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Kurzinfos Oktober 03
Der Euro und die wirtschaftlichen Probleme Deutschlands
"Deutschland hat wegen seiner vergleichsweise niedrigen Inflationsrate einen gegenüber den Partnerländern sehr hohen Realzins, der sich ungünstig auf die Investitionstätigkeit auswirkt. Hier zeigen sich ganz deutlich die Probleme einer einheitlichen Zinspolitik in einem heterogenen Wirtschaftsraum. Die versprochene Intensivierung des Handels innerhalb der Währungsunion auf Grund der durch die Gemeinschaftswährung gesunkenen Transaktionskosten ist im Übrigen bisher ebenfalls noch nicht nachweisbar." (Renate Ohr, Professorin in Göttingen für Wirtschaftspolitik, NZZ. 25./26. 10. 03, S. 29)
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Wettbewerbsfähigkeit statt EU-Kompatibilität
Vor ziemlich genau einem Jahr, im Oktober 2002, hat der Dachverband der Schweizer Wirtschaft, Economiesuisse, seine Standortbestimmung zur schweizerischen Integrationspolitik vorgelegt und darin klargestellt, dass auf der bilateralen Schiene weitergefahren werden müsse - mit anderen Worten noch auf Jahre hinaus ein Beitritt der Schweiz zur EU undenkbar sei. Inzwischen steht fest, dass am 1. Mai 2004 die Brüsseler Gemeinschaft um zehn neue Mitglieder aus dem Osten und Süden Europas erweitert werden wird. Müssen vor diesem Hintergrund die europapolitischen Karten neu gemischt werden? Der Präsident von Economiesuisse, Ueli Forster, der am Europa-Forum in Luzern über den Handlungsspielraum im Verhältnis zur EU referierte, kam zum Schluss, dass aus wirtschaftlicher Optik der bilaterale Weg der richtige bleibe.
Zunächst verwies der Textilindustrielle aus St. Gallen auf die Stärken der Schweiz. So sei ihre Volkswirtschaft im Vergleich mit denjenigen im EU-Raum besonders global orientiert. Die beträchtliche «trade openness» des Landes werde durch ein ziemlich dichtes Netz internationaler Abkommen unterstützt. Dies ermögliche der Wirtschaft, in einem einigermassen gesicherten Umfeld zu operieren. Ziel müsse aber sein, zur Stimulierung des Wirtschaftswachstums die «Globalisierungs-Stärke» der Schweiz weiter zu festigen. Entsprechend müsse der Spielraum nicht nur gegenüber der Union, sondern auch etwa im Rahmen der Welthandelsorganisation (WTO) konsequent ausgeschöpft werden. Mit Blick auf die WTO zeigte sich Forster allerdings nicht allzu zuversichtlich, weil die Schweiz im Agrarbereich zu den Bremsern gehöre und damit in Sachen Liberalisierung mit einem Glaubwürdigkeitsproblem zu kämpfen habe.
Zuversichtlicher klangen seine Ausführungen bezüglich der verhandlungspolitischen Möglichkeiten im Verhältnis mit der EU. Forster meinte, dass mit den Bilateralen I wichtige Ziele für eine bessere Integration der Schweiz in Europa erreicht werden konnten und dass bei den laufenden Bilateralen II der Bundesrat die Interessen des Landes zu verteidigen wisse. Hinzu komme, dass ein Drittland die EU, wie die Verhandlungen über die grenzüberschreitende Zinsbesteuerung gezeigt hätten, sogar auf den "Pfad der Tugend" zurückführen könne. «Es ist wohl das Verdienst der Schweiz, dass die EU nicht zum integralen Informationsaustausch übergehen konnte, was letztlich im Interesse auch der EU-Bürger ist», sagte Forster. Als anderes positives Beispiel nannte er laut Redetext die Verhandlungen über die (de facto abgebrochenen) Dienstleistungen, bei denen die EU die integrale Übernahme des bestehenden Acquis communautaire gefordert habe. So hätte die Schweiz - ohne Mitspracherecht - etwa das EU-Gesellschaftsrecht, das EU-Wettbewerbsrecht, die EU-Finanzmarktaufsicht und das EU-Konsumentenrecht übernehmen müssen.
