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Kurzinfos April 2021



Die EU-Kommission verklagt Polen

– und fordert Sofortmassnahmen gegen das Land

Brüssel sieht durch die Justizreformen Warschaus die Unabhängigkeit der Richter gefährdet. Doch der Streit dreht sich auch um den Vorrang des europäischen gegenüber nationalem Recht.

Im Streit um den Umbau der Justiz durch Polens Regierung erhöht die EU-Kommission den Druck. Sie hat am Mittwoch, den 31. März 2021, bekanntgegeben, dass sie eine Klage gegen das Land vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) einbringt. Brüssel wirft Warschau vor, mit einem im Dezember 2019 verabschiedeten Gesetz gegen europäisches Recht zu verstossen: Gefährdet seien die Unabhängigkeit und die Persönlichkeitsrechte der Richter.

Umstrittenes «Maulkorb-Gesetz»

Die von Kritikern der rechten Regierung in Warschau als «Maulkorb-Gesetz» bezeichnete Vorlage erhöhte die politische Kontrolle über die Gerichte. Magistraten müssen seither weitgehende Offenlegungspflichten zu Mitgliedschaften in Organisationen erfüllen und dürfen sich in der Öffentlichkeit nicht politisch äussern. Bei Zuwiderhandlung drohen Strafen, die bis zur Entlassung reichen. Für die Disziplinierung zuständig ist eine 2018 geschaffene Kammer beim Obersten Gericht, deren Mitglieder indirekt das Parlament bestellt. Dort hält die Regierung unter der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) eine Mehrheit.

Bereits April 2020 hatte der EuGH geurteilt, dass die Kammer nicht unabhängig sei und ihre Tätigkeit einzustellen habe. Doch Polen umging das Verdikt, indem deren Kompetenzen erweitert wurden. Die Kammer kann nun andere Formen von Verfahren führen, die formal nicht der Disziplinierung dienen.

Doch sie erreichen den gleichen Effekt: Mitte März 2021 wandte sich die dem Justizministerium unterstellte Generalstaatsanwaltschaft an die Disziplinarkammer, damit sie die Immunität von drei missliebigen Mitgliedern des Obersten Gerichts aufhebe. Die EU-Kommission hat ihre Klage deshalb erweitert und fordert den EuGH auch auf, die Einhaltung rasch mit einer einstweiligen Verfügung durchzusetzen. Folgt ihr das Tribunal, drohen Polen bereits in wenigen Wochen hohe Strafzahlungen.

Europäisches gegen nationales Recht

Der Streit zwischen Polen und der EU um die Justizreform reicht aber tiefer. Bereits 2017 leitete die Kommission ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge ein und lancierte seither zusätzlich drei Vertragsverletzungsverfahren wegen der Justizreformen. Die Regierung begründet deren Notwendigkeit damit, dass alte, noch aus sozialistischer Zeit stammende Seilschaften weiterhin den Ton angäben unter den Richtern, die faktisch einen Staat im Staat darstellten.

Die PiS hat das Verfassungsgericht mit Loyalisten besetzt, während das Oberste Gericht Widerstand leistet. Die Folge ist ein chaotisches doppeltes Rechtssystem. Das Vorgehen der Regierung im Rechtsstreit mit der EU wird dabei stets härter: Entzog Warschau zunächst dem Obersten Gericht die Kompetenz, europäisches Recht auszulegen, argumentiert die Regierung nun, dieses müsse der Verfassung unterstellt werden. Der EuGH überschreite seine Kompetenzen. Er hat wiederholt und unzweideutig den Vorrang des Unionsrechts festgehalten. NZZ, 1. April 2021, S. 3


Verfassungsklagen gegen die EZB:

Ziehen deutsche Richter den billionenschweren Pandemie-Anleihekäufen den Stecker?

Im Kampf gegen wirtschaftliche Folgen der Corona-Pandemie hat die Europäische Zentralbank (EZB) fast 2 Bio. € für Wertpapierkäufe bereitgestellt. Das geht vielen Kritikern zu weit. Da Bundestag und Bundesregierung nicht einschreiten, hoffen sie auf Hilfe aus Karlsruhe. Dort sind zwei Klagen gegen die Pandemiekäufe der EZB hängig.

Die Einhegung der Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) durch Kläger vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht (BVerfG) scheint zu einem ewigen Hase-und-Igel-Wettkampf zu werden. Erst im vergangenen Mai hatten die Richter in Karlsruhe in einem aufsehenerregenden Urteil mehrere Verfassungsbeschwerden gegen die billionenschweren Staatsanleihekäufe der EZB im Rahmen des sogenannten PSPP (Public Sector Purchase Programme) teilweise gutgeheissen. Nun gibt es neue Klagen, diesmal gegen die Pandemie-Notfallanleihekäufe der EZB im Rahmen des im März 2020 lancierten PEPP (Pandemic Emergency Purchase Programme), mit dem die EZB die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie in der Euro-Zone bekämpfen will. Um was geht es, und haben die Klagen Aussicht auf Erfolg?

Kein Persilschein für das PEPP

Schon bei der Verkündung des brisanten Urteils zum PSPP am 5. Mai 2020 hatte der vorsitzende Richter, Andreas Vosskuhle, betont, dass sich das Urteil nicht auf das kurz zuvor beschlossene PEPP beziehe. Die Bemerkung steht allerdings nicht im Urteil. Im Gespräch mit der NZZ hatte Verfassungsrichter Peter Huber, der als Berichterstatter in den EZB-Prozessen federführende Richter des achtköpfigen Gremiums, im vergangenen Dezember im Hinblick auf das PEPP gesagt: «Wir waren juristisch weder befugt noch fachlich in der Lage gewesen, uns zu einem Programm zu äussern, das nicht angegriffen war und für das in der Pandemie vielleicht andere Gesichtspunkte gelten – von der Zeit, vom Umfang, vom Gewicht der einzelnen Kriterien her und so weiter.» Das seien sehr viele Stellschrauben. Huber sagte aber auch, die Äusserung von Vosskuhle sei kein Persilschein für das PEPP gewesen. Bereits am 26. August vergangenen Jahres hatte die Bundestagsfraktion der Alternative für Deutschland (AfD) in Karlsruhe eine Organklage eingereicht, weil die Bundesregierung und der Bundestag beim PEPP ihrer Integrationsverantwortung nicht nachkämen. Die Partei argumentiert, beide Institutionen müssten versuchen, den Massnahmen der EZB entgegenzuwirken. Anfang März ging dann eine Verfassungsklage mit 16 Beschwerdeführern, überwiegend Unternehmer und Professoren, in Karlsruhe ein. Die Kläger um den Prozessbevollmächtigten Markus C. Kerber, ein in Berlin ansässiger Jurist und Finanzwissenschafter, der schon im PSPP-Prozess in Karlsruhe involviert war, wehren sich nicht nur gegen das PEPP, sondern auch gegen die Absenkung der Anforderungen an bei der EZB zu hinterlegende Sicherheiten, welche die Notenbank im April 2020 beschlossen hatte. Die Klage liegt der NZZ vor.

Eine andere Gruppe von Klägern im PSPP-Verfahren hat dagegen aufgegeben, weiter gegen die EZB vorzugehen. Aus ihrer Sicht habe sich gezeigt, dass die Bundesregierung und der Bundestag nicht gewillt seien, das Urteil der Verfassungsrichter umzusetzen, so die Aussage eines Beteiligten, der nicht genannt werden will.

Ein «liberaler Souveränist»

Der Prozessbevollmächtigte Kerber, der sich selbst als «liberalen Souveränisten» bezeichnet, wirft dem Bundestag wegen der Untätigkeit bei der Einhaltgebietung der EZB die «Abdankung als haushaltspolitischer Gestalter» vor. Aus seiner Sicht gibt es für die Kläger vor allem zwei Ansatzpunkte, um die EZB erfolgreich in die Schranken zu weisen. Zum einen halte sich die EZB bei ihrer Selbstermächtigung nicht an die vom deutschen Verfassungsgericht in früheren Urteilen gezogenen Leitplanken. Zum anderen sei das PEPP primär wirtschaftspolitisch motiviert und habe die Grenzen der Geldpolitik längst hinter sich gelassen.

Die Karlsruher Richter hatten in früheren Urteilen die Bedeutung von Grenzen bei den Anleihekäufen betont, die sich die EZB selbst auferlegt hat. Die Notenbank wollte vor dem PEPP eine Obergrenze von 33% pro Emission und pro Emittenten einhalten und sich bei ihren Staatsanleihekäufen nach dem Anteil der nationalen Notenbanken am EZB-Kapital richten. Von beiden Kriterien hat sich die EZB beim PEPP verabschiedet. Sie will die Käufe nun «flexibel über den Zeitverlauf, die Anlageklassen und die Länder hinweg durchführen».

