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Kurzinfos Juli 08

Ein Pakt gegen Asyl und für Migration im Interesse der EU

Auf der Traktandenliste der französischen EU-Präsidentschaft nimmt die Migrationspolitik einen der obersten Plätze ein. Kernpunkt ist die Frage, wie die EU die für ihre Arbeitsmärkte „nötige“ Zuwanderung organisieren und steuern kann, während sie zugleich auch „auf Druck aus der Bevölkerung effizienter gegen den Zustrom unerwünschter Migranten“ vorgehen will. Dieser Abwehr „illegaler“ Migration soll aber das Grundrecht auf Asyl von Verfolgten offiziell nicht zum Opfer fallen, zudem sollen besonders Schutzbedürftige wie etwa Kinder nach wie vor eine „speziell schonende Behandlung“ erfahren. Doch damit nicht genug: Da die Arbeitsmärkte in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgeprägt sind, will die Mechanik der EU-Migrationspolitik in der Lage sein, auf die jeweiligen Bedürfnisse einzugehen.

Während die EU-Kommission vor ein paar Wochen in gewohntem Aktionismus ein «Paket von Initiativen und Gesetzesvorschlägen» vorstellte, ging die französische Regierung für die Mitgliedstaaten einen anderen Weg. Sie arbeitete einen «Pakt für Migration und Asyl» aus, den die Staats- und Regierungschefs an ihrem Treffen im Oktober 08 in Brüssel verabschieden sollen. Dabei handelt es sich zwar nicht um einen rechtlich verbindlichen Vertrag. Trotzdem sollte die Bedeutung des Dokuments nicht unterschätzt werden, denn es bindet die Unterzeichner politisch im Sinn einer Selbstverpflichtung.

In mehreren Etappen trimmten Diplomaten der Mitgliedsländer einen recht harschen und unzweideutigen Text der französischen Präsidentschaft in ein stilistisch mehrheitsfähig getrimmtes Vorsatzpapier. Umstritten gewesen war vor allem die unmissverständliche Verurteilung von „Massenregularisierungen“, „Amnestien für ‚illegal’ Eingewanderte“ wie sie mehrere Mitgliedstaaten in der Vergangenheit durchgeführt haben. In einem früheren Entwurf des Pakts waren diese Amnestien als Magnete für „illegal Einwandernde“ bezeichnet worden. Dieser Verweis ist jetzt verschwunden, doch in der nunmehr gewundenen Diplomatensprache des überarbeiteten Texts versteckt sich die gleiche Grundforderung: Regularisierungen illegal Eingewanderter solle nur noch von Fall zu Fall auf der Basis von humanitären oder wirtschaftlichen Überlegungen erfolgen.

Die Erwähnung wirtschaftlicher Überlegungen ist eine Konzession an Spanien, das für seine Art von Landwirtschaft auf grössere Mengen von Einwanderern angewiesen ist und sich deshalb besonders vehement gegen den rückblickenden Tadel auf die «Massenregularisierung» gewehrt hatte. Weil Madrid seine letzte Amnestie aber ohne jegliche Konsultation seiner EU-Partner vollzog, hatte es den besonderen Zorn des französischen Präsidenten Sarkozy erregt. Im Zeitalter des grenzenlosen und freien Personenverkehrs innerhalb der EU seien solche Massnahmen im Alleingang nicht mehr zu verantworten.

Eine bedeutende Milderung erfuhr auch die Vorgabe über Rechte und Pflichten von Immigranten. Von Paris war ursprünglich ein «Vertrag zur Integration» vorgezeichnet worden, und darin stand neben der Forderung, Immigranten müssten sich an die Gesetze ihres Gastlandes halten, auch jene, sie müssten zudem dessen Sprache lernen. Nun wird das Erlernen der Sprache nur noch als wünschbar bezeichnet.

