoren als Inkarnation der Vernunft oder der „Ratio“ ist ein politisch kontraproduktiver Versuch, sich von andern abzugrenzen und sich selber als moralisch wertvoll darzustellen: besser als moralisches Aufpflustern wäre die Suche nach wirksamem, politischem Engagement.

Etliche Artikel widmen sich einer allfälligen Ausweitung der Ungültigkeitsklauseln für Initiativen. Von den meisten wird dabei die Frage der Volkssouveränität nicht gestellt. Es heisst einfach lapidar, Initiativen, die nicht umgesetzt werden könnten, weil sie z.B. gegen die Menschenrechtskonvention des Europarats verstossen, müssten für ungültig erklärt werden. Dagegen ist nichts einzuwenden, sofern die entsprechenden Einschränkungen durch eine Volksabstimmung eingeführt werden. Eine solche wird von den wenigsten Autoren verlangt. Sie geben dadurch zu erkennen, dass sie ein ziemlich blindes Vertrauen in internationale Gerichtshöfe und Regelwerke haben. Diese fallen jedoch nicht vom Himmel, sondern sind Ausdruck spezifischer Machtverhältnisse und müssen demokratisch legitimiert sein.

Etwas Hellsicht in diese Richtung findet man im Büchlein bei Johannes W. Pichler, Staatsrechtler aus Graz. „Rechtsakzeptanz ist nun zwar für die Gültigkeit von Recht nicht zwingend erforderlich. So weit die Rechtstheorie. Aber wenn sie gründlich abhanden kommt, ist dieses Recht relativ schnell nur mehr eine morsche Fassade. Einsturz ist nur eine Frage der Zeit“ (S. 223).“ „Topgerichtshöfe sind zwar an sich entscheidungsautark und das ist gut so. Aber sie können dennoch nicht nachhaltig und dauerhaft die Überzeugungen des Souveräns ignorieren. Der Souverän ist jedoch das Volk, zugespitzt gesagt die jeweilige Mehrheit des Volkes. Die kann natürlich irren, klar. Aber fürs erste erzeugt sie Recht, das solange gilt, bis eine andere Mehrheit anderes Recht durchsetzt. Nun ist natürlich für Verfassungsrechte, wozu allemal die Menschenrechte zählen, ein weises Sicherheitsventil installiert. Demzufolge können diese nur qualifizierte Mehrheiten abändern. Ein starkes Argument, gewiss. Aber dennoch brüchig – auf längere Sicht. Wer Bürger beharrlich ignoriert und wäre es ein Gerichtshof, arbeitet just dem Heranwachsen solcher Mehrheiten zu.“ (S. 224-225)

Wenn Josef Lang schreibt „Eine Demokratie des 21. Jahrhunderts ist nur dann zeitgemäss, wenn es ihr gelingt, das zu verwirklichen, was die Französische Revolution am 26. August 1789 festgeschrieben hat: die Verknüpfung der Bürgerrechte mit den Menschenrechten. Gemäss dem 220 Jahre alten Postulat hat keine Bürgerschaft das Recht, irgendeinem Menschen seine unveräusserlichen Rechte, wie beispielsweise die Religionsfreiheit zu verweigern“ (S. 82). Dem ist bezupflichten. Damit ist aber das Problem nicht gelöst, wer die Bürgerschaft, deren Selbstbestimmung übrigens selber ein Menschenrecht ist, in Schranken weisen soll. Soll es eine „Elite“ sein. Wenn ja, wer sagt, wer diese „Elite“ ist? Soll die Volkssouveränität irgendwie weggeputscht werden? Es bleibt wohl nur der Weg, sich politisch für Mehrheiten einzusetzen, welche Minderheiten und Menschenrechte auch für andere respektieren.

Andreas Gross ist einer der wenigen, der bezüglich Ausweitung von Ungültigkeitsgründen von Initiativen ausdrücklich den Weg über eine Verfassungsänderung verlangt – dabei verfällt er allerdings oft einem Pathos, das der Wirklichkeit kaum angemessen ist: „Die in Europa sonst überall schon erfolgte Versöhnung zwischen der Demokratie und den Menschenrechten steht der Schweiz erst noch bevor“ (S. 150). Dabei werden den meisten Menschen in Europa die direktdemokratischen Entscheidungsrechte doch vorenthalten – welche auch gemäss Gross ein Menschenrecht darstellen. In den EU-Mitgliedstaaten ist selbst der Parlamentarismus zu einem Schatten seiner selbst verkommen. Falls eine „Versöhnung“ zwischen Demokratie und Menschenrechten sonst in Europa stattgefunden hat, dann zulasten der Demokratie und unter Voraussetzung eines ziemlich blinden Glaubens in die Aktivitäten „aufgeklärter Eliten“.

Interessant ist der Artikel von M. Massarrat, emeritierter Professor für Politik und Wirtschaft der Universität Osnabrück, zum Thema „Islam und Demokratie: Ein Widerspruch?“. Er weist auf die Bedeutung dezentraler Herrschaft mit zahlreichen kleinen und untereinander konkurrierenden feudalen Gemeinden in Europa hin, welche die Entstehung von autonom agierenden „bürgerlichen“ Schichten an der Peripherie dieser Gemeinwesen begünstigte. Sie trieben die gesellschaftliche Arbeitsteilung, Aufklärung und Wissenschaft voran, während in „orientalischen Gesellschaften“ wissenschaftliche, künstlerische und ökonomische Blütezeiten jeweils vom Staat oder den herrschenden Dynastien getragen wurden. Diese gesellschaftliche Entwicklung – und nicht die christliche Religion – führten zu Aufklärung und Demokratie im Westen. Er weist darauf hin, dass Religionen, auch der Islam, nicht für alle Ewigkeit geschaffene, unveränderliche Glaubenssysteme sind. Ihre Interpretation und Ausübung verändern sich vielmehr mit dem historischen Wandel (S. 172).

A. Gross, F. Krebs, M. Schaffner, M. Stohler, Von der Provokation zum Irrtum: Menschenrechte und Demokratie nach dem Minarett-Bauverbot, St. Ursanne: Editions le Doubs


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