Die Kommission zeigt ihre neuen Waffen Von Martin Höpner
Stolz führt die Kommission ihr neues Waffenarsenal vor. Die Mitgliedstaaten müssen Empfehlungen aus dem Europäischen Semester umsetzen, um Mittel aus dem Aufbaufonds zu erhalten. Das ist der Weg ins autoritäre Europa.
Vergangene Woche war der Presse bemerkenswertes zu entnehmen. Die Europäische Kommission habe gegenüber dem Kanzleramt und den Finanz- und Wirtschaftsministerien verdeutlicht, dass Deutschland sein Reformprogramm nachbessern müsse, um die ihm aus dem Aufbaufonds zustehenden Mittel von ungefähr 24 Mrd. Euro erhalten zu können. Im Einzelnen, so berichteten das Handelsblatt (25.1.21, S. 8-9) und die FAZ (26.1.21, S. 16), solle Deutschland Reformen an seinem zu progressiven Steuersystem vornehmen, die finanzielle Tragfähigkeit seines Rentensystems stärken, reglementierte Berufe öffnen und das Ehegattensplitting abschaffen.
Das ist eigentümlich. Konditionalitäten, um die Gelder aus dem Aufbaufonds zu kriegen: War es da nicht um die konkrete Mittelverwendung gegangen, um Digitalisierung, Klimaschutz und um den Rechtsstaatsmechanismus? Fällt das deutsche Ehegattensplitting neuerdings in EU-Zuständigkeit? Oder trägt es, ohne dass wir es bisher bemerkt hätten, zu den in der Tat korrekturbedürftigen innereuropäischen Ungleichgewichten bei und gerät dadurch in den Radius der ja schon länger mit Sanktionsmöglichkeiten unterlegten makroökonomischen Überwachungs- und Korrekturverfahren?
Selbst wenn es so sein sollte (ins Auge springt es nicht), was hat das mit dem Aufbaufonds zu tun? Dröseln wir den Sachverhalt nachfolgend auf und bewerten ihn.
Konditionalitäten wandern in den Aufbaufonds ein
Bekanntlich mündeten die Marathon-Verhandlungen des Europäischen Rats vom Juli 2020 in die Beschlüsse zur Errichtung eines über gemeinsame Schuldenaufnahme zu finanzierenden Aufbaufonds, der in den nächsten drei Jahren Zuschüsse in Höhe von 312,5 Mrd. Euro und Kredite in Höhe von 360 Mrd. Euro gewähren soll (hier eine ökonomische Bewertung). Ein Fünftel der Gelder soll in die Beschleunigung der Digitalisierung fließen und ein Drittel in den Klimaschutz. Anhand eines Schlüssels, der sich aus den Wohlstandsniveaus, der Schwere des Corona-Einbruchs im vergangenen Jahr sowie der Arbeitslosenquote ergibt, werden die Mittel unter den teilnehmenden Ländern verteilt.
Solche Gelder lassen sich nicht ohne Auflagen und Kontrollen quer über den Kontinent verschieben. Die Zwecke müssen definiert sein und zweifellos muss kontrolliert werden, dass die Mittel nicht in etwaigen Korruptionssümpfen versickern. Das sehen alle ein. Aber die Kommission, das Europäische Parlament (EP) und einige Mitgliedstaaten – vor allem die nördlichen „Frugal Five“, Deutschland aufgrund seines um Kompromiss bemühten Ratsvorsitzes im Vergleich dazu immerhin gemäßigter – wollten mehr: die Kopplung an Vorgaben, die mit den Zielen und Prozeduren des Fonds nichts zu tun haben. Besonders das EP wollte einen harten Rechtsstaatsmechanismus, um gegen Polen und Ungarn vorgehen zu können (Andreas Nölke hier), und besonders die Kommission wollte eine Kopplung an die länderspezifischen Empfehlungen aus dem Europäischen Semester.
Die Verhandlungen über diese Konditionalitäten zogen sich über fast ein halbes Jahr. Die Einigung im Rahmen des so genannten Trilog-Verfahrens zwischen Kommission, Rat und EP erfolgte erst kurz vor Weihnachten, am 17. Dezember 2020. Leider interessierte sich die nachgelagerte Berichterstattung fast ausschließlich für den Rechtsstaatsmechanismus. Denn so blieb ein entscheidender Sachverhalt verborgen: dass sich die Kommission nämlich bei der Kopplung an die länderspezifischen Vorgaben aus dem Europäischen Semester auf ganzer Linie durchgesetzt hatte (hier das Dokument). Sie hat nun genau, was sie von Anfang an wollte.