Über solche Details streiten die EU-Mitgliedstaaten immer gern und ausgiebig. Doch die milderen Formulierungen und das Streichen als selbst von den Ministern als allzu harsch empfundener Vorschriften sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Pakt, eine Abschreckungspolitik verfolgt, die auf der globalen Bühne Aufsehen erregen werde. Ohne Wenn und Aber wird da nämlich festgehalten, dass Europa nicht in der Lage ist, all jene aufzunehmen, die sich von ihrer Zuwanderung ein besseres Leben erhoffen. Der deutsche Innenminister Schäuble fasste diesen Grundsatz euphemistisch in die Formel: «Europa ist keine Festung und wird auch keine Festung werden, aber man muss Migrationsströme lenken.» Das Lenken von Migrationsströmen sehen andere aber schon als Verstoss gegen grundlegende Menschenrechte an. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hatte Ende Juni 08 empört auf die neue EU-Richtlinie zur Ausschaffung illegal Eingewanderter reagiert, die erstmals klarstellt, dass Menschen, die sich ohne Berechtigung in einem EU-Staat befinden, im Prinzip in ihr Herkunftsland oder in einen Transitstaat zurückkehren müssen. Der venezolanische Präsident Chavez hatte schon Lieferboykotte für Erdöl angedroht, und er doppelte mit der Bemerkung nach, er könnte Banken aus jenen Ländern, welche die neue Richtlinie anwendeten, die Lizenzen entziehen. NZZ, 8. Juli 2008, S. 2



Auswirkungen der EU-Liberalisierung des Versicherungsmarktes auf die Schweiz

Seit die Deregulierung und technische Innovation auch die Versicherungsbranche erfassen, kommt Bewegung in die Szene. Wachstumsperspektiven wie Wettbewerbsbedingungen haben sich in jüngster Zeit grundlegend verändert, und die Branche steht erst am Anfang einer grösseren Umstrukturierungs- und Konsolidierungswelle. In der EU wird dieser Prozess durch den grenzüberschreitenden Dienstleistungshandel und die gegenseitige Anerkennung der Aufsichtsbehörden zusätzlich beschleunigt. Der Finanzplatz Schweiz wird gemäss NZZ in dieser Entwicklung wegen mangelnder bilateraler Abkommen mit der EU zu den Verlierern zählen.

Heute können im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) domizilierte Versicherungsunternehmen ihre Produkte dort ohne nationale Meldepflichten oder Preiskontrollen anbieten. Die Aufsicht über die Geschäftstätigkeit liegt dabei grundsätzlich bei der Aufsichtsbehörde im Heimmarkt. Mit der geplanten «Solvency II»-Direktive soll zudem die Regelung für Eigenkapitalanforderungen in der gesamten EU vereinheitlicht werden analog zu «Basel II» bei den Banken. In Zukunft müssen europäische Versicherer damit nicht mehr die Auflagen von 27 verschiedenen Aufsichtsbehörden erfüllen, sondern können sich auf die Zusammenarbeit mit einem einzigen sogenannten «Group Supervisor» beschränken.

Mit diesen substanziellen regulatorischen Neuerungen entsteht ein einheitlicher europäischer Versicherungsmarkt mit gewaltigen Dimensionen und noch eindrucksvollerem Wachstumspotenzial: Bereits heute werden in Europa jährlich Versicherungsprämien mit einem Wert von über 1250 Mrd. $ gezeichnet, was rund 40% des weltweiten Prämienvolumens entspricht. Mit einer jährlichen Zunahme von über 5% wächst das Versicherungsgeschäft in Europa ungefähr drei- bis viermal schneller als in der Schweiz. In einigen osteuropäischen Ländern liegen die Wachstumsraten sogar im zweisteiligen Bereich.

Diese eindrückliche Marktdynamik wird durch die Innovation zusätzlich beschleunigt. Insbesondere die neuen Informationstechnologien ermöglichen international tätigen Unternehmen, die ehemals stark regional geprägten Vertriebskanäle des Versicherungsgeschäfts zunehmend zu entlokalisieren. In einem einheitlichen Markt, in dem Versicherungspolicen ähnlich wie ein handelbares Gut von einem einzigen Standort über Internet von Hamburg bis nach Athen verkauft werden können, wird der Wettbewerb naturgemäss erheblich verschärft.