Die EZB erwirbt inzwischen Anleihen in einem Volumen, mit dem sie die gesamte Nettoneuverschuldung der Mitgliedsländer aufkaufen könnte. Aus Sicht von Volker Wieland, Geldpolitikexperte an der Universität Frankfurt und Mitglied der deutschen Wirtschaftsweisen, ist das ein sehr weitreichendes Vorgehen. Die neuen Staatsschulden im Euro-Raum würden durch die EZB damit zumindest temporär monetarisiert. Der Erwerb werde von der Notenbank geldpolitisch begründet. Ob es sich bei den Käufen dennoch um eine verbotene monetäre Staatsfinanzierung handle, wäre letztlich juristisch zu klären. Wichtig sei jedoch, dass die Notenbank kommuniziere, wie sie mittelfristig die Anleihebestände wieder reduziere.

Marktbeobachter wie die Analytiker der Commerzbank, welche die Politik der EZB ebenfalls kritisch sehen, halten eine gewisse Abweichung vom Kapitalschlüssel, etwa die Übergewichtung grösserer zulasten kleinerer Mitgliedsländer, für nachvollziehbar. Die Staatsanleihemärkte kleinerer Länder seien oft wenig liquide, was die Käufe dort erschwere. Seit August habe der Kaufanteil der vier grossen Länder Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien stets etwas oberhalb des Kapitalschlüssels gelegen. Im Grossen und Ganzen scheint sich die EZB jedoch einigermassen am Kapitalschlüssel zu orientieren – ob die Notenbanker dabei das PSPP-Urteil aus Karlsruhe im Hinterkopf haben?

Inflationsziel seit Jahren verfehlt

Der zweite Ansatzpunkt erscheint insofern schwieriger, als sich Geld- und Wirtschaftspolitik nie vollständig trennen lassen. Zwar argumentiert die EZB in verschiedenen Beschlüssen zum PEPP häufig wirtschaftspolitisch, etwa dass sie günstige Finanzierungsbedingungen für die Realwirtschaft unterstützen oder der Wirtschaft im Euro-Raum sowie den stark von der Pandemie betroffenen Sektoren generell helfen wolle. Doch sie führt stets auch an, mit ihren Entscheiden den allgemeinen geldpolitischen Kurs lockern zu wollen, um so Preisstabilität im Sinn des selbst gesetzten Inflationsziels von knapp 2% zu erreichen; dieses Ziel wird aber trotz Wertpapierkäufen in einem mittleren einstelligen Billionenbetrag seit Jahren verfehlt.

Standardmässig behaupten die Notenbankvertreter dabei nebulös, Risiken für den geldpolitischen Transmissionsmechanismus entgegenwirken oder bereits eingetretene Störungen des Mechanismus beheben zu wollen. Wie sich diese Störungen äussern, bleibt dabei im Dunkeln. Für die EZB scheinen stark abweichende Refinanzierungsbedingungen, sprich Zinssätze, bei den Staatsanleihen einzelner Mitgliedsstaaten den Transmissionsmechanismus zu stören. Dabei spiegeln sie aus Sicht des Marktes nur die unterschiedlichen Risiken zwischen Emittenten wie etwa Deutschland, den Niederlanden, Italien oder Griechenland.

Dieser Mechanismus ist nicht nur gesund, weil er die Staaten zu einer soliden Haushaltspolitik diszipliniert. Er entspricht auch Artikel 127, Absatz 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU, wonach die EZB im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb handeln soll, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert werden soll. Die starke Beeinflussung von Staatsanleiherenditen durch billionenschwere Wertpapierkäufe dürfte mit diesem Auftrag, der eine freie Preisbildung an freien Märkten impliziert, nur schwer zu vereinen sein. Die von der EZB befürchtete Defragmentierung des Euro-Raums durch zu unterschiedliche Bedingungen für die Ausgabe von Staatsanleihen ist faktisch schon seit der Schaffung der Währungsunion gegeben, je nach Situation etwas mehr oder weniger ausgeprägt.

Kerber und seine Mitstreiter fordern von den Verfassungsrichtern unter anderem, dass sie erneut eine Kompetenz- und Mandatsüberschreitung der EZB feststellen. Sie sollen zudem der Deutschen Bundesbank untersagen, im Rahmen des PEPP am Kauf von Staatsanleihen teilzunehmen und die Beschlüsse des EZB-Rates zur Aufweichung der Sicherheitenanforderungen zu befolgen. Die Richter in den roten Roben hatten die Kompetenzüberschreitung im Fall des PSPP vor allem mit der fehlenden Abwägung der Verhältnismässigkeit der Anleihekäufe durch die EZB begründet. Von einer solchen Verhältnismässigkeitsprüfung war beim Beschluss der EZB zum PEPP einmal mehr fast nichts zu lesen, wenngleich im EZB-Rat immerhin über die Verhältnismässigkeit diskutiert wurde, wie den Sitzungsprotokollen zu entnehmen ist.

Da das PEPP als Krisenprogramm in der akuten Phase der Pandemie beschlossen wurde, dürfte die Verhältnismässigkeit aus Sicht von Wieland leichter begründbar sein als beim PSPP, das noch angewendet worden sei, obwohl sich die Wirtschaft bereits wieder sehr gut entwickelt habe. Doch auch beim PEPP dürfte es laut Wieland mit der Dauer des Programms und dem Abklingen der Pandemie schwieriger werden, die Verhältnismässigkeit der Wertpapierkäufe in Billionenhöhe zu erklären. Einen Verstoss gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung hatte das Verfassungsgericht beim PSPP allerdings noch nicht erkannt. Das Urteil zum PSPP war pikanterweise erst ein bis zwei Monate nach der Lancierung des Pandemie-Kaufprogramms ergangen.

Jahre bis zu etwaiger Urteilsverkündung

Seit dem PSPP-Urteil, das mit sieben zu einer Stimme gefallen ist, hat sich die Zusammensetzung des Zweiten Senats jedoch geändert. Der damalige Vorsitzende Vosskuhle ist regulär ausgeschieden, die neue Vorsitzende ist Doris König. Die Gegenstimme sei von Christine Langenfeld gekommen, vermuten Beobachter. Manche tippen auch auf König. Für Vosskuhle ist auf Vorschlag der Grünen die auf Sozialrecht spezialisierte Astrid Wallrabenstein in den Senat eingezogen. Huber ist weiterhin Mitglied im Senat und würde aufgrund seiner langjährigen Erfahrung mit der Materie wohl wieder als Berichterstatter auserkoren. Insgesamt könnte sich der Senat jedoch eher in eine von den Klägern unerwünschte Richtung verändert haben. Das Bundesverfassungsgericht hat den Eingang der beiden Klagen bestätigt. Ein konkreter Entscheidungszeitraum sei nicht absehbar, heisst es aus Karlsruhe. Das Gericht hat mehrere Optionen: Es könnte beispielsweise die Klagen als unzulässig abweisen oder eine mündliche Verhandlung ansetzen. Vor einer Urteilsfindung könnte der Senat zudem einmal mehr die Kollegen des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg in den Prozess einbinden, so wie dies bereits in den vorherigen EZB-Prozessen geschehen ist. Sollte der Senat jedoch der Meinung sein, ein neuer Prozess behandle Fragen, zu denen sich der EuGH bereits in früheren Verfahren geäussert hat, könnte sich Karlsruhe den Weg über Luxemburg möglicherweise ersparen. Wie auch immer, bis zu einer etwaigen Urteilsverkündung dürften wohl nicht Monate, sondern Jahre vergehen. Bis dahin könnte das PEPP längst ausgelaufen sein. NZZ. 20. April 2021, S. 22


Italien – Drama in drei Akten

Zehn Jahre nach Mario Monti und seiner Technokratenregierung ist Anfangs 2021 eine weitere ehemalige Führungskraft von Goldman Sachs im Palazzo Chigi eingezogen. Mario Draghi behauptet von sich – wie früher Mario Monti, aber auch wie Emmanuel Macron im französischen Präsidentschaftswahlkampf von 2017 –, dass er über den Parteien stehe und die aufgeklärte Sicht des Experten vertrete. Dabei bewegt sich Draghi nur exakt zwischen den von Brüssel eingerammten Pflöcken, die da heißen „orthodoxe Haushaltspolitik“ und „Neoliberalismus“. Dennoch beansprucht er, die Kluft zwischen rechts und links zu überbrücken. Denn der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) hat es geschafft, das komplette italienische Parteienspektrum von links bis rechts außen hinter sich zu versammeln.

Das gilt auch für die Parteien, die durch ihre Opposition gegen die orthodoxe Haushaltspolitik groß geworden sind: Draghi konnte sich sogar die Unterstützung der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) und der Lega sichern, die beide mit ihrem Versprechen, die Sparpolitik zu beenden und sich dem EU-Diktat zu widersetzen, die Parlamentswahl vom 4. März 2018 gewonnen hatten.

