Andrew Watt nimmt eine äusserst kritische Darlegung der EU-Beschäftigungspolitik vor. Zuerst geht es ihm darum, eine Bestandesaufnahme vorzunehmen. Im März 2000 belief sich die Arbeitslosigkeit in der Währungs- und Wirtschaftsunion auf 9.4% und in der EU insgesamt auf 8.7%. Die EU-Länder lassen es zu, dass ein Zehntel ihrer Arbeitsressourcen brach liegen. Dabei ist zu beachten, dass die obigen Zahlen nur die registrierte Arbeitslosigkeit betrifft. Die Zahlen sind in bezug auf beliebige Standards bedenklich. Allerdings muss auch bemerkt werden, dass sie beträchtliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern verdecken. Die Arbeitslosenrate bewegte sich im Juni 1999 zwischen 2.8% in Luxemburg und 16.1% in Spanien (bei 10.3% Durchschnitt). Die Arbeitslosigkeit fällt im Augenblick in Österreich, Finnland, Frankreich, Luxemburg, Spanien und Schweden und ist stabil in Belgien, Deutschland, Irland und Portugal. Die Jugendarbeitslosigkeit ist bei weitem höher als die entsprechenden nationalen Prozentsätze in Spanien und Italien, ist jedoch tiefer in Deutschland und Österreich. Ähnliche Unterschiede ergeben sich in Bezug auf Teilzeitbeschäftigung, Geschlechtsunterschiede, Beschäftigung von Ausländern oder "ethnischen" Minderheiten.
Nach dieser Bestandesaufnahme schreibt Watt eine kurze Geschichte der Arbeitsmarktpolitik der EU vom Vertrag von Rom bis zum Amsterdamer Vertrag. Bei der Politik der EG ging es zuerst vor allem darum, die entsprechende Politik der Mitgliederländer finanziell zu unterstützen - wobei sich bei zweckgebundenen Mitteln unmittelbar das Problem ergab, dass damit in manchen Ländern Politiken gefördert wurden, die dort nicht von Nöten waren (z.B. Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit in Ländern, die diese praktisch nicht kannten).
Nachdem die Arbeitslosigkeit in den 80er Jahren auf relativ hohem Niveau blieb, und dann anfangs 90er Jahre stark stieg und sich auf hohem Niveau stabilisierte, versuchte die EU aktiver zu werden. Das berühmte Weissbuch über Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung ist als Antwort auf diese Phänomene zu verstehen. Die Haupt-Botschaft des Papiers bestand darin, dass "Europa" wettbewerbsfähiger zu werden hat. Dann würde sich durch zusätzliches Wachstum die Beschäftigungslage verbessern. Prioritär müsse die Geld- und Fiskalpolitik auf Stabilität ausgerichtet werden - für die Beschäftigung würden sich daraus von selbst positive Wirkungen ergeben. Im Zuge der Vorbereitungen zur Währungsunion wurde von der EU ein starker Akzent auf die Konsolidierung der Haushalte gelegt. Durch die rigorose Sparpolitik verschärfte sich die Arbeitslosigkeit und führte zu steigenden Auslagen für die Arbeitslosen und dadurch zu zusätzlichen Kürzungen in anderen Budgetposten. Der "Vertrauenspakt" des damaligen EU-Kommissionspräsidenten Santer (1996) beliess es dabei, Konzepte wie "Vertrauen" und "Stabilität" schriftlich zu beschwören. Angesichts eines scharfen Anstiegs der Arbeitslosigkeit, vor allem der Jugendarbeitslosigkeit, ist es laut Watt schwierig, in diesen Bestrebungen etwas mehr als rein "symbolische Politik" zu sehen.
Durch den Maastrichter und Amsterdamer Vertrag hatten die EU-Mitgliedstaaten jegliche Kontrolle über ihre Geld- und Wechselkurspolitik verloren und auch weitgehend die Kontrolle über ihre Steuer- und Ausgabenpolitik. Was den Mitgliedstaaten blieb, war eine reine Arbeitsmarktpolitik. Die Wirtschaftspolitik kann nur mehr via Lohnpolitik beeinflusst werden. Lohntrends müssen mit den regionalen Produktivitätstrends übereinstimmen, da sonst Arbeitslosigkeit importiert- oder exportiert wird - ohne dass dadurch die EU-Arbeitslosenraten beeinflusst werden. Damit hat sich die EU in eine Lage hineinmanövriert, in der die Staaten weitgehend machtlos sind, während die Europäische Zentralbank auf eine monetaristische, stabilitätsorientierte Politik festgelegt ist, für welche die Beschäftigung ein untergeordnetes Ziel darstellt.