Nach Forster kann das Ziel nicht darin bestehen, möglichst eurokompatibel zu sein und somit jedes neue Gesetz auf seine Europaverträglichkeit hin zu untersuchen, sondern möglichst wettbewerbsfähig, also besser zu sein als die anderen. Und wenn dabei die Schweiz gestalterische Kraft zeige, sei auch der EU gedient. Wenn nämlich im Herzen Europas ein wirtschaftlich voll integriertes Land über bessere Wettbewerbsbedingungen verfüge, werde sich da oder dort auch die EU unser Land zur «Benchmark» machen wollen, fügte der Economiesuisse-Präsident an. In diesem Sinn erhoffe sich auch kein Geringerer als der neue Präsident des Europäischen Dachverbandes der Wirtschaft (Unice) und Vorsitzende des Aufsichtsrates des Chemiekonzerns BASF, Jürgen Strube, dass die Schweiz im Rahmen des Bilateralismus die Gestaltungsmöglichkeiten extensiv nutze, sagte Forster. Bei der Schaffung der Voraussetzungen für vermehrten Handlungsspielraum sei allerdings die Politik gefordert. Stichwortartig nannte Forster die "Sanierung der Bundesfinanzen", "Verbesserungen" in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die (weitere) Öffnung der Infrastrukturmärkte, die Verschärfung des Wettbewerbsrechts und den "Abbau von Überregulierungen". NZZ, 28. 10. 03, S. 23
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Kampfbereit - auch ohne Nato
Hinter den Kulissen arbeiten Regierungsbeamte in Paris, London und Berlin weiter mit Hochdruck an der Schaffung autonomer militärischer Strukturen für die Europäische Union - obwohl der Aufbau eines "prestigeträchtigen" Hauptquartiers im Brüsseler Vorort Tervuren abgeblasen wurde. Grundlage der Bemühungen ist eine bislang geheime Übereinkunft der Regierungschefs Gerhard Schröder, Jacques Chirac und Tony Blair vom 20. September 03 in Berlin, in der auch Blair anerkennt, es sei "notwendig, Operationen der EU zu planen und effektiv zu führen, die ohne Rückgriff auf die Mittel und Kapazitäten der Nato stattfinden". Bis zum EU-Gipfel in dieser Woche sollen Spitzenbeamte in Berlin, Paris und London noch an einem Konzept für konkrete Schritte zu einer eigenen Planungs- und Führungseinheit feilen. Sie soll mittelfristig auch Einsätze "hoher Intensität" führen können, also Kampfeinsätze. Falls nicht alle EU-Staaten mitmachen wollen, so die Ansage der drei Chefs der größten Mitgliedsländer, werde man eine "strukturierte Zusammenarbeit" der "interessierten Partner" ins Leben rufen. Spiegel, 13. 10. 03, S. 17
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Schlimme Dinge
Das EU-Parlament kneift als Kontrolleur der Prodi-Kommission. Die soll trotz ihrer Mitverantwortung für schwerwiegende Betrügereien ungeschoren davonkommen. Die CSU-Europa-Abgeordnete Gabriele Stauner, promovierte Juristin und früher in Edmund Stoibers Staatskanzlei beschäftigt, meint dazu "ich kann nicht sehenden Auges strafrechtlich relevante Handlungen decken". Außerhalb des Sitzungssaals war sie noch deutlicher geworden: "Es sollen schlimme Dinge vertuscht werden."
Die europäische Kommission unter Romano Prodi hat schwerwiegende Betrügereien zu Lasten der europäischen Steuerzahler politisch zu verantworten. Die großen Fraktionen des Europaparlaments aber, die christdemokratisch-konservative Europäische Volkspartei (EVP) und die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE), sind entschlossen, Prodi und Co. ungeschoren davonkommen zu lassen. Das EU-Parlament kneift als Kontrollinstanz der Brüsseler Exekutive.
