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Nach der Globalisierung

Peter Niggli, Geschäftsleiter der Arbeitsgemeinschaft der Hilfswerke, legt ein lesenwertes Büchlein zu ein paar entwicklungspolitischen Tatsachen dar. Beleuchtet werden auch Alternativen und Perspektiven einer ausgewogeneren Entwicklung. Die rechtsliberale Marktideologie, welche den Nutzen der Deregulierung für alle postuliert, wird dorthin verwiesen, wo sie hingehören würde: in die grosse Sammlung der politischen ausrangierten Hirngespinste, welche der Verteidigung der Interessen einiger weniger zu Lasten der grossen Mehrheit dienten. In der Tat hat sich der Graben zwischen Nord und Süd, zwischen Arm und Reicht vertieft. Ein angebliches Aufholen der Entwicklungsländer ist statistischen Verdunkelungen zuzuschreiben: die negative Bilanz wird durch ein paar Länder wie Indien, China und einigen kleineren ostasiatischen Staaten aufpoliert, die sich gerade am wenigsten an die rechtsliberalen Rezepte der Weltbank, der WTO und der USA/EU hielten.

Niggli beschreibt die verstärkte weltweite Ungleichheit eindrücklich: Wenn man sich die 6 Milliarden Menschen als Mitglieder ein und derselben Gesellschaft vorstellt, dann sind ein Tausendstel der Weltbevölkerung (7.7 Millionen von sechs Milliarden Menschen) Dollarmillionäre. Knapp ein Prozent dieses Tausendstels, 70'000, verfügen über ein Vermögen, das höher als 30 Millionen Dollar ist. Diesem kleinen Stamm von Superreichen gehört der Löwenanteil aller staatlich geschützten Vermögenswerte dieser Welt. 1.2 Milliarden oder 24% der Menschen, müssen von weniger als einem Dollar pro Tag leben. Das Bruttosozialprodukt der ärmsten Länder betrug 2002 nach Weltbankangaben im Durchschnitt 430 Dollar pro Jahr oder 1.17 Dollar pro Tag. Davon müssen die Einkommen der Machthaber, Kapitalbesitzer und Funktionseliten, die Kosten für ihre Machterhaltung und den Staat, sowie die Amortisationen des Kapitalstocks und der Neuinvestitionen abgezogen werden. Was übrigbleibt, geht mehrheitlich an die Männer, die Brosamen an Frauen und Kinder.

Eine Verallgemeinerung der heutigen industriellen Produktions- und Konsumtionsweise, die sich die Reichen gönnen, auf sechs Milliarden Menschen ist nicht möglich, ohne die Lebensgrundlagen der Menschen zu zerstören. Darüber kann kein Gerede von "nachhaltiger Entwicklung" hinwegtäuschen. In der Tat ist das Konzept der nachhaltigen Entwicklung seit beginn seiner Verwendung widersprüchlich. Allerdings sind es genau die Widersprüche, die es attraktiv machen. Alle Akteure fühlten sich angesprochen. Alle scheinen gewinnen zu können und niemand scheint verzichten zu müssen. Dabei wären von Seiten der Industrieländer wirkliche Anstrengungen nötig, um geschlossene Materialkreisläufe und die Entmaterialisierung der Wirtschaft voranzutreiben. Die meisten ökologischen Indikatoren haben sich in den vergangenen 15 Jahren jedoch weiter verschlechtert. Die politische Bereitschaft, gegen Umweltrisiken vorzugehen und eine Konversion der industriellen Produktionsweise einzuleiten, ist in den vergangnen Jahre eher geschrumpft als gewachsen. Die Politik der wirtschaftlichen Globalisierung förderte das Gegenteil von nachhaltiger Entwicklung. Wesentliche Meinungsströmungen in den industriellen Kernländern ziehen heute die wissenschaftlichen Grundlagen, auf denen die Prognose der Umweltrisiken beruht, ins Lächerliche und gehen daran, die existierenden Instrumente der Umweltpolitik in ihren Ländern zu demontieren und die wenige internationalen Vereinbarungen, die zustande kamen, zu torpedieren.

Durch die erzwungene ökonomische Liberalisierung werden auch kulturelle und religiöse Gräben aufgerissen. Die globale Ausbreitung des ungezügelten Kapitalismus - welche gerne als Prozess des Zusammenwachsens einer klein gewordenen Welt verkauft wird, hat die Menschen nicht näher gebracht: Mit der Angst vor der "Öffnung", der "Vermischung" und dem Verlust der "Identität" wird allenthalben Politik gemacht. In Europa und seinen Siedlerstaaten (USA, Kanada, Australien, Israel) und einigen Entwicklungsländern wie zum Beispiel in Indien gewinnen ausländerfeindliche, rassistische und theopolitische Parteien an Gewicht. Im gleichen Zug, wie die Industriestaaten die völlige Bewegungsfreiheit für Kapital, Güter und die globale Minderheit zahlungskräftiger Menschen durchsetzen, verstärken sie ihre Anstrengungen, ihre Grenzen für die Mehrheit der Menschheit aus den Entwicklungsländern abzuschotten. Willkommen sind nur noch reiche Individuen oder auf Kosten der Entwicklungsländer ausgebildete Spezialistinnen und Spezialisten.