Angesichts der resultierenden Skalenerträge und des Kostenwettbewerbs sind Versicherer gezwungen, immer bedeutendere Teile ihrer operativen Geschäftstätigkeiten an einzelnen Standorten zu konsolidieren. Mit den vereinheitlichten Kapitalvorschriften von Solvency II wird es zudem möglich sein, einzelne, heute nationale Risiko-Portefeuilles zusammenzuführen und damit ein effizienteres Kapitalmanagement sowie das Poolen von Risiken zu betreiben. Grosse Versicherungsgesellschaften wie Allianz, AIG oder Swiss Re haben deshalb bereits vor einiger Zeit ihre Pläne bekannt gegeben, ihr Europageschäft künftig über eine einzige europäische Rechtseinheit in München, Dublin oder Luxemburg abzuwickeln. Entscheidend für den hiesigen Finanzplatz ist, dass die Schweiz wegen fehlender bilateraler Abkommen mit der EU als Standort für ein integriertes Europageschäft gar nicht erst in Frage kommt. Nichteuropäische Versicherer wie AIG oder Chubb müssen gemäss NZZ dafür nach Irland, Grossbritannien oder Liechtenstein gehen. Auch Schweizer Versicherungsgesellschaften, die am Potenzial und Wachstum des europäischen Binnenmarkts partizipieren wollen, sind gemäss NZZ gezwungen, eine zentrale juristische und operative Einheit innerhalb der EU zu errichten. So hat die Zurich Financial Services Group kürzlich bekannt gegeben, dass sie das integrierte Europageschäft in Zukunft aus Dublin betreiben wird. Die Folgen für den Schweizer Versicherungsplatz sind gemäss NZZ augenscheinlich: Der Standort wird innerhalb von Europa marginalisiert und verliert an Arbeitsplätzen, Steuereinnahmen und Know-how.

Die Schweizer Privatversicherer erwirtschaften in der Schweiz jährlich knapp 17 Mrd. Fr, bzw. 3,7% des Bruttoinlandprodukts (BIP). Betrachtet man die durchschnittliche Wertschöpfung pro Mitarbeiter, steht die Assekuranz im Branchenvergleich an der Spitze. Gleichzeitig sind die Wachstumsperspektiven auf dem Heimmarkt jedoch beschränkt. Im internationalen Vergleich weist die Schweiz bereits eine sehr hohe Versicherungsdichte (Prämien pro Kopf) und Versicherungdurchdringung (Prämien im Verhältnis zum BIP) auf, was auf eine hohe Marktsättigung hindeutet.

Bereits 1989 war ein Abkommen mit der Euröpäischen Gemeinschaft über eine partielle Öffnung der Versicherungsmärkte abgeschlossen worden. Dieses gewährleistet jedoch ausschliesslich die gegenseitige Niederlassungsfreiheit im Bereich der direkten Schadenversicherung und wirkt somit in zweifacher Hinsicht einschränkend: Erstens berechtigt die Niederlassungsfreiheit ausschliesslich Zweigniederlassungen oder Agenturen in der EU zu gründen. Nicht erlaubt ist jedoch der grenzüberschreitende Dienstleistungsverkehr. Versicherungsprodukte dürfen nicht direkt aus der Schweiz ins Ausland verkauft werden, womit etwa kein E-Commerce aus der Schweiz betrieben werden kann. Zweitens erstreckt sich das Abkommen lediglich auf den Bereich der direkten Schadenversicherung, nicht aber auf das Pensions- und Lebensversicherungsgeschäft. Dabei wären Schweizer Versicherer aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung mit dem auf drei Säulen ruhenden Vorsorgemodell durchaus prädestiniert, sich in einem europäischen Gesamt-Pensionsmarkt als Innovationsführer für Vorsorgeleistungen zu etablieren.