Das Europäische Semester
Das Europäische Semester gibt es, zumindest unter diesem Namen, seit 2011. Es führt mehrere Verfahren zusammen, in deren Rahmen die EU ihren Mitgliedern mit unterschiedlichem Nachdruck Empfehlungen für Reformen geben kann, ohne dafür eigene Gesetzgebungskompetenzen zu brauchen. Dazu zählen die allgemeinen länderspezifischen Empfehlungen, die seit Einführung der Europa-2020-Strategie an die EU-Mitglieder gerichtet werden; das für die Mitglieder der Eurozone sanktionsbewehrte Defizitverfahren, das aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1997 hervorging, welcher seinerseits in den Maastrichter Konvergenzkriterien von 1992 wurzelte; und das 2012 eingeführte makroökonomische Überwachungs- und Korrekturverfahren, in dessen Rahmen bei Nichteinhaltung der Vorgaben als letztes Mittel ebenfalls Sanktionen verhängt werden können. Ein komplizierter Wildwuchs von Verfahren also, der mit dem jährlichen Semester-Zyklus richtigerweise gebündelt wird – allein schon, damit sich die Empfehlungen aus den Einzelverfahren nicht grotesk widersprechen.
Das Europäische Semester ist keine schlechte Sache. Warum sollte die Kommission nicht die Politiken der EU-Länder vergleichen, Ziele und falls möglich „best practices“ identifizieren, sich mit der Verallgemeinerbarkeit und Übertragbargeit der identifizierten Praktiken beschäftigen und Ratschläge formulieren? Und warum sollte sie nicht auch sicherstellen dürfen, dass anschließend zumindest mehr als „gelesen, gelacht, gelocht“ geschehen muss – dass sich die adressierten Regierungen also zumindest ernsthaft mit den Empfehlungen befassen und eine Antwort an die Kommission formulieren müssen? Auch wenn einem die Empfehlungen aus dem Semester naturgemäß nicht immer gefallen (gelinde gesagt), sollte die EU nicht darauf verzichten, neben der gemeinsamen Gesetzgebung auch solche Formen der „weichen“ Koordination zu betreiben.
Aber Vorsicht: Werden die Empfehlungen in einem graduellen Prozess mehr und mehr mit Sanktionsmöglichkeiten unterlegt, sind sie irgendwann keine Empfehlungen mehr, sondern Anweisungen an eigentlich demokratisch verfasste Gesetzgeber. Auch europäische Richtlinien und Verordnungen sind letztlich Anweisungen. Hier, beim Semester, sprechen wir aber über Bereiche, in denen die EU gerade keine für alle bindenden Gesetze beschlossen hat, ja für die der EU oft von vornherein gar keine Regelungskompetenzen in den Verträgen zugedacht wurden. In genau so einem Prozess befinden wir uns gerade. Ein Verfahren, das eigentlich der weichen Koordination dienen sollte, wird zunehmend mit jenem Biss bestückt, der unverbindliche Empfehlungen in obligatorische, sanktionsbewehrte Anweisungen transformiert.
Nach Steuerungsmöglichkeiten jenseits der europäischen Gesetzgebung strebt die Kommission schon lange – mit Erfolg (Annika Holz hier). Die jüngere Geschichte der europäischen Integration ist gerade keine Geschichte der Ausweitung europäischer Gesetzgebungskompetenzen, sondern eine Geschichte der Härtung von Vorgaben über die Gesetzgebung hinaus. Einen großen Schritt ging die EU während und nach der Eurokrise, indem sie die sanktionsbewehrten makroökonomischen Korrekturverfahren einführte (Einzelheiten hier). Weiter ging es 2014, als die EU die Möglichkeit schuf, Mittel aus den Strukturfonds bei Nichteinhaltung der Empfehlungen aus dem Semester einzubehalten. Diesen Weg hat sie mit den weit gefassten Konditionalitäten des Aufbaufonds nun fortgesetzt. Eine wesentliche Teilmenge („significant subset“) der Empfehlungen ist nun umzusetzen, um Gelder aus dem Fonds abrufen zu können (siehe die Seiten 12, 33 und 53 hier).