Dabei ist eindeutig: Prodis Verteidigungslinie, sämtliche gravierenden Betrügereien um das europäische Statistikamt Eurostat lägen vor seinem Amtsantritt im Jahr 1999, lässt sich nicht halten. Interne Untersuchungen belegen, dass die Praxis schwarzer Kassen im Umfeld von Eurostat bis 2003 systematisch fortgeführt wurde. Der Schaden für die Gemeinschaft liegt nicht, wie Prodi angibt, bei fünf Millionen Euro, sondern nach Schätzungen französischer Staatsanwälte bei zehn Millionen. Die Prodi-Kommission hat auch keineswegs alles für eine rückhaltlose Aufklärung getan. Das stellt die Innenrevision in einem Zwischenbericht ausdrücklich fest.
Prodi und seine zuständigen Kommissare haben, das zeichnet sich ebenfalls ab, statt durchzugreifen lieber weggesehen. Sie sind passiv geblieben, obwohl es genügend interne und öffentliche Warnungen gegeben hat.
Noch im August hatte Hans-Gert Pöttering, der EVP-Fraktionsvorsitzende, der Kommission vorgeworfen, ihr Verhalten grenze fast schon an organisierte Verantwortungslosigkeit. Der deutsche Christdemokrat verlangte bei Fehlverhalten den Rücktritt der zuständigen Kommissare.
Nun aber mag Pöttering nicht einmal mehr die für den Spätherbst angekündigten Abschlussberichte der Innenrevision und der Betrugsfahnder der Kommission abwarten. Er stellt schon jetzt Persilscheine aus: "Wir wollen keine Köpfe rollen sehen." Darüber, so der Christdemokrat, habe er sich bereits mit dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen Fraktion, Enrique Baron Crespo, verständigt.
Auch die Deutschen in beiden Fraktionen spuren. "Keine Rücktritte - das ist kategorisch unsere Linie", sagt Martin Schulz, Gruppenchef der Sozialdemokraten. Er habe "den ganz sicheren Eindruck, das ist auch die Linie unserer Schwarzen". Die eigenartige Milde des Parlaments, das 1999 rigoros die vorherige Kommission unter Jacques Santer wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten gekippt hatte, begründet Pöttering mit "übergeordneten politischen Rücksichten". Die Erweiterung der EU um zehn Staaten stehe an, die europäische Verfassung müsse in mehreren Ländern bei Volksabstimmungen auf den Prüfstand, man gehe auf die Europawahlen im Juni 2004 zu - da dürfe die Kommission nicht beschädigt werden.
Es gibt auch weniger hehre Gründe. Als sich die christlichen Konservativen auf den britischen Labour-Mann Neil Kinnock, verantwortlich für die Verwaltung, den spanischen Linken Pedro Solbes, direkt zuständig für Eurostat, und die deutsche Grüne Michaele Schreyer wegen deren Kompetenz für die Betrugsbekämpfung einschossen, drohten die Sozialdemokraten massive Vergeltung an: Dann seien Prodi und sämtliche Kommissare fällig, auch die konservativen also. Und auch die Forza Italia forderte Prodis Kopf - Regierungschef Silvio Berlusconi zu Gefallen.
Der Kommissionspräsident wusste, es würde ihm nichts passieren, als er sich jetzt in Straßburg vor dem Parlaments-Establishment rechtfertigte. Man ließ Prodi die Behauptung durchgehen, er und seine Kommissare hätten die ganze Zeit keine Ahnung gehabt und erst im Mai 2003 das ganze Ausmaß des Skandals erkannt. Dabei hatte das Europäische Anti-Betrugs-Amt Olaf im Juli 2002 sogar eine Pressemitteilung über die Abgabe von Ermittlungsakten in zwei Eurostat-Fällen an die Luxemburger Justiz veröffentlicht.