Für international tätige Schweizer Versicherungsgesellschaften ist es zwar möglich, wenn auch nicht ohne Kosten, den europäischen Markt über eine Tochterfirma von einem beliebigen Standort in der EU zu bearbeiten. Aus der Optik Finanzplatz Schweiz wäre es gemäss NZZ jedoch vorteilhafter, wenn Versicherungsdienstleistungen direkt in die EU verkauft werden könnten. Arbeitsplätze, Steuereinkommen und Know-how würden in der Schweiz verbleiben, und der Brand «Made in Switzerland» würde gestärkt. Eine Ausdehnung des Versicherungsabkommens mit der EU im Sinne einer Verbreiterung (Ausweitung auf die Bereiche Leben und Rückversicherung) sowie einer Vertiefung (Einführung der Dienstleistungsfreiheit) würde den Schweizer Versicherungsstandort deshalb in mehrerer Hinsicht nachhaltig stärken.

Für den Schweizer Versicherungsstandort insgesamt - nicht in erster Linie für die international tätigen Schweizer Versicherer - ist die unzureichende Marktöffnung gemäss NZZ ein immer ernsthafteres Problem. Anders als Banken, die ihre private Vermögensverwaltung überwiegend als «Offshore» Geschäft in der Schweiz betreiben, realisieren viele Versicherer einen bedeutenden Teil ihres globalen Prämienvolumens in der EU. Von der Politik und den politischen Behörden wurden bei Standortüberlegungen für den Finanzplatz in den letzten Jahren vor allem die Anliegen der Banken vertreten. Im Interesse der gesamten Wirtschaft und vor allem des Finanzsektors, wovon die Versicherer ein integraler Bestandteil sind, sollte gemäss NZZ die Politik vermehrt auch die Anliegen anderer Akteure in ihre Prioritätenliste einbeziehen. Der Bundesrat beabsichtigt denn auch, ein Verhandlungsmandat im Bereich der Versicherungen vorzubereiten. NZZ, 9. Juli 2008, S. 23


Billig ist am besten

Von Mischa Suter

Eine Urteilsserie des Europäischen Gerichtshofs zielt gegen die Rechte von ArbeiterInnen in der EU. Diesselbe Logik der Deregulierung wirkt auch in der Schweiz.

Sie waren ein kleines Häufchen, die GewerkschafterInnen, die sich vergangenen Samstag in Luxemburg zu einer kurzfristig angesetzten Demo versammelten. Doch sie könnten einen Stein ins Rollen bringen. Der Anlass war brisant. Die GewerkschafterInnen protestierten gegen einen Beschluss des Europäischen Gerichtshofs, in dem Luxemburg für seine Massnahmen gegen Lohndumping verurteilt wurde.

Das Urteil ist das jüngste in einer Serie von Beschlüssen, mit denen die EU-RichterInnen die Rechte von Arbeiter­Innen und Gewerkschaften angreifen. Die Präzedenzfälle tragen absurde Namen, die an Raubkrieger oder Junkergeschlechter erinnern: «Viking», «Laval» und «Rüffert». Neu kommt «Luxemburg» dazu, das Urteil gegen das Grossherzogtum. Die vier Rechtssprüche werden auf Dauer die Lohnpolitik in der EU prägen. Sie werden das Lohngefälle als Strukturprinzip des europäischen Binnenmarkts vertiefen.

Im Dezember entschied der Europäische Gerichtshof zugunsten der finnischen Fährgesellschaft Viking. Diese hatte beschlossen, ihre Fähre «Rosella», die zwischen Helsinki und Tallinn verkehrt, umzuflaggen. Unter estnischer Flagge sollten die finnischen Tariflöhne nicht mehr gelten und eine estnische Besatzung zu tieferen Löhnen eingestellt werden. Zwei Gewerkschaften beschlossen Kampfmassnahmen. Viking klagte. Und bekam recht: Kampfmassnahmen würden gegen die Niederlassungsfreiheit von Unternehmen verstossen, urteilte der Gerichtshof.