Dass rechtsextreme Minister in Draghis Regierung sitzen, hat innerhalb der EU erstaunlich wenig Aufsehen erregt; und zwar weder in den Hauptstädten noch in den Medien, die die natio¬nale Koalition als musterhaftes Produkt des gesunden Menschenverstands feierten. Es gab auch keine Empörung über eine demokratische Kultur, in der es möglich ist, dass im März 2018 das Wahlvolk mehrheitlich gegen die von Brüssel diktierte Sparpolitik stimmt und drei Jahre später ohne neuerlichen Urnengang eine Regierung serviert bekommt, die genau diese Politik vertritt. Le Monde diplomatique, April 2021, S. 1, weiterlesen in https://monde-diplomatique.de/artikel/!5746258


Putsch im Einsatzgebiet

Berlin und Paris setzen auch nach dem Putsch in Mali auf eine militärische Lösung. Im Sahel werden mehr Zivilisten von Militärs getötet als von Jihadisten.

Berliner Politiker dringen nach dem Putsch in Mali auf noch stärkere Einflussnahme Deutschlands und der EU im Sahel. Brüssel solle sich "der Sicherheit in Westafrika mit mehr Energie" annehmen, fordert der verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Henning Otte. Bereits zuvor hatte der Bundestag eine Aufstockung der Ausbildungseinheiten in Mali genehmigt; die deutschen Truppen in Nordmali werden eine zusätzliche Drohne erhalten. Auch Frankreich bemüht sich um die Bereitstellung weiterer Truppen. Dabei hat die zunehmende Militarisierung des Sahel bislang vor allem dazu geführt, dass immer mehr Zivilisten von regulären Soldaten umgebracht werden; während die EU die malischen Streitkräfte trainiert, verüben malische Militärs Massaker an Dorfbewohnern. Der Putsch wiederum geht letzten Endes auf eine Dynamik zurück, die ihre Ursprünge im Unmut der Bevölkerung über die Korruption der mit den europäischen Mächten kooperierenden malischen Eliten hat. Insgesamt zeichnet sich eine Entwicklung ähnlich derjenigen in Afghanistan ab.

Prowestliche Korruption

Bei dem aktuellen Putsch in Mali handelt es sich bereits um den zweiten innerhalb von nur neun Monaten. Im ersten Putsch am 18. August 2020 hatten junge Offiziere um Oberst Assimi Goïta den damaligen Präsidenten Ibrahim Boubacar Keïta entmachtet. Gegen Keïta, einen engen Parteigänger der westlichen Mächte, vor allem Frankreichs, hatte sich in den Wochen und Monaten zuvor eine breite Protestbewegung erhoben, die die anhaltenden sozialen Missstände beispielsweise im Gesundheits- und im Bildungswesen, aber auch Manipulationen nach der Parlamentswahl vom Frühjahr 2020 und die grassierende Korruption anprangerte.[1] Hinzu kam bitterer Unmut in den Streitkräften: Einfache Truppen wurden immer wieder mit völlig unzulänglicher Ausrüstung in gefährliche Kampfeinsätze gegen Jihadisten geschickt, weil die Mittel, die für die Finanzierung der Ausrüstung vorgesehen waren, in den korrupten Seilschaften der Regierung versickerten. Damals führte der allgemeine Unmut über die vom Westen gestützte Regierung Keïta dazu, dass der Putsch in der malischen Bevölkerung zunächst auf spürbare Zustimmung stieß und Hoffnungen auf eine Verbesserung der Lage jenseits der faktisch vom Westen gedeckten Korruption weckte.

Der nächste Putsch

Die Hoffnung, nach dem Putsch könne sich die Lage zum Besseren wenden, ist mittlerweile verflogen. Auslöser des zweiten Putschs zu Wochenbeginn war eine Kabinettsumbildung, die die Übergangsregierung nach neu aufflackernden Protesten vorgenommen hatte; am Montag wurden Präsident und Ministerpräsident von Militärs festgesetzt. Goïta, formal Vizepräsident, hat den erneuten Putsch damit begründet, die Kabinettsumbildung sei nicht ausreichend mit ihm abgesprochen gewesen; den Ausschlag gegeben haben soll die Entlassung zweier Mitputschisten vom August 2020, Oberst Modibo Koné sowie Oberst Sadio Camara. Aktuelle Spekulationen knüpfen daran an, dass Camara ein Jahr an einer Militärakademie in Moskau verbrachte und nun "eine zu große Nähe zu Russland" erkennen lasse.[2] Andererseits hat Goïta militärische Ausbildungsprogramme in den Vereinigten Staaten und am George C. Marshall European Center for Security Studies im bayerischen Garmisch-Partenkirchen durchlaufen und im Rahmen von Manövern schon vor Jahren eng mit den US-Streitkräften kooperiert.[3] Bislang halten die Putschisten unter Goïta an bisherigen Plänen fest, im Oktober ein Verfassungsreferendum und im Februar 2022 Wahlen abzuhalten. Präsident und Ministerpräsident wurden inzwischen wieder freigelassen. "... dann hat das Ganze keinen Sinn"

Der zweite Putsch erfolgt zu einem Zeitpunkt, zu dem die Entwicklung in Mali immer mehr außer Kontrolle gerät. Die jihadistisch geprägten Aufstände haben sich seit Beginn der von Frankreich angeführten und von Deutschland maßgeblich mitgeprägten Militärintervention vor über acht Jahren deutlich ausgeweitet und nicht nur Malis Zentrum, sondern auch die Nachbarstaaten Niger und Burkina Faso erreicht. Eine militärische Lösung des Konflikts, wie sie die Mächte Europas anstreben, ist weniger denn je in Sicht; im Gegenteil: Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen fast 2.400 Zivilisten in Mali, Niger und Burkina Faso durch Kampfhandlungen umgebracht - mehr denn je zuvor.[4] Mehr als zwei Millionen Einwohner wurden aus ihren Wohnorten vertrieben. Darüber hinaus wurden zum ersten Mal mehr Zivilisten und unbewaffnete Verdächtige von regulären Streitkräften und mit ihnen kooperierenden Milizen getötet als von Jihadisten. "Wenn man mehr Angst vor dem Soldaten hat, der dich doch schützen soll, als vor dem bewaffneten Kriminellen, der dich umbringen würde", wird ein Überlebender eines Massakers der nigrischen Streitkräfte zitiert, "dann hat das ganze keinen Sinn".[5] Massakrierende Truppen

Die Vorwürfe treffen auch Militärs aus Europa. So starben bei einem Luftangriff, den französische Jets im Rahmen der französischen Opération Barkhane am 3. Januar 2021 auf das zentralmalische Dorf Bounty flogen, laut einer UN-Untersuchung 19 zivile Gäste einer Hochzeitsfeier.[6] Paris hatte behauptet, bei dem Angriff seien ausschließlich bewaffnete Aufständische ums Leben gekommen. Bereits seit Jahren werden blutige Massaker malischer Truppen beklagt (german-foreign-policy.com berichtete [7]); das wiegt auch deshalb schwer, weil die malischen Streitkräfte von der EU Training Mission (EUTM) Mali ausgebildet werden: In ihr hat die Bundeswehr eine starke Position inne und stellte mehrmals den Kommandeur. Vor knapp einem Jahr berichteten die Vereinten Nationen, malische Militärs hätten mindestens 119 Morde begangen und 32 Personen spurlos verschwinden lassen; allein einem Massaker von Soldaten an flüchtenden Dorfbewohnern am 5. Juni 2020 seien 37 Menschen zum Opfer gefallen.[8] Erst vor wenigen Wochen publizierte Human Rights Watch einen Bericht, in dem Morde von Militärs an 34 Dorfbewohnern und das "Verschwinden" von mindestens 16 Menschen dokumentiert wurden.[9] Im Unterschied zu dem UN-Bericht ging es dabei um Verbrechen, die nach dem ersten Putsch begangen wurden.

