Syriza contra Selbstbestimmung Vom bösen Buben zum Musterschüler, so würde ich den Werdegang von Ministerpräsident Aléxis Tsípras (Syriza) beschreiben. Vier Jahre nach Machtantritt der „ersten linken“ Regierung Griechenlands ist Tsípras international anerkannt. Häfen, Flughäfen, Schienennetz und Straßen, Strom und Wasser sind zu weiten Teilen privatisiert, Arbeitsrechte beschränkt, die Knäste voll wie eh, die Flüchtlingslager erbärmlich und das Land befriedet. Gelingt nun gar die Beilegung des Namensstreits mit den Nachbarn aus „Nord-Mazedonien“, was diesen die Tür zu Nato und EU öffnet und den Einfluss Russlands auf dem Balkan begrenzt, hat Tsípras auch geostrategisch die Reifeprüfung bestanden.
Mit seiner Parlamentsrede vom 28. November 2018 hat er nun den Dauerwahlkampf mit Kommunal- und Europawahlen im Mai und Parlamentswahlen voraussichtlich im Oktober 2019 eröffnet. Augenzwinkernd terminierte er dabei den Beginn der „wirklichen Regierungsarbeit“ auf den 21. August 2018, dem Ende des dritten von EU und IWF oktroyierten Sparmemorandums. „Seit ich mich erinnern kann hat jede Regierung einen Rechenschaftsbericht über ihre ersten 100 Tage abgelegt. Unsere tatsächlichen ersten 100 Tage enden Morgen, weshalb ich heute Rechenschaft über unsere Arbeit ablege“, sagte er unter dem Hohngelächter der Opposition.
Auf Grund des wirtschaftlichen „Aufschwungs“ verkündete Tsípras sowohl die Senkung des ENFIA, der sozial ungerechten Steuer auf Haus- und Wohnungsbesitz, als auch die Senkung von Unternehmenssteuern. Im dritten Jahr in Folge werden darüber hinaus kurz vor Weihnachten 710 Millionen Euro Haushaltsüberschuss an 3,5 Millionen Bedürftige verteilt. Mit Zustimmung der EU-Kommission entfällt außerdem die 2017 mit der Troika vereinbarte erneute Rentenkürzung im Januar 2019. Ein Zugeständnis der Kommission für „die guten Wirtschaftsdaten Griechenlands“, die ein stabiles Wachstum von 2% ausweisen.
Alles in Butter also?
Wie so oft haben gute Wirtschaftsdaten nichts mit einem guten Leben der Menschen zu tun. Wie die linke Tageszeitung Efimerída ton Syntaktón vom 30. November vermeldet, waren allein im September eine halbe Million Griech*innen nicht in der Lage die Raten der Einkommenssteuer und des ENFIA zu bezahlen, womit sich die Privatschulden beim Finanzamt um 1,4 Milliarden Euro erhöhten. Das ganze Ausmaß der privaten Verschuldung wird bei Betrachtung der Zahlen der unabhängigen Behörde für öffentliche Einnahmen (AADE) deutlich, laut der jede/r zweite Steuerpflichtige, insgesamt 4,3 Millionen Menschen, offene Rechnungen beim Finanzamt hat. Schulden, die sich zusammen auf 103,09 Milliarden Euro belaufen. Zählt man die öffentlichen Schulden von 335 Milliarden Euro hinzu, stellt sich die Frage von welchem Aufschwung Tsípras redet. Auch bei der Schaffung von Arbeitsplätzen geht es laut AADE nicht wirklich voran. Nach wie vor ist in jedem griechischen Haushalt zumindest eine Person arbeitslos, was einer Arbeitslosenquote von knapp 20% entspricht. Ein Fortschritt im Vergleich zu den 30% bei Regierungsantritt vor vier Jahren. Mit der von Perspektivlosigkeit erzwungenen Auswanderung huntertausender junger, gut ausgebildeter, arbeitsloser Griech*innen, jedoch teuer erkauft.
Und trotz gebrochener Wahlversprechen und täglichen Elends herrscht einigermaßen Ruhe im Land. In den ersten Krisenjahren 2010 bis 2015 gelang es Syriza, die Widerstandsbewegungen als Steigbügelhalter nutzend, von der 4-Prozent-Partei zur Regierungsmacht aufzusteigen. Die Versprechung „vertraut uns, wir regeln das für euch“, wurde nach Jahren harter erfolgloser Abwehrkämpfe von Millionen Griech*innen dankbar angenommen. Mit der damit einhergehenden Passivität, gelang es Syriza Kämpfe zu okkupieren, Inhalte zu entschärfen, Widerstand zu befrieden und Auseinandersetzungen letztlich an die „unabhängige Justiz“ zu übergeben. Die alles Weitere im Sinne der Kapitalinteressen regelt.
„Die Justiz ist wie eine Schlange, sie beißt nur die Barfüßigen“, heißt ein bekanntes griechisches Sprichwort. So wird u.a. scheibchenweise und ganz rechtsstaatlich, der für Mensch und Natur verheerende Goldabbau auf Chalkidikí vorangetrieben. Der Wald von Skouriés ist gerodet, das Grundwasser abgesenkt, Land enteignet, die Goldfabrik gebaut, die Dämme für riesige Giftschlammseen aufgeschüttet. Und alles, obwohl keine Genehmigung für das nie erprobte, hochgiftige, chemische Verfahren zur Goldgewinnung vorliegt, und unzählige Aktivist*innen mit Strafverfahren wegen ihres Widerstands überzogen werden. Die kapitalistische Modernisierung des Landes durch Syriza ist ein ökologischer Alptraum. Geplant sind riesige Goldminen in Nord- und Zentralgriechenland, Erdölgewinnung durch Fracking im zentralen Bergland, Erdöl- und Erdgasförderung in Westgriechenland, dem Pelepones, im Ionischen Meer, der Nordägäis und südlich von Kreta. Erste Verträge mit Eldorado Gold, Total, Repsol, Edisson, Exxon Mobil und den griechischen Großkapitalisten Látsis und Bóbolas zur Erforschung und Ausbeutung der Vorkommen sind unterschrieben, der Widerstand organisiert sich.