Ebenfalls im Dezember entschieden die EU-RichterInnen im Fall «Laval». So heisst ein lettisches Bauunternehmen, das für die schwedische Gemeinde Vaxholm ein Schulhaus umbauen sollte. Laval weigerte sich, vor Ort die schwedischen Tariflöhne zu bezahlen, worauf eine schwedische Gewerkschaft die Baustelle blockierte. Laval klagte. Und bekam recht: Gemäss der Dienstleistungsfreiheit brauche ein Entsendebetrieb nicht höhere Gehälter zu zahlen als der vor Ort gültige Mindestlohn.

Anfang April dann das Urteil «Rüffert». Bezeichnenderweise soll ein Knastbau die ArbeiterInnenrechte in Deutschland verschlechtern. Eine deutsche Firma erhielt den Auftrag, bei Göttingen ein Gefängnis neu zu bauen. Sie verpflichtete ein polnisches Subunternehmen, das gerade mal die Hälfte des allgemeinen deutschen Mindestlohns für den Bau bezahlte. Das Land Niedersachsen zog vor Gericht, weil für die Vergabe öffentlicher Aufträge die ortsüblichen Tarifverträge zu gelten haben. Die Firma musste nicht einmal selber klagen: Das Landesgericht ersuchte den Europäischen Gerichtshof, festzustellen, ob die Tariftreue nicht EU-Recht verletze. «Genau», fanden die EU-RichterInnen: Das Vergabegesetz stelle eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit dar und verstosse überdies gegen die EU-Entsenderichtlinien.

Um die EU-Entsenderichtlinien ging es auch bei «Luxemburg». Hier hatte direkt die EU-Kommission geklagt. Zu streng waren Luxemburgs Vorschriften unter anderem deshalb, weil von den ausländischen Firmen schriftliche Arbeitsverträge und der automatische Teuerungsausgleich verlangt wurden. Das Urteil wurde extra auf den 19. Juni verschoben, eine Woche nach dem irischen Referendum gegen den Vertrag von Lissabon. Die Terminverschiebung hat bekanntlich wenig genützt: Den irischen Gewerkschaften genügten die drei ersten Urteile, um gegen den EU-Vertrag zu mobilisieren.

Die Urteile sind ein Erdbeben, vergraben in Paragrafen und Aktennotizen. «Viking» kann Konsequenzen haben für jeden Kampf gegen Standortverlagerungen, denn nichts anderes bedeutet die Umflaggung eines Schiffs. «Laval» und «Rüffert» pflügen die öffentliche Vergabepolitik um. Der Markt dazu ist immens: In Deutschland beträgt das Auftragsvolumen der öffentlichen Hand 360 Milliarden Euro. Die Urteile hebeln das Streikrecht aus, und sie gewichten unternehmerische Grundfreiheiten höher als Grundrechte der Lohnabhängigen. Betriebe, die «ausländische» Löhne zahlen, dürfen keinen Wettbewerbsvorteil verlieren, den sie mit ihren tieferen Personalkosten einholen.

Die Gewerkschaften wirken ratlos angesichts dieser Welle der Deregulierung, die von der Justiz her anrollt. Skandinavische Beschäftigtenorganisationen fordern nun mehr allgemeinverbindliche Tarifverträge. Frank Bsirske, der Vorsitzende der deutschen Gewerkschaft Verdi, schickt Bundeskanzlerin Angela Merkel einen Brief. Eine kohärente Strategie gibt es im Moment nicht.