Mehr Militär

Auf den jüngsten Putsch reagieren Berlin und Paris mit empörtem Protest. Bereits am Dienstag teilte das Auswärtige Amt mit, der Putsch sende "ein desaströses Zeichen an die Bevölkerung Malis und die internationale Gemeinschaft": "Wir verurteilen das Vorgehen in aller Deutlichkeit".[10] Der französische Präsident Emmanuel Macron kündigte außerdem "gezielte Sanktionen" an.[11] In Berlin forderte der verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Henning Otte, eine Verstärkung der europäischen Aktivitäten im Sahel: Die EU müsse sich "der Sicherheit in Westafrika mit mehr Energie" annehmen.[12] Tatsächlich ist eine Ausweitung der militärischen Aktivitäten längst im Gang. Anlässlich von Videogesprächen von Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer mit deutschen Soldaten in Bamako und Gao hieß es Anfang Mai, die Bundeswehr werde in Mali eine zusätzliche Drohne erhalten.[13] Am 19. Mai hat der Bundestag einer Ausweitung des deutschen Kontingents bei EUTM Mali auf bis zu 600 Militärs (bisher: 450) zugestimmt.[14] Frankreich wiederum stockt die Task Force Takuba auf; in ihr bilden Spezialkräfte aus EU-Staaten Sondereinheiten aus mehreren Sahel-Staaten aus. Beteiligt sind bislang Estland, Italien, Schweden und Tschechien. Wie in Afghanistan

Mit der stetigen Ausweitung der Militärintervention in Mali bzw. im gesamten Sahel setzen Berlin und Paris die Militarisierung des Konflikts fort, obwohl diese bislang lediglich zu seiner Verschärfung geführt hat. Die Parallelen zu Afghanistan sind unübersehbar - seit Jahren [15]. Aus Afghanistan ziehen die westlichen Truppen inzwischen ab, im offenen Eingeständnis ihres militärischen Scheiterns.[16] https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8611/ 28. Mai, 2021



[1] Bernard Schmid: Mali vor dem Umbruch. akweb.de 17.08.2020.

[2] David Ehl: Mali: Was hinter dem "Putsch im Putsch" steckt. dw.com 26.05.2021.

[3] Fred Muvunyi, Antonio Cascais: Putsch in Mali: Welche Rolle spielt Russland? dw.com 28.08.2020.

[4], [5] Drissa Traoré: « Plus de civils ou suspects non armés ont été tués au Sahel en 2020 par des forces de sécurité que par des groupes extrémistes ». lemonde.fr 14.02.2021.

[6] UN investigation concludes French military airstrike killed Mali civilians. news.un.org 30.03.2021.

[7] S. dazu Die Menschenrechtslehrer (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7689/ ).

[8] UN expert urges Mali to step up measures to end extrajudicial executions and vicious cycle of impunity. ohchr.org 12.06.2020.

[9] Mali: Killings, 'Disappearances' in Military Operations. hrw.org 20.04.2021.

[10] Auswärtiges Amt zur Lage in Mali. Pressemitteilung, 25.05.2021.

[11], [12] Macron will Sicherheitsrat wegen Mali anrufen. n-tv.de 25.05.2021.

[13] Anzahl der Heron-Drohnen für MINUSMA-Mission der Bundeswehr in Mali wird erhöht. bmvg.de 06.05.2021.

[14] Bundestag verlängert Ausbildungsmission der Bundeswehr in Mali. bundestag.de 19.05.2021.

[15] S. dazu Wie in Afghanistan (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/6946/ ).

[16] S. dazu Abzug aus Afghanistan (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8588/ ).


Global Britain und die EU (II)

EU erhöht trotz des Post-Brexit-Handelsabkommens den Druck auf Großbritannien. Regierungsberater sehen gemeinsame Außen- und Militärpolitik in Gefahr.

Heftige Attacken deutscher Politiker und Medien gegen Großbritannien begleiten die Ratifizierung des Handels- und Kooperationsabkommens der EU mit dem Vereinigten Königreich. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen droht mit Strafmaßnahmen, sollte London das Abkommen nicht penibel einhalten; in Brüssel sind Strafzölle im Gespräch. Deutsche Leitmedien schüren das überkommene Ressentiment vom "hinterlistigen" Großbritannien ("perfides Albion"). Berliner Regierungsberater warnen, die schwer "belasteten" Beziehungen setzten der dringend erwünschten außen- und militärpolitischen Kooperation der EU mit dem Vereinigten Königreich "Grenzen"; es gelte daher, "in bi- und minilateralen Formaten", zum Beispiel im Rahmen der "E3" (Deutschland, Frankreich, Großbritannien), "Vertrauen" aufzubauen, um "die Basis für eine langfristige institutionalisierte Kooperation" zu legen. Dabei wachsen die Spannungen in den Auseinandersetzungen um die Zusammenarbeit auf dem Finanzsektor weiter und drohen die Gräben zwischen beiden Seiten zu vertiefen.

Fristverlängerungen

Klar verspätet hat das Europaparlament am Dienstag dem Handels- und Kooperationsabkommen mit Großbritannien zugestimmt, das den Rahmen für die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich nach dessen Austritt aus der Union absteckt. Für die Verabschiedung des Vertrags sprachen sich 660 von 697 Abgeordneten aus; er kann nun am 1. Mai in Kraft treten. Ursprünglich war die Ratifizierung des Abkommens bis spätestens Ende Februar vorgesehen. Weil sich das Europaparlament dazu aber nicht in der Lage sah - eine Übersetzung des Vertrags in sämtliche EU-Amtssprachen und seine sorgfältige juristische Prüfung seien bis dahin nicht zu bewältigen, hieß es -, musste Brüssel um eine Verlängerung der Frist bis Ende April bitten; London gewährte dies umstandslos. Im Gegenzug hat die EU die Bitte des Vereinigten Königreichs kühl zurückgewiesen, auch die Frist bis zur Einführung bestimmter Nordirland betreffender Regelungen zu verlängern; die britische Regierung hält das für unumgänglich, um ernste Probleme bei der Versorgung des Landesteils mit Lebensmitteln auszuräumen. Von Brüssel abgewiesen, hat London die Frist kürzlich eigenmächtig verlängert, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen und größere Unruhen in Nordirland zu verhindern.

"Perfides Albion"

Die EU nimmt dies nun zum Anlass, politisch und juristisch gegen Großbritannien vorzugehen. Bereits Mitte März hat Brüssel dazu ein Vertragsverletzungsverfahren gegen London angestrengt. Dies ist an sich nichts Außergewöhnliches: Mitte vergangenen Jahres etwa waren insgesamt 81 Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland anhängig (german-foreign-policy.com berichtete [1]), ohne dass das zu größeren Konsequenzen für die Bundesrepublik geführt hätte. Beim Aufbau von Druck auf das Vereinigte Königreich legt die EU nun freilich nach: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen droht, weitere "Instrumente" einzusetzen, "wenn es notwendig ist"; am Dienstag war beispielsweise von einer etwaigen Verhängung von Strafzöllen gegen London die Rede.[2] Parallel zu den eskalierenden Drohungen heizten deutsche Politiker und Medien die negative Stimmung gegenüber Großbritannien weiter an. Nicola Beer (FDP), Vizepräsidentin des Europaparlaments, warf der britischen Regierung vor, mit "aufgeblasenen Backen" zu operieren, während der SPD-Europaabgeordnete Bernd Lange ohne nähere Begründung behauptete, London könne der EU "unseriöse Finanzdienstleistungen" aufnötigen. "Die Europäer", hieß es etwa im "Handelsblatt", hätten es mit einem "hinterlistig agierenden Nachbarn" zu tun.[3]

Schwierige Kooperation

Während Politik und Medien Ressentiments schüren, warnen Berliner Regierungsberater, "die belasteten ... Beziehungen" zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich setzten der außen- und militärpolitischen Kooperation "Grenzen".[4] Wie eine aktuelle Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) festhält, hatte die Union dem Vereinigten Königreich bereits bei den Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen zwar eine außen- und militärpolitische Zusammenarbeit angeboten. Allerdings habe sie London dabei lediglich in Aussicht gestellt, sich "als Unterstützer ohne Mitspracherecht an EU-Entscheidungen zu beteiligen", was freilich für Großbritannien keine akzeptable Option gewesen sei. Die jüngsten Spannungen verschlechterten die Aussichten weiter, zumal das Vereinigte Königreich nun unzweideutig auf Absprachen mit einzelnen EU-Mitgliedern, vor allem mit Frankreich und Deutschland, anstatt einer Abstimmung mit der Union als ganzer setze. Aus Sicht deutscher Strategen sind die Differenzen schädlich: Eigentlich setzt Berlin darauf, in der Außen- und Militärpolitik eine möglichst enge Kooperation der EU mit London zu erreichen, um dessen diplomatische und insbesondere auch militärische Potenziale für eigene Ziele nutzen zu können (german-foreign-policy.com berichtete [5]).