Ohne Widerspruch blieb auch, dass der Italiener die Schuld auf die Betrugsbekämpfer schob: "Die Gangart von Olaf bei den Eurostat-Ermittlungen war ein wenig zu gemächlich." Olaf habe sich "nicht die Mühe gemacht", die Kommission wegen der Dimension des Falls zu warnen. Von sich aus habe man bei Olaf nicht nachfragen mögen, schlaumeierte der Präsident. Sonst hätte er sich ja den Vorwurf zugezogen, man mische sich in Ermittlungen ein und gefährde die Unabhängigkeit der Behörde. Spiegel, 20. 10. 03, S. 142.
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Königliche Skepsis
Elizabeth II. fürchtet eine Einschränkung ihrer Rechte als Souverän, wenn die Regierung von Tony Blair dem derzeitigen Entwurf einer EU-Verfassung zustimmt. Während der Premier beim EU-Gipfel in Brüssel die Bedenken, die auch von Prinz Philip und Thronfolger Charles geteilt werden, zu zerstreuen suchte, hat die Queen um unabhängigen Sachverstand von Verfassungsrechtlern in der Frage gebeten, ob die Verfassung ihre Machtbefugnisse und die des britischen Parlaments mindern würde. Skepsis erregt vor allem der Artikel 10 des Entwurfs, nach dem nicht nur die Verfassung, sondern auch Isonstiges EU-Recht über den nationalen Gesetzen stehen. Während Blair die bei den Briten umstrittene EU-Konvention lediglich von beiden Kammern des Parlaments billigen lassen will, fordern die konservative Opposition und die EU-kritischen Zeitungen eine Volksabstimmung. In einer Umfrage sprechen sich derzeit drei Viertel der Befragten für ein Referendum aus. Eine grosse Mehrheit lehnt zudem die EU-Verfassung ab. Selbst in der Labour Partei empören sich Dissidente wie der Abgeordnete Frank Field, dass die Queen nicht zur "glorifizierten Vorsitzenden eines Gemeinderats" degradiert werden dürfte. Spiegel, 20. 10. 03, S. 127
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Vor dem Rausschmiss
Nach außen rühmt sich die Europäische Union, ein weltweit einzigartiger demokratischer Staatenverbund zu sein - bald 25 Mitglieder mit über 450 Millionen Einwohnern, die dann alle gleiche Freiheiten und gleiche Rechte genießen sollen. Klammheimlich aber haben die Väter der neuen Verfassung ein Hintertürchen eingebaut, falls sich kleinere Mitglieder wirklich die Freiheit herausnehmen sollten, den Großen im Wege zu sein. Für den Fall, dass zwei Jahre nach Unterzeichnung der neuen Verfassung vier Fünftel der Mitgliedstaaten das Regelwerk ratifiziert haben, greift eine Vorschrift, die auf Seite 240 des Entwurfs versteckt ist. Dort heißt es: Sollten in einem oder mehreren Mitgliedstaaten "Schwierigkeiten bei der Ratifikation auftreten, so befasst sich der Europäische Rat mit der Frage".
Und was die Runde der Staats- und Regierungschefs dann zu tun gedenkt, darüber sind sich die Großen in der Gemeinschaft - Rom etwa, Paris und Berlin - längst einig: Die Störenfriede sollen rausfliegen. Blockiert der Ausgang einer Volksbefragung in einem oder mehreren kleineren Staaten das Inkrafttreten der Verfassung, sollen die Abweichler notfalls zum Verlassen der Union gezwungen werden. Doch das ist gar nicht so einfach: Für alle Änderungen der Grundlagenverträge, auch die tief greifenden Reformen und die neuen Abstimmungsmodalitäten, sind eigentlich die Stimmen sämtlicher Mitgliedstaaten erforderlich. Falsch, argumentieren dagegen hohe französische und deutsche Beamte in Brüssel: Denn das übergeordnete Interesse der großen Mehrheit der EU-Staaten wiege schwerer. Ohne die Reformen des Verfassungsvertrags sei die erweiterte EU nicht mehr funktionsfähig. Im Übrigen erlaube das Völkerrecht die Beendigung eines jeden Vertrags, also auch der EU-Mitgliedschaft eines Landes.