Internationale Untersuchungen zeigen, dass Länder deren ökonomische Entwicklung auf der Ausbeutung von Bodenschätzen basiert, über die niedrigsten Standarts an Demokratie, Gesundheitsvorsorge, Umweltschutz und Bildung verfügen, während sie zugleich Spitzenplätze in den Bereichen Arbeitslosigkeit, Armut, soziale Ungleichheit, staatliche Gewalt und Korruption belegen. Da passt es, dass die von Faschisten durchsetzte Polizei auch unter Syriza straflos Migrant*innen und Demonstrant*innen foltert, Anarchist*innen oft Jahre auf Grund dreister Polizeikonstrukte im Knast sitzen, und im Sommer ein ungenutztes Juntagesetz ausgegraben wurde, mit dem vier Anarchisten, die letztinstanzlich vom Vorwurf der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ freigesprochen worden waren, als „individuelle Terroristen“ zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt wurden.
Syriza, die sogenannte Allianz der radikalen Linken, wird in den nächsten Monaten noch einige Wahlgeschenke an die geschundene Bevölkerung verteilen. Mit radikal links, Selbstbestimmung oder Befreiung hat das nichts zu tun. Sollte der seit der verratenen „Oxi“-Abstimmung 2015 andauernde Schockzustand vieler Griech*innen anhalten, könnte es dennoch zur Wiederwahl reichen. Für emanzipatorische Ansätze wie die besetzte selbstverwaltete Seifenfabrik Vio.Me in Thessaloníki (vgl. GWR 434), diverse Sozialkooperativen, Kollektive, anarchistische Zentren oder aktive Widerstandsbewegungen ist dies ohne Belang. Syriza ist kein Bündnispartner und im Zuge der stärker werdenden nationalistischen Mobilisierungen gehen wir so oder so schwierigen Zeiten entgegen. 21. Dezember 2018, Ralf Dreis, https://www.graswurzel.net/gwr/2018/12/syriza-contra-selbstbestimmung/?fbclid=IwAR0DrF43ZpSqNJLwim2PXOWoQp5EKw4ccnHGO9fcIS7ZR4hrSXls3k2u4CQ
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Austritt Grossbritanniens aus Galileo Nach der Weigerung der EU-Kommission, nach dem Ausscheiden Grossbritanniens aus der EU britische Firmen bei der Entwicklung des Public Regulated Service (PRS) des europäischen Satellitennavigationssystems zu berücksichtigen, gibt Grossbritannien die Beteiligung an den militärisch nutzbaren Teilen des Galileo-Systems auf. Premierministerin Theresa May kündigte den Schritt Ende November 2018 am G-20-Treffen in Buenos Aires an. Der PRS gehört zum militärisch nutzbaren Teil von Galileo und soll den Sicherheits- und Streitkräften der EU-Staaten zur Verfügung stehen, wenn Galileo voraussichtlich im Jahr 2020 erstmals eigene Navigationssignale aussendet. Laut May will London anstelle von Galileo nun auf ein eigenes Satellitennavigationssystem setzen, das in Zusammenarbeit mit Australien, Neuseeland und möglicherweise Kanada entwickelt werden soll. Die Kosten dafür werden auf 3 bis 5 Milliarden Pfund geschätzt, wobei ein Teil der Mehrausgaben durch die Umleitung von Geldern gedeckt werden kann, die für Galileo veranschlagt waren.
Die Entwicklung eines dritten westlichen satellitengestützten Navigationssystems, neben Galileo und dem amerikanischen Global Positioning System (GPS), wird von vielen Experten als überflüssig angesehen. Für die erfolgreiche britische Raumfahrtindustrie wäre die Eigenentwicklung nur ein dürftiger Ersatz für die Beteiligung am Projekt Galileo, das allein bisher 10 Milliarden Euro an Investitionen ausgelöst hat. Bleibt es beim Brexit und den jetzt bezogenen Positionen, droht der Galileo-Disput zum Mahnmal zu werden, dass die Verhandlungen über die zukünftige Kooperation zwischen London und der EU auch hässlich werden und dem sicherheitspolitischen Bündnis schaden könnten. Als die EU-Kommission vergangenen Frühling entschied, dass britische Firmen nur noch eingeschränkt am Galileo-Projekt beteiligt würden, äusserten sich britische Politiker entrüstet. Als erste Retourkutsche gewährte die Regierung einen 100-Millionen-Kredit für Vorabklärungen über die Entwicklung des eigenen Systems. Der von May angekündigte Schritt zeigt, dass es London mit dem zunächst als Drohung empfundenen Schritt ernst ist.
Die EU versucht, den Streit mit dem Hinweis herunterzuspielen, die britischen Streitkräfte könnten auch nach 2020 die Galileo-Signale nutzen, von den Einschränkungen seien lediglich der PRS und dessen Chiffrier-Software betroffen. Die EU begründet die Massnahme unter anderem unter Berufung auf die «Souveränität» des Staatenbundes. NZZ, Montag, 3. Dezember 2018, S. 5
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