"Gift im System"

Um darauf hinzuarbeiten, plädiert die SWP dafür, zunächst "in bi- und minilateralen Formaten" außen- und militärpolitisch mit Großbritannien zu kooperieren, insbesondere im Rahmen der "E3", eines lockeren Zusammenschlusses der Bundesrepublik mit Frankreich und dem Vereinigten Königreich, der sich aus Sicht der beteiligten Staaten zum Beispiel in den Atomverhandlungen mit Iran bewährt hat.[6] Eine erfolgreiche Zusammenarbeit in Kleinstformaten könne "funktionierende Arbeitszusammenhänge wiederherstellen, Vertrauen aufbauen und positive Ergebnisse zeitigen - und somit die Basis für eine langfristige institutionalisierte Kooperation legen". Für eine "Normalisierung und Institutionalisierung" der Beziehungen zwischen Brüssel und London sei freilich nicht bloß "eine veränderte politische Position" des Vereinigten Königreichs unverzichtbar, konstatiert die SWP, sondern auch "eine größere Offenheit der EU". Davon ist die Union mit dem Vertragsverletzungsverfahren gegen Großbritannien und mit den jüngsten Strafzolldrohungen noch weit entfernt: "Die Drohungen der EU", hieß es gestern in einem Kommentar, seien "nicht die Musik, die man sich für einen Neuanfang wünscht"; es sei "Gift im System".[7]

Die Zukunft der Londoner City

Dabei dauern die Auseinandersetzungen auf einem Sektor an, der im Post-Brexit-Handels- und Kooperationsabkommen ausgespart worden ist: auf dem Finanzsektor. Zwar haben sich die EU und Großbritannien Ende März auf ein Memorandum of Understanding geeinigt, das die Grundzüge für die künftige Zusammenarbeit bei Finanzdienstleistungen absteckt. Allerdings stehen die zentralen "Äquivalenzentscheidungen" noch aus: Durch sie würde die EU die Gleichwertigkeit der britischen Finanzmarktregulierung mit ihrer eigenen erklären - und damit die Voraussetzung für den Zugang britischer Finanzdienstleister zu den Märkten der Union schaffen. In den meisten Teilbranchen verweigert Brüssel bislang die "Äquivalenz", um Druck auszuüben und London eine Unterordnung unter EU-Finanzregularien abzunötigen. In der City verstärkt dies nun allerdings den Widerstand; dort nehmen die Bestrebungen zu, nicht mehr auf eine "Äquivalenz" mit der stagnierenden EU, sondern vor allem auf Zukunftssektoren wie die Fintech-Branche [8] und den Zugang zu Märkten außerhalb der Union [9] zu setzen, die zum Teil erheblich schneller wachsen. Gelingt dies, dann vertiefen sich die trennenden Gräben zwischen den britischen Inseln und dem europäischen Kontinent bald noch mehr. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8583/ 29. April 2021



Mehr zum Thema: Global Britain und die EU (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8557/.

[1] S. dazu Deutsche Sonderwege (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8510/).

[2], [3] Christoph Herwartz: Handelsvertrag der EU mit Großbritannien kommt: Kein harter Brexit, aber großer Ärger. handelsblatt.com 27.04.2021.

[4] Claudia Major, Nicolai von Ondarza: Die EU und Global Britain: So nah, so fern. SWP-Aktuell Nr. 35. April 2021.

[5] S. dazu Das europäische Militärdreieck (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8174/) und Die Zukunft der Kriegführung (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8461/).

[6] Claudia Major, Nicolai von Ondarza: Die EU und Global Britain: So nah, so fern. SWP-Aktuell Nr. 35. April 2021.

[7] Klaus-Dieter Frankenberger: Trauer und Drohungen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.04.2021.

[8] Philip Plickert: Die City sucht den Fintech-Ausweg. faz.net 11.04.2021.

[9] Simon Foy: EU 'needs London' and will sign post-Brexit City Deal, PwC predicts. telegraph.co.uk 25.04.2021.


Impfstoffdiplomatie der EU



Außenminister Heiko Maas sucht in Belgrad russischen und chinesischen Einfluss zurückzudrängen. EU will Impfstoffe liefern - freilich deutlich weniger als China.

Mit Gesprächen in Belgrad sucht Außenminister Heiko Maas am heutigen Freitag den Einfluss Russlands und Chinas in Südosteuropa zurückzudrängen. Beide Länder, die wirtschaftlich (China) und politisch-militärisch (Russland) schon seit geraumer Zeit eng mit Serbien kooperieren, haben ihren Einfluss dort im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie noch weiter ausgebaut: Knapp 70 Prozent der serbischen Bevölkerung geben an, China habe ihrem Land die meiste Hilfe geleistet; weniger als zehn Prozent sagen dies von der EU. Dass die Menge der an Serbien gelieferten Impfdosen inzwischen fast die Hälfte der Bevölkerungszahl erreicht, verdankt das Land tatsächlich der Volksrepublik. Die EU sucht nun mit der Ankündigung gegenzuhalten, bis Ende August 651.000 BioNTech/Pfizer-Impfdosen in die sechs ihr nicht angehörenden Länder Südosteuropas zu liefern - kaum mehr, als allein Albanien aus China erhält. In Prishtina, wo Maas gestern Gespräche führte, werden neue Großalbanien-Pläne diskutiert; sie haben das Potenzial, neben Albanien auch Nordmazedonien mit seiner albanischsprachigen Minderheit zu destabilisieren.

Die "strategische Souveränität" der EU

Zentrales Motiv für die Reise nach Belgrad und Prishtina, zu der Außenminister Heiko Maas am gestrigen Donnerstag aufgebrochen ist, sind Bemühungen Berlins und der EU, den deutlich gestiegenen Einfluss Russlands und Chinas vor allem in Serbien zurückzudrängen. Moskau kooperiert mit Belgrad nicht zuletzt militärisch; die serbischen Streitkräfte setzen in hohem Maß russische, in jüngster Zeit auch chinesische Waffen ein. China wiederum arbeitet ökonomisch in wachsendem Umfang mit Serbien zusammen; ist Deutschland noch größter Handelspartner, Frankreich noch größter Investor in dem südosteuropäischen Land, so ist die Volksrepublik zum drittgrößten Lieferanten und, rechnet man Investitionen aus Hongkong hinzu, zum zweitgrößten Investor aufgestiegen. Vor allem im Rahmen der Neuen Seidenstraße (Belt and Road Initiative, BRI) treibt Beijing den Ausbau der serbischen Infrastruktur voran.[1] Berlin ist alarmiert - dies nicht nur, weil es China prinzipiell als Rivalen betrachtet, sondern vor allem, weil die Dominanz Deutschlands und der EU über Südosteuropa zur Debatte steht: "Eine 'strategische Souveränität' Europas", erklärte Maas im März, könne "nicht abschließend erreicht werden ohne eine enge Anbindung auch der Westbalkan-Staaten an die Europäische Union".[2]

Impfstofflieferanten

Die Chancen, den russisch-chinesischen Einfluss aus Serbien zu verdrängen, haben sich seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie Anfang 2020 deutlich verschlechtert. Bereits im Frühjahr 2020 schlug der EU-Exportstopp für medizinische Schutzausrüstung, von dem Belgrad kalt erwischt wurde, negativ zu Buche, während China mit der Lieferung dringend nötiger Hilfsgüter punkten konnte (german-foreign-policy.com berichtete [3]). In diesem Jahr hat sich die Entwicklung durch das weitgehende Ausbleiben europäischer Impfstofflieferungen fortgesetzt. Während Serbien bislang nur eine sehr geringe Menge an Impfdosen aus der EU erhielt, ist es mit russischen sowie vor allem mit chinesischen Vakzinen so gut versorgt worden, dass es mittlerweile Impfdosen im Umfang fast seiner halben Bevölkerungszahl erhalten hat - dem Anteil nach knapp doppelt so viel wie die Bundesrepublik. Ende März verimpften serbische Ärzte sogar Tausende Dosen an Bürger der Nachbarstaaten, die bislang völlig unterversorgt sind.[4] Darüber hinaus sollen Impfstoffe russischer und chinesischer Unternehmen - Sputnik V und das Vakzin von Sinovac - in Zukunft in Serbien produziert werden. Belgrad will damit nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern zudem diejenige der Nachbarstaaten versorgen.[5]

Keine Mehrheit für Brüssel

Die Entwicklung schlägt sich zunehmend in den außenpolitischen Präferenzen der serbischen Bevölkerung nieder. Eine im Dezember 2020 in Belgrad veröffentlichte Umfrage ergab, dass nur 9,6 Prozent der serbischen Bevölkerung der Ansicht waren, im Kampf gegen die Covid-19-Pandemie sei ihr Land am stärksten von der EU unterstützt worden. 11,3 Prozent waren der Auffassung, die meiste Hilfe sei aus Russland gekommen, während 69,4 Prozent China nannten. Die Umfrage wurde noch vor den ersten Impfstofflieferungen durchgeführt, die - wie erwähnt - vorwiegend aus der Volksrepublik kamen.[6] Bereits im November 2020 hatte eine weitere Umfrage gezeigt, dass die offiziell von der serbischen Regierung angestrebte EU-Mitgliedschaft in der Bevölkerung nicht die Mehrheit hinter sich hat: Demnach lehnen 51 Prozent aller Serben einen Beitritt ihres Landes zur EU ab. 16 Prozent der Befragten waren der Ansicht, China sei "Serbiens bester Freund", während 40 Prozent diese Einstufung Russland zuschrieben. Sogar 72 Prozent äußerten die Auffassung, Russland übe einen positiven Einfluss auf Serbien aus.[7] Die Stimmung spiegelt die tatsächliche Belgrader Außenpolitik wider: Laut Experten ist Serbien dasjenige Land Südosteuropas, das die außenpolitischen Ziele der Union am wenigsten übernommen hat.[8]