Merkwürdige Auswahl der Forderungen an Deutschland
Die Drohung gegen Deutschland, Mittel aus dem Aufbaufonds einzubehalten, ist zunächst einmal ein symbolischer Akt. Die Kommission möchte ihre neuen Folterinstrumente vorführen und sagt sich offenbar: wenn, dann richtig. Sie wählt sich für ihre Machtdemonstration nämlich politisch besonders umstrittene Empfehlungen wie die Abschaffung des Ehegattensplittings aus, bei denen man eine transnationale Problemkonstellation mit der Lupe suchen müsste.
Wer so vorgeht, ist auf Krawall gebürstet. In den aktuellen länderspezifischen Empfehlungen aus dem Jahr 2020 findet sich diese Empfehlung zudem überhaupt nicht, allein ein allgemeiner Hinweis auf die Weitergeltung der Empfehlungen aus dem Jahr davor hilft weiter (in Ziffer 24). Dort, in den Empfehlungen des Jahres 2019, findet sich die Kritik am Ehegattensplitting in Ziffer 16.
Hier eine Auswahl an Empfehlungen aus dem Jahr 2019, bei denen eine transnationale Problemkonstellation (namentlich ein Bezug zu den makroökonomischen Ungleichgewichten im Euroraum) deutlich näher liegt und die daher besser geeignet gewesen wären, um in Verbindung mit dem Aufbaufonds angemahnt zu werden: Das zu moderate Lohnwachstum (Ziffer 2), die zu geringe öffentliche Investitionsquote besonders auf kommunaler Ebene (Ziffern 3 und 7), die zu spärlichen Bildungsausgaben (Ziffer , die hinter den Zielen zurückbleibenden Wohnungsbauten (Ziffer 13) und die sich weiter verringernde Tarifbindung (als hätte die Kommission genau dieser nicht in Südeuropa den Kampf angesagt – Ziffer 18).
Auch politisch weniger umstrittene Empfehlungen hätte sich die Kommission aussuchen können, so die Korrektur des in Deutschland geringen Aufkommens von Umweltsteuern (Ziffer 15) oder etwa die Verstärkung der Lehrkörper an den Schulen (Ziffer 19). Und im Kontext der Pandemie, die schließlich der Anstoß für den Aufbaufonds war, wäre eine Mahnung zur Steigerung der Attraktivität der Pflegeberufe gut nachvollziehbar gewesen (diese Forderung findet sich zudem in den aktuellen Empfehlungen von 2020, dort Ziffer 19).
Die Provokation der Kommission wird den Beamtinnen und Beamten des Kanzleramts und der involvierten Ministerien gleichwohl keine schlaflosen Nächte bereiten. Dass die Machtdemonstration am Ende zur Einbehaltung der Deutschland zustehenden Mittel aus dem Aufbaufonds führt, kann nahezu ausgeschlossen werden. Ohnehin ist der deutsche Aufbau- und Resilienzplan, auf den die Kommission nun reagiert hat, ein vorläufiges Papier (man kann es hier einsehen, auf den Seiten 14-15 stehen die Angaben zur Kompatibilität mit den Empfehlungen aus dem Semester). Der endgültige, korrigierte Plan ist der Kommission im April dieses Jahres zuzuleiten, wird dann von ihr bewertet und vom Rat, so ist zu erwarten, als für die Mittelfreigabe qualifizierend abgenickt. Das sollte den Blick aber nicht darauf verstellen, auf welch schiefe Bahn die europäische Integration hier geraten ist.
Europäische Integration auf Abwegen
Unterscheiden wir zur Verdeutlichung zwei Modi europäischer Politik. Im ersten Modus legen die Mitgliedstaaten Politikfelder fest, in denen sie aufgrund transnationaler Problemkonstellationen gemeinsam handeln wollen. Über die Auswahl zwischen den Entscheidungsalternativen findet dann ein gemeinsamer, europaweiter Diskurs statt. Je mehr solch europaweiter Diskurse geführt werden, umso mehr entwickelt sich in der Folge eine – derzeit allenfalls schwach ausgeprägte – europäische Öffentlichkeit. So kann dann nach und nach ein gemeinsamer politischer Raum mit richtigen europäischen Parteien entstehen und die europäische Politik kann über Wahlen demokratisch gesteuert werden.