Watt untersucht in der Folge den institutionellen Hintergrund dieser Politik. Er weist darauf hin, dass der gesamte politische Prozess der EU eine Quelle der Verzweiflung für viele Beobachter sei. Er ist undurchsichtig und bevorzugt jene sozialen Akteuren, die ihren Weg durch das Wirrwarr der Institutionen finden. Sie profitieren vom Mangel an Transparenz und von den Schwierigkeiten, die politische Verantwortung bei bestimmten Institutionen dingfest machen zu können. Hinzu kommt, dass die EU zwar die Sozialpolitik der Mitgliedstaaten einzuschränken vermag, selber jedoch nicht die Kompetenzen hat, Sozialpolitik zu betreiben. Dies liegt zum Teil an der Schwäche der Gewerkschaften auf der EU-Ebene, die durch verschiedene Gründe zu erklären ist: es braucht Zeit, um auf der EU-Ebene Verhandlungsstrukturen aufzubauen. Die EU-Rahmengewerkschaft hat gegenüber den nationalen Aufgaben der Gewerkschaften eine mindere Bedeutung. Klasseninteressen überschneiden sich mit den Interessen der Länder. Zuletzt zeigen die mächtigen Unternehmerverbände kein Interesse daran, mit den Gewerkschaften auf der EU-Ebene verbindliche Verträge abzuschliessen, da die EU nicht mit einer eigenen Gesetzgebung für den Fall eines Scheiterns der Verhandlungen der Sozialpartner drohen kann. Die Unternehmer können schliesslich auch die EU und die Gewerkschaften mit der Drohung, mobile Produktionsfaktoren abzuziehen, erpressen. So wurde denn auch darauf hingewiesen, dass der UNICE (Dachverband von Unternehmern) sich erst dann für den Sozialen Dialog zu interessieren begann, als durch das Abseitsstehen Grossbritanniens vom Sozialprotokoll, die Arbeitgeber wahrnahmen, dass sie sich nicht mehr auf das Veto Grossbritanniens verlassen konnten, um unwillkommene Gesetzgebung abzuwehren.
Ein weiterer institutioneller Faktor stellt die Bedeutung des EU-Gerichtshofes dar. Er nahm bei der Verwirklichung des Binnenmarktes eine wichtige Rolle ein (Urteil "Dassonville" von 74 und Urteil "Cassis de Dijon" von 79 des EG-Gerichsthofes) und sah sich selber als "Motor der Integration". Auf Grund der Verträge wirkte der Gerichtshof deshalb als Marktmacher und nicht als Marktkorrektor. Hinzu kommt die Schwäche des Parlamentes. Damit gibt es auf EU-Ebene keine Institution, die auf Druck der Basis hin eine beschäftigungsfreundliche Politik betreiben könnte.
Neben den institutionellen Gründen für die Mängel der EU-Beschäftigungspolitik gibt es ideologische Gründe für diese Politik. Es ist die falsche Doktrin, die Beschäftigungspolitik der EU sei ein Produkt "rigider Arbeitsmärkte" und eines "Mangels an Flexibilisierung". Diese Lehre ist aus folgenden Gründen abzulehnen:
- Es wird vergessen, dass die Nachfrageschwäche, die durch eine restriktive Geld- und Fiskalpolitik mitverursacht wurde, wenigstens teilweise - wenn nicht sogar vorrangig - für die hohe Arbeitslosigkeit in der EU verantwortlich ist.
- Die Unterschiede zwischen der US- und der EU Beschäftigungsrate sind nicht so gross, wie man dies immer suggeriert. In den USA sind z.B. 2% der männlichen Arbeitskraft im Gefängnis. Innerhalb der EU variiert die Beschäftigungsrate beträchtlich und steht nicht im Einklang mit dem Grad an Deregulierung der Arbeitsmärkte. Die Arbeitslosigkeit ist vor allem dort sehr hoch, wo traditionell wenig reguliert wurde (Grossbritannien) und ist dort tief, wo sie stark reguliert waren (Österreich).
- Institutionelle Faktoren, die langfristig wirken, sind ungeeignet, um kurzfristige Schwankungen der Beschäftigungsrate in den USA und in der EU zu erklären.
- Empirische Belege für die beschäftigungssenkende Wirkung von "Rigiditäten" des Arbeitsmarktes gibt es keine oder nur höchst schwache.
- Lohnkürzungen können in einem kleinen Land zu erhöhter Konkurrenzfähigkeit und damit zu einem Export der Arbeitslosigkeit führen. In der EU wird damit an der Arbeitslosigkeit nichts geändert (90% des EU-Handels sind intern), sondern nur von einer Gegend in die andere verschoben - ein klassischer Fall von Dumping.
- Die EU litt in den 90er Jahren laut OECD-Zahlen klar an einem Output-Überschuss (und damit an einem Mangel an Nachfrage). Solche Output-Überschüsse korrelieren statistisch und empirisch gut belegt mit einem Ansteigen der Arbeitslosigkeit (Okuns's Gesetz). Entsprechend hat die Arbeitslosigkeit nichts mit einer angeblich ungenügenden Konkurrenzfähigkeit der EU-Wirtschaft zu tun. Die EU kann mit einem Export-Anteil von 10% kaum ihre Probleme über ein Anwachsen der Exporte, sondern nur über eine Erhöhung der inneren Nachfrage lösen. Das Problem besteht also nicht in einem Lohnexzess, sondern in einem Exzess an Lohndruck.
Watt ist kein prinzipieller EU-Gegner. In einem Abschlusskapitel versucht er eine Alternative aufzuzeigen, die im wesentlichen eine Stärkung der bundesstaatlichen Elemente der EU anstrebt. Seine Alternative ist weniger überzeugend als seine Kritik.
Andrew Watt, What has Become of Employment Policy? Explaining the Ineffectiveness of Employment Policy in the European Union, Basler Schriften zur europäischen Integration, Nr. 47/48, Europainstitut der Universität Basel, 2000.
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