Kein Schlüsselmoment

Entsprechend ist Außenminister Maas bemüht, mit seinem aktuellen Besuch in Serbien die Bindungen des Landes an Deutschland und die EU zu stärken. Unmittelbar vor Maas' Abreise hat Brüssel angekündigt, den Ländern Südosteuropas 651.000 Dosen des BioNTech/Pfizer-Impfstoffs zur Verfügung zu stellen. Davon sollen Montenegro 42.000, Kosovo 95.000, Nordmazedonien 119.000, Albanien 145.000 und Bosnien-Herzegowina 214.000 Dosen erhalten. Serbien wird, weil es bereits vergleichsweise gut versorgt ist, nur 36.000 Dosen bekommen. Maas ruft die Tatsache, "dass wir den zunehmenden Impffortschritt in der EU nun auch mit den Staaten des Westlichen Balkan teilen können", zum "Schlüsselmoment im gemeinsamen Kampf gegen das Virus" aus.[9] Freilich kann von einem Schlüsselmoment für diejenigen Staaten Südosteuropas, die chinesische Vakzine erhalten, keine Rede sein: Neben Serbien, für das die 36.000 Dosen kaum noch ins Gewicht fallen, ist das insbesondere Albanien, das dank Vermittlung der Türkei, die mit Sinovac eng kooperiert, eine halbe Million Sinovac-Dosen erhält. 192.000 davon hat es bereits bekommen, der Rest folgt im Mai. Der Zeitraum, in dem die EU-Lieferungen erfolgen sollen, wird vage auf "Anfang Mai bis Ende August" festgelegt.[10]

Großalbanien-Pläne

Bereits gestern hatte Maas Gespräche in Prishtina geführt, bei denen es neben dem Kampf gegen die Covid-19-Pandemie vor allem um die Beziehungen zwischen Prishtina und Belgrad ging. "Das immer noch ungelöste Verhältnis zwischen Serbien und Kosovo bremst die Entwicklung beider Länder und der gesamten Region", hatte Maas vorab erklärt.[11] Freilich ist Maas' Äußerung auch eine Aussage über die Unfähigkeit der EU, ihren Anspruch einzulösen, Konflikte wenigstens in ihrer direkten Nachbarschaft beilegen zu können: Die Union und ihre Mitgliedstaaten arbeiten seit über zwei Jahrzehnten vergeblich daran, das mit ihrer Hilfe völkerrechtswidrig abgespaltene Kosovo umfassender in die Region einzubinden und ihm so zu einer gedeihlichen Entwicklung zu verhelfen. Mit der seit dem 22. März amtierenden Regierung von Ministerpräsident Albin Kurti - der ersten, die nicht unmittelbar von den Mafiaseilschaften ehemaliger UÇK-Milizionäre abhängig ist - könnte die Lage sogar weiter eskalieren: Kurti, für großalbanische Positionen bekannt, hat einen Ableger seiner Partei Vetëvendosje in Albanien gegründet und will einen zweiten in Nordmazedonien etablieren; dort spricht ein Viertel der Bevölkerung albanisch. Die Großalbanien-Agitation hat das Potenzial, Südosteuropa, statt die Lage dort zu verbessern, in neue Unruhen zu stürzen.[12] https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8578/ 23. April 2021



[1] S. auch Machtkämpfe in Ost- und Südosteuropa (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8519/).

[2] "Wir meinen es ernst mit einer EU-Perspektive für alle Staaten des Westlichen Balkans". auswaertiges-amt.de 12.03.2021.

[3] S. dazu Die "Politik der Großzügigkeit" (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8274/).

[4] Katy Dartford: Serbia innoculates neighbours as other Balkan countries receive doses of China's vaccine. euronews.com 28.03.2021.

[5] Serbia to produce Chinese COVID-19 vaccine. euronews.com 11.03.2021.

[6] Belgrade Centre for Security Policy: Serbia in the jaws of the Covid-19 pandemic. Belgrade, December 2020.

[7] Poll: Russia and China are Serbians' 'best friends'. euractiv.com 23.11.2020.

[8] Igor Bandović: Serbia's EU accession process: A geopolitical game. spectator.clingendael.org 23.03.2021.

[9] Neues Momentum für die Normalisierung der serbisch-kosovarischen Beziehungen. auswaertiges-amt.de 22.04.2021.

[10] Stephan Löwenstein, Michael Martens: Nachbarschaftshilfe als Narrativ. Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.04.2021.

[11] Neues Momentum für die Normalisierung der serbisch-kosovarischen Beziehungen. auswaertiges-amt.de 22.04.2021.

[12] Michael Martens: Großalbanische Träume. Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.04.2021.


Draghismus: Glaubt nicht dem Hype

Dank Mario Draghi sei Italien in wenigen Monaten vom "jugendlichen Straftäter der EU" zum "Vorzeigeeuropäer" geworden. Was ist dran an dieser medialen Erzählung vom langersehnten Modernisierer und Revolutionär?

Von einem unbändigen Enthusiasmus sind sowohl die lokale als auch die internationale Presse ergriffen, seit der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank Mario Draghi Mitte Februar als neuer italienischer Ministerpräsident vereidigt wurde. Diese Ergriffenheit grenzt nicht selten an die Art von Personenkult, den man eher mit totalitären Regimen in Verbindung bringt, als mit "liberal-demokratischen" Gesellschaften.

Jüngste Beispiele für ungezügelten "Draghismus" sind zwei Artikel in der New York Times und der Financial Times. Die Argumente sind mehr oder weniger dieselben: Dank Draghi sei Italien in nur wenigen Monaten vom "jugendlichen Straftäter der EU" zum "Vorzeigeeuropäer" geworden, wie es ein in der Financial Times zitierter Senior Policy Fellow des European Council on Foreign Relations ironiefrei formuliert.

Wenn wir dieser phantasievollen Erzählung Glauben schenken sollen, dann lag Italien, bevor Draghi auf der Bildfläche erschien, "bei der wirtschaftlichen Dynamik und den dringend benötigten Reformen hinter seinen europäischen Partnern zurück" und war "zu einem Paria innerhalb der EU" geworden, nachdem es von gefährlichen "Populisten" (nämlich der Fünf-Sterne-Bewegung und der Liga) okkuppiert worden war. Diese hätten Italien in "einen instabilen und nicht vertrauenswürdigen Partner verwandelt", wollten "die EU schwächen und mit Moskau und Peking flirten" und ruinierten damit den internationalen Ruf des Landes.

Nun aber hat sich alles geändert. Nicht nur, dass Draghi endlich die "Reformen" anführt, die Italien angeblich so "dringend braucht". Sein "Reformplan", den er kürzlich in Brüssel als Bedingung für den Zugang zu den Geldern aus dem viel gepriesenen "Rettungsfonds" der EU – der European Recovery and Resilience Facility – eingereicht hat, wurde von Bloomberg als "einmalige Gelegenheit [zur] Modernisierung eines dysfunktionalen Staates" gepriesen. Aber, so die Financial Times, "Roms Stimme [wird jetzt] laut und deutlich in Paris und Berlin gehört" und bestimmt in der Tat "zunehmend die Agenda, während die EU versucht, aus der COVID-19-Pandemie herauszukommen".

Insbesondere wird Draghi bescheinigt, dass er die EU bei der (notorisch langsamen und chaotischen) Einführung von Impfstoffen "aufgerüttelt" hat, nachdem er eine für Australien bestimmte Lieferung von Impfstoffen beschlagnahmt hatte, was die Europäische Union dazu gebracht haben soll, "noch umfassendere und härtere Maßnahmen zu genehmigen, um den Export von COVID-19-Impfstoffen zu unterbinden, die in Europa bitter benötigt werden".

Schließlich wurde Draghi auch dafür gelobt, dass er bei der Fiskalpolitik in Europa eine Vorreiterrolle einnimmt, indem er "Europas größtes Konjunkturprogramm" ankündigte, das angeblich dazu beiträgt, "den Block mehr auf Linie mit dem Vorstoß in der gesamten fortgeschrittenen Welt zu bringen, mit außergewöhnlichen Konjunkturmaßnahmen der Regierungen auf eine beispiellose Wirtschaftskrise zu reagieren".

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Mario Draghi im Alleingang eine Revolution nicht nur in Italien, sondern in der gesamten EU in die Wege geleitet hat. Und das alles im Laufe von ein paar Monaten. Aber halten irgendwelche dieser großartigen Behauptungen einer ernsthaften Prüfung stand?

Beginnen wir mit der Annahme, dass die Probleme Italiens im Wesentlichen in den fehlenden marktliberalen Reformen liegen und dass das Land durch dessen Einleitung endlich wieder auf einen Wachstumspfad gebracht werden kann. Das ist eine alte Erzählung, die besonders nördlich der Alpen sehr beliebt ist. Leider wird sie von den wirtschaftlichen Daten nicht gestützt.