Ungefähr so sieht die positive Vision europäischer Politik aus. Richtig viel spricht derzeit nicht dafür, dass sie Wirklichkeit wird. Leider hat namentlich die verfehlte Euro-Einführung der Entstehung eines gemeinsamen politischen Raums einen Bärendienst erwiesen, denn durch sie wurden Konfliktlinien verstärkt, die nicht zwischen europäischen Parteien, sondern zwischen Ländern verlaufen. Das ist das genaue Gegenteil eines gemeinsamen politischen Raums, die Konfliktaustragung lässt sich nicht demokratisieren (wählen kann man Parteien, nicht Länder). Gleichwohl – wünschen wir uns als gute Europäerinnen und Europäer nicht alle, dass die Chancen auf Verwirklichung der Vision in Zukunft wieder größer werden?
Länderspezifische, sich also von Land zu Land unterscheidende Weisungen aus Brüssel sind aber etwas völlig anderes. Sie sind auf europäischer Ebene grundsätzlich nicht demokratisierbar, also nicht über demokratische Wahlen auf europäischer Ebene steuerbar, weil sie nicht einen, sondern 27 unterschiedliche Inhalte haben. Und auf mitgliedstaatlicher Ebene wirken sie demokratiezerstörend.
Sie markieren nicht die Vision des Marschs in ein fernes demokratisches Europa, sondern den Albtraum der Vertiefung des bereits bestehenden technokratischen, autoritären Europa. Ebenso markieren sie die Brüsseler Hybris, besser als die Bürgerinnen und Bürger vor Ort zu wissen, was in der mitgliedstaatlichen Politik als Nächstes geschehen sollte. Die Bilanz dieser Hybris ist verheerend. Leider bleiben die Reaktionen selbst im progressiven Spektrum weitgehend affirmativ. Die Versuchung des Mitmachens liegt nahe, sind die im autoritären Europa schlummernden Machtressourcen doch unerschöpflich und verlockend. Wer hätte da nicht gern ein paar Krümel ab?
Wäre, fragt man sich an unterschiedlichen Orten, das alles nicht doch irgendwie tragbar, wenn nur das EP oder Sozialpartner ihre Füße in die Tür bekämen? Oder etwa der Ausschuss der Regionen? Vor Friedensschlüssen mit dem autoritären Modus europäischer Politik kann ich nur nachdrücklich warnen. Die einzig vernünftige Form des Umgangs mit diesen Fehlentwicklungen der europäischen Integration ist ihre Minimierung und Abschaffung. Für den Aufbaufonds bedeutet das, dass alle Konditionalitäten, die nichts mit der konkreten Mittelverwendung zu tun haben, grundlegend abzulehnen sind.
https://makroskop.eu/05-2021/die-kommission-zeigt-ihre-neuen-waffen/
|
Bilaterale ohne Rahmenabkommen: Nicht-Aktualisierung weniger Kosten als von manchen behauptet Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) hat erstmals die Exporte in die Europäische Union (EU) nach den sogenannten Kapiteln des Abkommens über die technischen Handelsabkommen aufgeschlüsselt. Daraus lässt sich ablesen, welche Branchen von diesem Abkommen profitieren – und vor allem: welche Exporte teurer werden. Denn die EU will dieses Abkommen nicht aktualisieren, solange die Schweiz kein Rahmenabkommen unterzeichnet.
Insgesamt liefen gemäss der Schätzung des Seco im Jahr 2019 Exporte für knapp 72 Milliarden Franken über das Abkommen. Das entspricht 73 Prozent der Industriegüter, die aus der Schweiz in die EU exportiert wurden. Nicht ganz überraschend stehen die Arzneimittel mit gut 38 Milliarden Franken an erster Stelle. Die Maschinenindustrie wickelte gut zehn Milliarden Franken über das Abkommen ab, diagnostische Mittel und chemische Produkte knapp sieben und Medizinprodukte gut fünf Milliarden Franken.
Es überrascht nicht, dass es die gleichen Branchen sind, die sich seit Jahren für ein Rahmenabkommen der Schweiz mit der EU einsetzen und vor einer «Erosion» der Bilateralen warnen, sollte die EU weiterhin Aktualisierungen des Abkommens über die technischen Handelshemmnisse blockieren. Am schnellsten könnte es die Medizinprodukte treffen, denn ab Mai sollen in der EU neue Vorschriften in Kraft treten. Diese hat die Schweiz zwar ebenfalls eingeführt, aber die EU weigert sich seit Jahren, diese anzuerkennen. Auslöser dafür war das Ja zur Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung», jetzt ist es das nicht unterzeichnete Rahmenabkommen.