Lohnabhängige in der Schweiz könnten - so gesehen - froh sein, dass die Schweiz nicht zur EU gehört. Die Einschätzung linker EU-KritikerInnen wird durch die Urteilsserie bestätigt. Jedoch: Ähnliche Bestrebungen wie jene des Europäischen Gerichtshofs laufen auch in der Schweiz. Im öffentlichen Beschaffungswesen wird hier ebenso das Grundprinzip durchgesetzt, nach dem die billigste Bude die beste ist. Jedenfalls bezweckt das eine Revision des Beschaffungsgesetzes, die sich in der Vernehmlassung befindet. Einerseits sollen nur noch allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge zwingend gelten, andere, weitergehende Vereinbarungen nicht mehr. Zum andern sind künftig nicht mehr die ortsüblichen Bedingungen massgebend, an denen eine Firma den Auftrag annimmt, sondern jene ihres Herkunftsortes: Eine Tessiner Firma offeriert dann in Genf zu Tessiner Konditionen.

Die EU-Urteile verschreiben ein Rechtskorsett, das sozialpolitische Spielräume strikt begrenzt. Zunehmender Druck auf das Verhältnis zur Schweiz bei den flankierenden Massnahmen scheint absehbar. Wenn im Beschaffungswesen die Wettbewerbsspirale zwischen den Kantonen wirkt, warum soll sie nicht gleichfalls mit dem Ausland gelten? Die grundsätzliche Logik der Deregulierung jedenfalls ist dieselbe.

WOZ vom 10. Juli 2008

Nächstes EuGH-Urteil gegen Arbeitnehmerinnen

Die Kette der arbeitnehmerfeindlichen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) reisst nicht ab. Nach den Entscheidungen gegen Laval (Schweden), Viking (Finnland)und Rüffert (Niedersachsen), mit denen der EuGH die Aushebelung von Kollektivverträgen und Streikrecht für zulässig erklärt, hat nun der EuGH eine weitere Entscheidung gegen die Einhaltung nationalen Arbeitsrechts gefasst. Nach Ansicht des EuGH steht das luxemburgische Arbeitsrecht im Widerspruch zur Entsenderichtlinie zur Dienstleistungsfreiheit und muss daher geändert werden. Wer Arbeitnehmer nach Luxemburg sendet, darf laut EuGH nicht dazu verpflichtet werden, sich an das luxemburgische Arbeitsrecht zu halten, das eine automatische Anpassung der Löhne an die Lebenshaltungskosten, die Pflicht zur Einhaltung von Tariflöhnen sowie fortschrittliche Bestimmungen bzgl. bezahltem Urlaub, Zeitverträgen, Leih- oder Teilzeitarbeit u.a. vorsieht.

Dieses neuerliche EuGH-Urteil wird das Sozialdumping in der EU weiter anheizen. Faktisch sagt der EuGH: Wir erkennen nur mehr jene nationalen Mindestandards an, die in der Entsenderichtlinie ausdrücklich aufgeführt werden, wie z.B. gesetzliche Mindestlöhne bzw. Urlaubszeiten. Alle darüber hinausgehenden arbeitsrechlichen Errungenschaften können von Firmen unterlaufen werden, wenn sie ihren Firmensitz in einem EU-Land haben, wo diese arbeitsrechtlichen Bestimmugne nicht gelten. guernica 3/2008, S. 7.

Informiert man sich über die Reaktionen der schweizerischen Gewerkschaften auf diese Urteilsserie, so fällt auf, dass man auf der Webseite des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes nichts zu diesen Urteilen findet. Die Unia äussert sich zu den letzten Urteilen von Rüffert und Luxemburg noch nicht. Bezüglich den Urteilen Laval und Viking gibt man sich beschwichtigend: „Allerdings sollten wir auch im Auge behalten, dass in beiden Fällen vorrangig das spezifisch „nordische Sozialmodell“ tangiert ist, das keine Mindestlöhne und keine Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen (GAV) kennt und stattdessen bislang auf die „Schwerkraft“ von Kollektivvereinbarungen setzt.“ (http://www.unia.ch/EuGH-zu-Entsendung.2799.0.html?&L=0%20class%3Dl) . Wohl gewerkschaftliche Solidarität à l’Européenne.

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