In der Tat hat Italien seit den frühen 1990er Jahren, wie eine aktuelle Studie dokumentiert, eine Vielzahl von "Marktreformen" umgesetzt: Reformen der "coporate governance", die darauf abzielen, die Unternehmenskontrolle durch Aktionäre anfechtbarer zu machen, die Privatisierung der wichtigsten staatlichen Banken und Unternehmen, Reformen, die die "Flexibilität" des Arbeitsmarktes vergrößern und Reformen, die den Wettbewerb auf den Produktmärkten intensiviert. Die Studie belegt, "dass Italien intensiver als die meisten anderen Länder liberalisierte, insbesondere ab 1992, mehr als Deutschland und vor allem Frankreich". Allein in den letzten zehn Jahren hat sich Italiens "ease of doing business"-Ranking laut Weltbank von Platz 78 auf Platz 58 verbessert – aber ohne spürbare Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum.

Tatsächlich ist die Einleitung dieser Reformen mit einem Beginn der Stagnation der italienischen Wirtschaft zusammengefallen. Das ist kein Zufall: Inzwischen ist empirisch belegt (siehe hier und hier), dass Italiens jahrzehntelange Krise als eine Krise der Post-Maastricht-Ordnung des italienischen Kapitalismus betrachtet werden sollte, die auf Privatisierung, fiskalischer Austerität, Lohnkompression und der radikalen Deregulierung der Arbeitsmärkte beruht ( euphemistisch "Strukturreformen" genannt), welche die Essenz des makroökonomischen Regelwerks der Wirtschafts- und Währungsunion darstellen.

Interessanterweise war einer der Anführer dieses "Reformregimes" schon in den frühen 1990er Jahren kein anderer als Draghi selbst. Das Letzte, was Italien also braucht, sind weitere wachstumshemmende Reformen, die den gegenwärtigen Schlamassel Italiens erst verursacht haben.

Denjenigen, die behaupten, Italien sei gesegnet, weil es endlich einen überzeugten EU-Befürworter an der Spitze hätte, sei gesagt, dass Italiens Regierungen in den letzten Jahrzehnten allesamt überzeugte EU-Befürworter waren. Da die Regierung der Fünf-Sterne-Bewegung nur etwas mehr als ein Jahr an der Macht war (2018-2019), ist es schwer, die Schuld für Italiens Probleme den "Populisten" zuzuschieben.

Was die Behauptung betrifft, Draghi habe die Einführung von Impfstoffen in der EU " in Gang gebracht", ist unklar, auf welches Ereignis sich diese Aussage bezieht. Die EU liegt weiterhin dramatisch hinter anderen fortgeschrittenen (und sogar vielen nicht fortgeschrittenen) Ländern zurück, was die Impfstoffversorgung angeht, und ihre Beschaffungsstrategie stößt weiterhin auf eine Hürde nach der anderen. Darüber hinaus mutet die Tatsache, dass EU-Enthusiasten jetzt Draghi und die EU dafür loben, endlich den Export von Impfstoffen eingeschränkt hat, geradezu surreal an. Es sei daran erinnert, dass die EU auf der Sakralisierung der vier kapitalistischen Freiheiten – dem freien Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr – und der strikten Begrenzung von staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft gegründet ist. Die Tatsache, dass dieselben Enthusiasten des freien Marktes (einschließlich Draghi), die jahrelang diese neoliberale Architektur der EU verteidigt haben, nun Exportkontrollen bejubeln, ist grotesk - und zeigt, dass die EU nur überleben kann, indem sie ständig ihre eigenen Regeln verletzt.

Die ganze Situation wird aber noch skurriler dadurch, dass die EU kein wirkliches Exportverbot durchgesetzt hat. Wir haben es also mit einem Narrativ zu tun, das weder seinen eigenen Maßstäben genügt, noch der Wahrheit entspricht. Tatsächlich zeigen die neuesten Daten, dass die Europäische Union weiterhin mehr Impfstoffe exportiert als sie verabreicht.

Apropos Impfstoffe: Bemerkenswert ist auch, dass Draghi nicht einmal zur jüngsten Telefonkonferenz zwischen Merkel, Macron und Putin eingeladen wurde, um Russlands Impfstoff Sputnik V zu diskutieren - so viel zum Thema "die Agenda in Europa bestimmen".

Schließlich ist Draghis "massives" Konjunkturprogramm bei näherem Blick viel weniger beeindruckend, als insinuiert wird. Draghi hat angekündigt, dass er das Defizit der Regierung auf 11,8 Prozent des BIP erhöhen wird. Das mag viel klingen, allerdings lag das Defizit im letzten Jahr bei 10,8 Prozent des BIP. Wir haben es also bestenfalls mit einem Anstieg des Defizits um einen Prozentpunkt zu tun. Das ist nicht gerade ein Konjunkturimpuls. Der ehemalige stellvertretende Direktor in den Abteilungen Forschung und Europa des Internationalen Währungsfonds, Ashoka Mody, kommentierte das auf Twitter so:

"Die Zahl zeigt, dass ein Defizit nicht dasselbe ist wie ein Stimulus. Das Defizit ist hoch, weil die Wirtschaft in diesem Jahr zusammengebrochen ist. Ein Stimulus ist eine Erhöhung des Defizits, um das Wachstum anzukurbeln. Meine Lesart der IWF-Zahlen ist, dass Italien sowohl bei der Stimulus- als auch bei der Wachstumsmetrik im nächsten Jahr zurückbleiben wird".

Alles in allem ist Draghi auf dem besten Weg, ein Macron 2.0 zu werden: Zum Zeitpunkt seiner Wahl wurde der französische Staatschef auch von den Mainstream-Medien als großer Modernisierer und EU-freundlicher Reformer gepriesen; heute hat er einen der niedrigsten Beliebtheitswerte in Europa. Man kann die Realität beschönigen, so viel man will, früher oder später holt sie einen ein. Von Thomas Fazi, 29. April 2021, https://makroskop.eu/15-2021/draghismus-glaubt-nicht-dem-hype/


Rahmenvertrag: Keine Angst vor EU-Piesackerei

Die Medizinaltechnik-Branche hat auf Drohungen aus Brüssel längst reagiert und vorgesorgt. Auch beim Strom und bei der Forschung liessen sich Lösungen finden.

«Die Schweiz soll endlich sagen, was sie will.» So lautet der Vorwurf aus Brüssel an den Bundesrat. Taktisch unmittelbar vor dem Spitzengespräch von Bundespräsident Guy Parmelin mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, wurde diese Drohbotschaft eingebetteten SRG-Journalisten in die Hände gespielt, die sie letzte Woche breit auswalzten. «Selbstverständlich sind Texte mit präzisen Vorschlägen unterbreitet worden», heisst es bei Insidern in Bundesbern. Die Journalisten hätten sich instrumentalisieren lassen.

Es ist die gleiche Strategie, die die EU-Chefunterhändler in der letzten Verhandlungsrunde gegenüber Grossbritannien praktiziert hatten und dort – genau wie jetzt bei uns – die interne Polarisierung anheizten. Der angebliche Angriff auf die Medtech-Branche ist ein Lehrstück für Meinungsmanipulation und Stimmungsmanagement.

Es fällt auf, dass die hiesigen Kämpfer für den Rahmenvertrag ausschliesslich auf Angst aufbauen. Sie malen den Teufel neuer EU-Strafmassnahmen an die Wand, sollten die Schweizer das Rahmenabkommen ablehnen: Keine Zulassung der Medizinaltechnikprodukte, kein Stromabkommen, keine Forschungszusammenarbeit. Alle kolportieren es, der eine schreibts dem andern ab, keiner prüfts nach. Wer nachrecherchiert, erlebt Überraschungen.

«Eine Milliarde Schaden für die Medizinaltechnikfirmen!» So lautete 2018 der Alarmruf. Heute, drei Jahre später ist dieser Alarmismus nicht mehr gerechtfertigt. Diese Episode ist ein Lehrstück für Meinungsmanipulation und Stimmungsmanagement.

Mit Berufung auf «nicht genannt sein wollende hohe EU-Spitzenbeamte» berichteten Schweizer Journalisten raunend, die EU würde bei der vorgesehenen Anpassung aller Medizinalproduktenormen die Schweiz neu wie einen Drittstaat, also wie Japan, Kanada oder die USA, behandeln, wenn das Rahmenabkommen nicht zustande käme. Würde die EU die Schweizer Medtech-Branche piesacken wollen, würde es zwar komplizierter, aber die Exporte würden weiterlaufen.