Die Schweiz protestierte schon 2017 öffentlich dagegen und bezeichnete die «Blockade» als «inkohärent» und «unglücklich». Noch weiter ging Bundesrätin Karin Keller-Sutter, damals FDP-Ständerätin und Mitglied der aussenpolitischen Kommission. Gegenüber Radio SRF bezeichnete sie die Blockade des Abkommens über technische Handelshemmnisse als eine «Verletzung von Treu und Glauben».
Noch 40 Prozent der Exporte gehen in die EU
Dabei geht es um viel Umsatz der Exportindustrie, allerdings um weniger als auch schon. Auch das zeigt die Berechnung des Staatssekretariats für Wirtschaft. Mit dem Austritt des Vereinigten Königreiches und wegen Steigerung der Exporte nach Asien machen die Exporte in die Europäische Union noch gut vierzig Prozent der gesamten Exporte der Schweiz aus. Vor Jahren waren es noch über 50 Prozent gewesen. Der Anteil der durch das Abkommen über technische Handelshemmnisse erleichterten Exporte in die EU beträgt 23 Prozent.
Medizintechnik muss sich anpassen
Betroffen von einer Erosion des Abkommens über technische Handelshemmnisse wären Branchen immer dann, wenn die EU neue Regeln erlässt und den Schweizer Nachvollzug nicht anerkennen würde, wie jetzt bei der Medizintechnik. Diese muss möglicherweise ab Mai ihre Produkte wieder im EU/Efta-Raum zertifizieren lassen, weil eine schweizerische Zertifizierung nicht anerkannt wird, und sie muss im Binnenmarkt über einen Repräsentanten verfügen. Allerdings könnte die Schweiz Zertifizierungen aus der EU einseitig anerkennen, womit Schweizer Firmen weiterhin ihre Produkte nur einmal zertifizieren müssten, einfach in der EU statt in der Schweiz. Der Bund, Samstag 17. Februar 2021, S. 15.
|
EU-Kommission: Pensionsantrittsalter rauf auf 70 (bis 75 Jahre)! Die EU-Kommissions-Vize-Präsidentin Dubravka Suica ließ vor Kurzem die Katze aus dem Sack: Mit Verweis auf ein Grünbuch der EU-Kommission fordert sie bis 2040 die Anhebung des Pensionsantrittsalters auf 70 Jahre im EU-Durchschnitt, für Österreich auf 71 Jahre, für einige osteuropäische Staaten sogar auf 75 Jahre.
Die Argumentation der EU-Kommission ist simpel: Die Lebenserwartung der Menschen steigt, die Zahl der Erwerbstätigen schrumpft. Daher müsse das Antrittsalter für die Pension bis 2040 deutlich angehoben werden (sh. Presse, 29.1.2021). Was sofort auffällt: Produktivität und Verteilung spielen für die EU-Kommission offenbar keine Rolle. Ob mehr PensionistInnen durch weniger Erwerbstätige finanziert werden können, hängt maßgeblich von der Produktivität der Erwerbstätigen ab – und wie diese verteilt wird. Auch bei den Kommissaren sollte sich herumgesprochen haben, dass wir heute mit einer durchschnittlichen Arbeitszeit von 40 Stunden in der Woche deutlich besser leben als zu Zeiten, wo die Menschen noch 60 Stunden und mehr in den Fabriken malochten und es keine Pensionsversicherung gab.
Warum spielt diese ökonomische Binsenwahrheit für die Kommission keine Rolle? Wohl weil man diese wachsende Produktivität in Form von wertschöpfungsbezogenen Sozialversicherungsbeiträgen auch an die ältere Generation umverteilen müsste. Genau das aber wird von der EU-Kommission auf Biegen und Brechen bekämpft. Es gibt kaum ein „europäisches Semester“, wo die EU-Staaten von der Kommission nicht ermahnt werden, die sog. „Lohnnebenkosten“ zu senken, um die Interessen der exportorientierten Großindustrie zu bedienen.