Die Rausschmiss-Drohung kommt einigermaßen überraschend. Noch beim Gipfeltreffen im Juni in Thessaloniki schien alles zum Besten zu stehen. Einmütig priesen die 25 Chefs die Vorlage des Verfassungskonvents und gelobten, das Werk beim Dezember-Gipfel in Rom zu verabschieden. Doch inzwischen ist es vorbei mit der schönen Eintracht. Am 4. Oktober 03 eröffneten die Staats- und Regierungschefs in Rom die abschließende Regierungskonferenz, auf welcher der endgültige Verfassungstext erstellt werden würde. Gerhard Schröder und Jacques Chirac warnen eindringlich davor, das Kompromisspaket des Konvents wieder aufzuschnüren. "Wenn mir gesagt wird, dass die Verfassung nicht mehr angerührt werden darf, dann ist die Regierungskonferenz ja sinnlos", hält Spaniens Premierminister Jose Maria Aznar dagegen. Spanien wie Polen befürchten, künftig bei Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit im Rat an Einfluss zu verlieren.
Auch die kleineren EU-Staaten fühlen sich übervorteilt. 15 von ihnen haben kürzlich in Prag einen Aufstand bei der Regierungskonferenz verabredet. Ihr Vorwurf: Sie sehen sich von den großen Staaten gegängelt. Es seien die Kleineren, die darunter zu leiden hätten, wenn sich Frankreich oder Deutschland nicht um die Stabilitätsvorgaben für den Euro scherten, während sie ihre eigenen Haushalte mühsam sanierten. Überdies gehe das neue Abstimmungsverfahren im Rat zu ihren Lasten, wenn bei Mehrheitsbeschlüssen künftig auch eine Mehrheit der Mitgliedstaaten nötig werde, die mindestens drei Fünftel der EU-Bevölkerung umfasst. Darüber hinaus forderten die Prager Rebellen einen eigenen EU-Kommissar mit Stimmrecht und Zuständigkeitsbereich. Die Verfassungsvorlage hingegen sieht eine EU-Kommission von nur 15 Kommissaren vor, die nach dem Rotationsprinzip von den Mitgliedstaaten zu stellen wären.
Den Wunsch der Kleinen nach einem eigenen Kommissar scheinen die Großen erfüllen zu wollen. Bei allen anderen Forderungen wird es schwierig. "Wer etwas ändern will", lautet die Vorgabe aus dem Berliner Kanzleramt, "muss selbst den neuen Konsens zu Wege bringen." Und wer sich auf der Regierungskonferenz nicht durchsetzen kann, hat es besonders schwer, die Verfassung dann im eigenen Land zu verkaufen. Bis zu zehn Mitgliedsländer könnten womöglich per Referendum entscheiden, darunter vielleicht sogar Frankreich. Würden die Franzosen mehrheitlich mit Nein stimmen, wäre die neue Verfassung erledigt. Bei den Iren, die dem derzeit gültigen Nizza-Vertrag erst im zweiten Durchgang zustimmten, und bei den Dänen, die den Euro abgelehnt haben, sind Volksbefragungen gesetzlich vorgeschrieben. Der dänische Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen bereitet seine Landsleute schon jetzt darauf vor, was in etwa einem Jahr passieren könnte: "Ein Nein hieße, dass Dänemark aus der EU rausfliegt." 29. 9. 03, Der Spiegel, S. 126.
