Der neueste "Widerspruch" bietet eine facettenreiche Darlegung der Problematik der Flüchtlings- und Migrationspolitik. Es wird geschildert, wie die Politik des Westens einerseits Flüchtlingsströme verursacht, anderseits sich gegen diese abzuschotten versucht. Helmut Dietrich beschreibt die Versuche der westeuropäischen Länder, die Flüchtlingsströme bereits in vorgelagerten Ländern aufzufangen. Die italienische Regierung hat etwa vor zwei Jahren Carabinieri, Polizei und Militär in Albanien stationiert und zahlreiche italienische NGO's der Flüchtlingsverwaltung bei ihrer dortigen Ansiedlung unterstützt. Es wird versucht, Druck auf die entsprechenden Regierungen aufzubauen, bis sie Rückübernahmeabkommen abschliessen oder eine besonders hohe Zahl von Abgeschobenen akzeptieren oder ihren Staatsangehörigen Hindernisse bei der freien Ausreise in den Weg stellen. Den internationalen Druck verstärken die westeuropäischen Länder, indem sie die internationale Arbeitsorganisation ILO, die Weltbank und andere internationale Zusammenschlüsse instrumentalisieren. Auch vor der Fahndung entlang der Fluchtwege in anderen Ländern schreckt man nicht zurück.
Die Strategie gegen die Flüchtigen richtet sich auch auf eine Demontage des Asylrechts und der Genfer Flüchtlingskonvention, wie Claudia Roth und Mark Holzberger darlegen. Es wird versucht, den Flüchtlingsschutz nicht mehr als subjektives Individualrecht, sondern als politisches Angebot des Aufnahmelandes aufzufassen. In dieser Strategie spielt der Begriff des "Vorübergehenden Vertriebenenschutzes" eine zentrale Rolle. Ziel besteht darin, keine individuellen Rechtsansprüche auf Schutz vor Verfolgung zu gewähren. In diesem Zusammenhang wird versucht, den Flüchtlingsbegriff auf vom Staat Verfolgte einzugrenzen. Das UN-Flüchtlingskommissariat hat demgegenüber in einer Stellungnahme vom Januar 1999 unmissverständlich festgehalten, dass die Genfer Flüchtlingskonvention auch auf Personen anwendbar sind, die auf Grund begründeter Furcht vor nicht-staatlicher Verfolgung flüchten müssen.
Marie-Claire Caloz-Tschopp zeigt auf, wie die Schweiz, die nicht zur EU gehört, beim Aufbau eines Europas der Polizeien, dessen Ziel die Ausgrenzung und Ausbeutung der migrierenden Bevölkerungen ist, mitarbeitet. Wesentlich dabei ist die Ausarbeitung des Zwei-Kreise-Modells. Nachdem das Drei-Kreise-Modell als rassistisch kritisiert und fallen gelassen wurde, wird das Kreise-Modell als solches beibehalten - wobei man auf die Verwendung des Wortes "Kreis" verzichtet. Man hält somit die Philosophie und die Struktur des Drei-Kreise-Modells bei, lässt das "Bild" von den Kreisen fallen und glaubt sich des Rassismusvorwurfs entledigt zu haben. Worum es geht wird deutlich ausgedrückt: "Die Zuwanderung aus aussereuropäischen Staaten wird allerdings einen kleinen Teil der Gesamteinwanderung ausmachen, ihr kommt jedoch insofern erhöhte Bedeutung zu, als sie nach dem geplanten Abschluss eines bilateralen Abkommens mit der EU (...) den einzigen direkt steuerbaren Bereich der Zulassung darstellen wird" (S. 23).
Christof Parnreiter geht der Frage nacht, worin das eigentliche Ziel der Abschottungspolitik besteht - die vorgeblichen Ziele der Beschränkung der Zuwanderung werden nämlich nicht erreicht. Er weist darauf hin, dass durch diese Politik nicht die Zahl der Zuwanderer reguliert wird, sondern ihr rechtlicher Status. Dadurch wird eine ethnische Segmentierung des Arbeitsmarktes erreicht. Ziel dieser Politik ist die Bereitstellung von billigen und rechtlosen Arbeitskräften für gewisse Sektoren der Wirtschaft (Landarbeiter, Hausangestellte, usw.).
Die meisten Artikel nehmen einen allgemeinen Standpunkt ein: alle Menschen, unabhängig von ihrer geographischen Herkunft, ihres Geschlechts, und ihrer politischen und religiösen Überzeugung haben Anrecht auf Menschenrechte und auf die Respektierung ihrer Menschenwürde. Von dieser allgemeinen Sicht weicht der Artikel von Hans Baumann ab: Die durch die bilateralen Verträge verankerte Personenfreizügigkeit begründet er zwar mit "den sozialen Grundrechten der Niederlassungsfreiheit und der Gleichbehandlung". Die Tatsache aber, dass die Freizügigkeit im Rahmen der bilateralen Verträge die Niederlassungsfreiheit und die Gleichbehandlung nicht allen gewährt, wird nicht einmal erwähnt. Dadurch schränkt Baumann die Grundrechte auf Westeuropäer ein.
Baumann kritisiert die Ergebnisse der vom Integrationsbüro des Bundes in Auftrag gegebenen Gutachten. Die Gutachten befassten sich ausschliesslich mit der Auswirkung des freien Personenverkehrs auf die Wohnbevölkerung. Gerade die für das befürchtete Lohndumping besonders relevanten Bereiche der Grenzgänger und der sogenannt entsandten Arbeitnehmer würden aber vom Begriff der Wohnbevölkerung gar nicht erfasst. "Dass es in einzelnen EU-Ländern trotz geringer Zuwanderung von Wohnbevölkerung zu Lohn- und Sozialdumping gekommen ist, hängt mit der Tatsache zusammen, dass in diesen Risikobereichen auch eine relativ kleine Zahl von Arbeitnehmenden, die sich auf dem Arbeitsmarkt zu wesentlich tieferen Löhnen anbieten, das bestehende Lohngefüge durcheinanderbringen und eine Lohn-Preis-Spirale gegen unten auslösen kann." (S. 71). Baumann nimmt damit einen für die Gewerkschaften der konkurrenzstarken Länder typisch national-korporatistische Haltung ein. Einerseits sind sie für eine Öffnung der Märkte zu Lasten konkurrenzschwacher Länder und zugunsten der Exportwirtschaft des eigenen Landes. Arbeitsmarktliche Folgen des verschärften Konkurrenzdruckes auf die wirtschaftlich schwächeren Länder wollen sie jedoch nicht mittragen. Diese Politik will er der Leserin und dem Leser dann durch angebliche soziale Errungenschaften der EU näher bringen, wobei er etwa Anhörungsrechte von Arbeitnehmern als "Mitwirkungsrechte" taxiert. Dass ein Elternurlaub, den man hierzulande per Initiative einführen könnte, eine Verdoppelung der unsozialen Mehrwertsteuer und ein massives Ansteigen der Mieten aufwiegen kann, müsste Baumann noch nachweisen.
Widerspruch 37, Flüchtlinge, Migration und Integration, Juli 1999, (Widerspruch, Postfach, 8026 Zürich).
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