Viele nutzten dies als Beweis für die «Erosion» der Bilateralen. Eine solche Massnahme wäre klar eine Verletzung der Grundsätze des Abkommens über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen, das als Bestandteil der Bilateralen I seit 2002 in Kraft ist. Nach dem Muster der früheren Aberkennung der Börsenäquivalenz wäre es eine erneute Strafaktion gegen die Schweiz.

Am 26. Mai endet nun die Anpassungsfrist für neue Medtech-Produkte. Doch die Branche hat längst vorgesorgt. Würde die EU die Schweizer Medtech-Branche piesacken wollen, würde es zwar komplizierter, aber die Exporte würden weiterlaufen. Denn für den Fall, dass die Schweizer Medtech-Exporteure plötzlich wie Lieferanten aus Drittstaaten behandelt würden, haben die Firmen in einem EU-Staat, meist in Deutschland, einen sogenannten Bevollmächtigten beauftragt, der exakt nach EU-Recht die Verbindungen zu den Behörden sicherstellt und die Produktehaftung garantiert. Das kann eine deutsche Anwaltskanzlei oder eine Treuhandfirma sein oder dann die eigene Filialniederlassung. Auswandern, wie dies Europa-Troubadours androhen, müssen die Firmen sicher nicht.

Der Verband Swiss Medtech, der vor zwei Jahren noch Alarmstimmung verbreitete, hat nämlich in aller Stille seine Mitgliedfirmen auf den Worst Case einer Sanktion Brüssels mit Empfehlungen, Wegleitungen und Musterverträgen vorbereitet. Die meisten der grösseren Medtech-Exporteure hatten allerdings schon bisher die Konformitätsprüfung ihrer Produkte meist bei TÜV-Deutschland abgewickelt. Was wären nun die Zusatzkosten? Die Schweizer Medtech-Firmen rechnen für die Neuzertifizierung einmalig mit 114 Millionen Franken. Danach rechnet die Branche mit insgesamt 75 Millionen an jährlichen Kosten, etwa für die Bevollmächtigten-Mandate. Dies entspricht 4 Promille des Produktionswerts von rund 16 Milliarden. Das kostet weniger als die Währungsschwankungen. Ein Verbandsinsider sagt: «Das tut nicht mehr weh.»

Praktisch alle schweizerischen Medtech-Firmen haben nun für die Exportsicherung vorgesorgt.

Die Schweizer Medtech-Branche ist überhaupt eine der potentesten Wachstumsbranchen und weltweit führend mit Implantaten, Prothesen, Insulinpumpen und Laborgeräten. Ich halte sie für eine der interessantesten jüngeren Industriebranchen, weil sie durch eine einmalige Zusammenarbeit von akademischen Chirurgen mit Mechanikern, Praktikern und Tüftlern zu Weltruhm und Reichtum gelangt ist: Der Historiker Viktor Moser hat dies im Buch «Chirurgen und Mechaniker auf Augenhöhe» eindrücklich dokumentiert.

Praktisch alle schweizerischen Medtech-Firmen haben nun für die Exportsicherung vorgesorgt. Die Alarmisten sind in Bedrängnis, Sie werden wohl neue Bedrohungsszenarien an die Wand malen.

Sie werden etwa, vielleicht in Absprache mit Brüssel, die Drohung bezüglich des Stromabkommens aktivieren. Bei diesem tritt die EU als Bittstellerin auf. Denn es ist die Schweiz, die die Hochspannungs-Transitleitungen Nord-Süd in der Hand hält. Es ist die Schweiz, die mit den Pumpspeicherwerken den Spitzenstromausgleich für halb Europa sicherstellt. Der Hochspannungskonzern Swissgrid hat ein Interesse an dieser Einbindung, weil er davon profitiert.

Oder man wird als Drohkulisse die Forschungszusammenarbeit infrage stellen. Allerdings würde sich die EU durch den Verlust der Schweizer Exzellenz-Forschungsstätten selber schaden. In Europa gibt es nämlich die Hochschulen auf globalem Exzellenz-Niveau nur in Grossbritannien und in der Schweiz. Ich denke, dass unsere Forschungszentren für den Worst Case schon durch Kooperationskontakte mit andern Topuniversitäten vorgesorgt haben.

Probleme können ab Ende Mai allenfalls beim Medtech-Import entstehen. Damit die neu zertifizierten Medtech-Produkte sofort für unsere Spitäler und Arztpraxen eingeführt werden können, hat der Bundesrat in aller Stille mit einem Plan B vorsorglich eine «Eventual-Medizinprodukte-Verordnung» beschlossen, die am Tag nach einer EU-Strafmassnahme in Kraft gesetzt würde.

Ich bin der Meinung, dass eine Aktualisierung oder Dynamisierung der Verträge durchaus wünschbar und nötig ist. Doch vorerst geht es darum, eine erneute Piesackerei mit internen Massnahmen aufzufangen.

Man darf vermuten, dass heute die gut geführten Bundesämter, Departemente und Hochschulen für den Fall eines neuen Powerplay aus Brüssel mit einem eigenen Plan B vorgesorgt haben. Und wenn das Gleiche nun auch Parteien wie die FDP ankünden, ist dies nur klug. Denn Vorsorge verschafft mehr Spielraum für selbstbewusste Verhandlungen und für die Zukunft. Rudolf Strahm, Der Bund, 20.04.2021


Die EU-Grenzschutzagentur Frontex unter Druck

Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, kurz Libe: So heisst das Gremium, das im Europäischen Parlament für den Schutz der Grund- und Menschenrechte zuständig ist. Ende Januar 2021 hat der Libe-Ausschuss beschlossen, die Arbeits- und Funktionsweise der europäischen Grenzschutzagentur Frontex eingehend zu untersuchen.

Anlass dazu sind Medienberichte über illegale Pushbacks von Asylsuchenden und Vorwürfe bezüglich Menschenrechtsverletzungen, bei denen Frontex beteiligt gewesen sein soll oder die von ihren BeamtInnen aus der Nähe verfolgt wurden. Der Untersuchungskommission gehören vierzehn Abgeordnete an, je zwei pro Fraktion, die bis zum kommenden Sommer zweimal monatlich zusammenkommen. Die niederländische Grüne Tineke Strik sowie die maltesische Christdemokratin Roberta Metsola werden anschliessend den Bericht verfassen.

In der ersten Anhörung Anfang März wurden Frontex-Direktor Fabrice Leggeri und Ylva Johansson, EU-Kommissarin für Inneres, befragt, darauf folgte der Verwaltungsrat der Agentur. Er hat intern zu einer möglichen Beteiligung an Rückführungen ermittelt, dabei aber nach eigener Aussage keine Beweise für die Verletzung der Menschenrechte gefunden. In den nächsten vier Monaten werden bei weiteren Anhörungen auch JournalistInnen zu Wort kommen. Der Ausschuss will sich zudem um Zeugenaussagen betroffener MigrantInnen bemühen. Dazu sollen zahlreiche Dokumente gesichtet werden. Der Bericht soll bis zur Sommerpause des EU-Parlaments vorliegen und Empfehlungen zur Funktionsweise der Grenzschutzagentur enthalten.

Nicht zum Mandat gehört eine Untersuchung der engen Kontakte von Frontex zur Rüstungsindustrie. Der deutsche Satiriker Jan Böhmermann machte in seiner Sendung «Magazin Royale» im Februar die sogenannten Frontex-Files publik, in denen die Zusammenarbeit der Agentur mit der Waffenlobby dokumentiert wird. Sie lief regelmässig über LobbyistInnen, die nicht bei der EU registriert sind.

Auch jenseits der Libe-Ermittlungen steht Frontex wegen kontinuierlicher Anschuldigungen unter Druck. Im Dezember durchsuchte die EU-Antibetrugsbehörde Olaf Büros in der Warschauer Zentrale der Agentur, einschliesslich des Arbeitsplatzes von Direktor Leggeri, und verhörte Personal. Das EU-Parlament verweigerte Frontex zuletzt die Entlastung des laufenden Budgets aufgrund der Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen und mangelnder Transparenz.

Der Druck auf die Agentur dürfte hoch bleiben: Kurz vor Ostern twitterte der grüne Abgeordnete Erik Marquardt, er wolle 166 Gigabyte Videomaterial von Pushbacks durch die griechische Küstenwache von unabängigen ExpertInnen auswerten lassen. Für Frontex und die griechische Regierung bedeute das «viele unangenehme Fragen».

Als Schengen-Mitglied ist auch die Schweiz an Frontex beteiligt – die Beteiligung wird übrigens auch von der SPS mitgetragen. Die jährliche finanzielle Unterstützung der Agentur soll von heute 17 Millionen Franken jährlich bis 2027 auf 96 Millionen steigen. Das Schweizer Grenzwachtkorps beteiligt sich auch mit immer mehr Personal an den Einsätzen der Agentur; die Schweiz ist zudem Mitglied im Verwaltungsrat von Frontex. WoZ, Nr. 14, 8. April 2021 S. 13.

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