Interessengeleitete Demenz
Zum Zweiten fällt auf, dass die Kommission auf ca. 16 Millionen Menschen einfach vergisst. Denn so viele sind derzeit in der EU arbeitslos. Würde dieses Millionenheer durch eine entsprechende Vollbeschäftigungspolitik sozial und ökologisch sinnvoll in Lohn und Brot gebracht werden, ließen sich die Finanzierungsprobleme der sozialen Kassen leicht lösen. Doch auch in diesem Fall dürfte die Demenz der Kommission interessengeleitet sein. Hat doch gerade die von der EU-Kommission exekutierte und von den Eliten der großen EU-Staaten, insbesondere Deutschlands, angetriebene Austeritätspolitik im letzten Jahrzehnt die Arbeitslosigkeit sprunghaft in die Höhe getrieben – vor allem in jenen Ländern, die direkt von EU-Kommission, EZB und IWF unter die Knute von „Strukturanpassungsprogrammen“ gezwungen wurden.
Vom Arbeitsplatz in den Sarg?
Die EU-Kommission schlägt 70 Jahre als Pensionsantrittsalter vor – im EU-Durchschnitt. Dieses Pensionsantrittsalter wird für die einzelnen EU-Staaten aufgeschlüsselt: für Österreich soll es bei 71 Jahren liegen. Noch viel stärker soll das Pensionsantrittsalter in osteuropäischen Staaten angehoben werden. Die Begründung könnte zynischer nicht sein: Da das neoliberale EU-Konkurrenzregime dazu geführt hat, dass die osteuropäische Peripherie immer stärker ökonomisch ausblutet, wandern immer mehr, insbesondere junge und gut qualifizierte Menschen Richtung Westen ab. Diese massive Umverteilung von armen zu reichen Staaten fällt den wirtschaftlich Ausgebluteten bei den Pensionen ein weiteres Mal auf den Kopf. Statt diesen neoliberalen Wahnsinn zu beenden, sollen jene, die nicht aus Osteuropa abwandern, gleich von der Werkbank oder dem Bürosessel in den Sarg hüpfen. Für Rumänien etwa schlägt die EU-Kommission ein Pensionsantrittsalter von 75 Jahren vor. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Rumänien liegt bei knapp über 75 Jahre.
Hauptnutznießer der Verschlechterung öffentlicher Pensionssystem sind die großen privaten Pensionsfonds und Versicherungskonzerne. Die Drehtür zwischen diesen und der EU-Kommission rotiert besonders häufig. Diese Konzerne haben intensiv dafür lobbyiert, dass die EU-Kommission 2019 die EU-Verordnung für ein „Europaweites Privates Altersvorsorgeprodukt“ (PEPP) auf Schiene brachte. Ausgeblendet wird dabei, dass sich die Privatisierung der Altersvorsorge in vielen Staaten als regelrechtes Debakel erwiesen hat.
„Next Generation Funds“ als Druckmittel
Die EU-Kommission betont zwar, dass die Anhebung des Pensionsantrittsalters nur ein Vorschlag sei, da die EU in dieser Frage keine unmittelbare Kompetenz hat. Doch schon in der Vergangenheit setzte die EU-Kommission Instrumente wie den EU-Fiskalpakt oder den ESM ein, um Ländern, die die EU-Budgetregeln nicht einhalten konnten, zu brutalen Sozialabbaumaßnahmen zu zwingen. Mit dem sog. „Next Generation Fund“ (ursprünglich: Corona-Wiederaufbaufonds) steht der EU-Kommission nun eine scharfe Waffe zur Verfügung, um ihren „Empfehlungen“, die sie im Rahmen des „europäischen Semesters“ an die EU-Staaten verteilt, Nachdruck zu verleihen. So wurde Ende 2020 klammheimlich durchgesetzt, dass die EU-Kommission die Vergabe von Mitteln aus dem „Next Generation Fund“ mit der Umsetzung solcher „Empfehlungen“ junktimieren kann. Im Klartext: Kein Sozialabbau, kein Geld.
Bereits im Vorjahr hat die Kommission eine sog. „technische Note“ an die Regierungen verschickt, in der diesen angeraten wurde, die Corona-Krise zu nutzen, um „eine starke Dynamik für eine ehrgeizige Reformagenda“ zu entfachen. Diese werde „wirtschaftliche, soziale und politische Kosten“ verursachen, die „typischerweise spezifische Gruppen treffen“, wie etwa „Arbeiter, Rentner, Beschäftigte im öffentlichen Dienst, Kranke und Familien mit Kindern“ . Kurzum, die breite Mehrheit der Bevölkerung.
Gerald Oberansmayr
(17.2.2021)
https://www.solidarwerkstatt.at/soziales-bildung/eu-kommission-pensionsantrittsalter-rauf-auf-70-bis-75-jahre
|