Die rechtsliberale Globalisierung lässt sich durch drei Hauptpunkte charakterisieren: (1) Kapitalverkehrsliberalisierung. (2) Versuch, über die Welthandelsorganisation den Vorrang von Weltmarktregeln vor staatlichen Marktregulierungen durchzusetzen. (3) Bestrebungen, die demokratische Kontrolle der Wirtschaftspolitik mittels Vorrang der Weltmarktregeln auszuhebeln. "Die Aufrüstung des Weltmarkts durch die Politik permanenter Liberalisierung entfernt in rasantem Tempo viele entscheidende Fragen der Wirtschaftspolitik aus dem nationalen Raum, dem einzigen, in dem einigermassen demokratische Auseinandersetzungen stattfinden können. In der neuen Ära der Globalisierung walten die Regierungen zugleich als Legislative, die internationales Wirtschaftsrecht setzt, und als Exekutive, die die selbsterlassenen Normen umsetzt. Die nationalen Parlamente sind in der Tendenz zu Grüss-Augusten reduziert, die die Ergebnisse internationaler Verhandlungen pauschal mit einem Ja abnicken dürfen - weil an ein Nein nicht zu denken ist, wenn man nicht empfindliche Nachteile riskieren will." (S. 43). Niggli betont, dass die "Globalisierung" ein Produkt der Politik von Staaten (vornehmlich der EU/USA) ist, dass diese Politik nicht ein naturwüchsiges Produkt geheimnisvoller Kräfte ist und dass die Globalisierung durch Entscheidungen von Staaten auch wieder in eine andere Richtung gelenkt werden kann.

Niggli rehabilitiert die Importsubstitutionspolitik der Entwicklungsländer von 1950 bis 1980 (Diese bestand darin, Exporte durch die eigene Produktion der entsprechenden Güter zu ersetzen und damit die eigene Industrie samt der entsprechenden Nachfrage durch die Ausschüttung von Löhnen zu entwickeln). Er entlarvt die Denunziation dieses Entwicklungsmodell durch die rechtsliberalen Apologeten des entfesselten Marktes als reine Propaganda. In der Tat wuchsen die Entwicklungsländer in der Phase von 1950 bis 1980 wirtschaftlich viel stärker als nach dem international verordneten Abbruch der Importsubstitutionspolitik. Die Weltbank frisiert entsprechende Zahlen, indem sie für die Statistiken geeignete Zeitabschnitte wählt! Vergleicht man Vergleichbares, so ergibt sich, dass von 1960-1980 die Gruppe der ärmsten Länder pro Jahr um 1.9 % wuchsen, nach 1980 nahm ihr Wirtschaftsprodukt jährlich um 0.5% ab. Die mittlere Gruppe armer Länder wuchs 1960-1980 um 2.1% pro Jahr nach 1980 noch um 0.8%. Die reichste Gruppe armer Länder wuchs nach 1960 um 3.6%, nach 1980 noch um 1%. Seit 1980 haben sich auch die vorher erzielten Fortschritte im Gesundheitsbereich (Lebenserwartung und Kindersterblichkeit) und im Bildungsbereich verringert. Diese Resultate widersprechen den offiziellen Verlautbarungen über die Segnungen der Globalisierung diametral.

Am Schluss des Büchleins werden die "Entwicklungspolitischen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Hilfswerke" veröffentlicht, die ausgehend von der vorgenommenen Analyse konkrete und machbare Alternativen zur vorherrschenden globalen Politik aufzeigen. Das Büchlein ist wirklich lesenswert und dessen Lektüre sei ans Herz gelegt. EU-politisch weist es zwar ein paar blinde Flecke auf. Die destruktive Rolle der EU wird weniger angeprangert als jene der USA. Es wird übersehen, dass die irakkriegskritischen Kräfte bei den EU-Staaten die Irakintervention nicht mit völkerrechtlichen Argumenten kritisiert haben und sich damit für die Zukunft alle interventionistischen Möglichkeiten offen halten wollen. Die EU wird zu wenig als Projekt problematisiert, das die internationale Teilung zu Gunsten der reichen Industrieländer zementieren will. Zuletzt bleibt ausgeblendet, das die EU die "Globalisierung" auf europäischer Ebene beinhaltet: Deregulierung der Kapitalmärkte, Vorrang der rechtsliberalen Wirtschaftsregulierung vor demokratisch kontrollierter Wirtschaftspolitik. Trotzdem ist das Büchlein ein heilsames Mittel gegen eurobornierte Diskussionen von Wirtschaft, Wachstum, sozialen Errungenschaften, Umwelt und Demokratie.

Peter Niggli, Nach der Globalisierung, Entwicklungspolitik im 21. Jahrhundert, Zürich, Rotpunktverlag.


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