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Umstrittenes EU-Wahlrecht für Gibraltar
Nach einer am Mittwoch veröffentlichten Stellungnahme der EU-Kommission hat Grossbritannien mit der Gewährung des Stimmrechts an die Bewohner von Gibraltar für die Wahl des Europäischen Parlamentes (EP) das Gemeinschaftsrecht nicht verletzt. Nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) 1999 die Klage eines Einwohners von Gibraltar wegen des Ausschlusses von den EP-Wahlen gutgeheissen hatte, änderte London das britische Wahlgesetz. Gibraltar wurde dem Wahlkreis Südwestengland zugeschlagen, und auch Bewohner ohne britische Nationalität erhielten als Bürger des Commonwealth das Recht, sich künftig an den Parlamentswahlen zu beteiligen. Spanien focht diese Bestimmungen mit einer Klage bei der Kommission an. Madrid argumentierte, das Gemeinschaftsrecht verbiete sowohl die Beteiligung von Nicht-EU-Bürgern an der EP-Wahl als auch den Einbezug Gibraltars in einen englischen Wahlkreis.
Der Rechtsdienst der Kommission hingegen kam zum Schluss, die EU-Verträge verlangten zwar allgemeine, direkte und geheime Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Ausführungsgesetz zu den EP-Wahlen äussere sich aber nicht zum Wahl- und Stimmrecht, weshalb die Bestimmungen des Mitgliedstaates zur Anwendung kämen. Das Gemeinschaftsrecht enthalte auch kein Verbot, das Stimmrecht für EP-Wahlen auf Bürger aus einem Nicht-EU-Staat auszudehnen. Ferner könne der Mitgliedstaat nach geltendem EU-Recht eigenständig über die Organisation von Wahlkreisen entscheiden, solange er keine Bürgerrechte verletze. Weil der Fall politisch sehr heikel ist, sah die Kommission aber von dem bei einer Klage üblichen formellen Verfahren ab und lud Spanien und Grossbritannien ein, gemeinsam nach einer einvernehmlichen Lösung zu suchen. NZZ, 30. 10. 03, S. 3
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Amnesty fordert eine härtere Chinapolitik der EU
Vor Beginn des Gipfeltreffens zwischen europäischen und chinesischen Repräsentanten in Peking hat Amnesty International die EU zu einer Neubewertung ihrer Politik gegenüber China aufgefordert. Zwar habe es im Bereich der Wirtschaft Reformen gegeben, bei den Menschenrechten habe sich jedoch wenig bewegt, sagte am Dienstag der Leiter des Amnesty-Büros bei der EU. Amnesty stellte einen Bericht vor, in dem Menschenrechtsverletzungen aufgelistet wurden, darunter der vielfache Einsatz der Todesstrafe, Lager für Zwangsarbeiter und Folter von Aids-Patienten. Die Europäische Union war im vergangenen Monat zu ähnlichen Schlüssen gekommen und hatte in einem Bericht erklärt, die Menschenrechtsverletzungen überschatteten das bemerkenswerte Wirtschaftswachstum des Landes. Nach Angaben von Amnesty werden in China jährlich 15 000 Häftlinge hingerichtet; nach offiziellen Zahlen sind es rund 1000. Amnesty erklärte, es würden auch Menschen inhaftiert, die lediglich Kritik an der Regierung geäussert hätten. Die EU solle nicht nur den Dialog über die Menschenrechte verstärken, sondern mehr Druck auf China ausüben, forderte Amnesty. Nur so seien konkrete Fortschritte zu erreichen. NZZ, 29. 10. 03, S. 9
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EU-Textilmarkt
Die EU-Kommission hat in einer Mitteilung Massnahmen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Textil- und Bekleidungsindustrie vorgeschlagen. Diese Branche, die EU-weit mit 2,1 Mio. Beschäftigten in l77 000 Betrieben einen Jahresumsatz von 200 Mrd. erzielt, steht vor einer doppelten Herausforderung: Zum einen wird sie nach der EU-Erweiterung per 1. Mai 2004 weitere 0,5 Mio. Menschen beschäftigen, zum anderen werden gemäss den Vereinbarungen der Uruguay-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) per 1. Januar 2005 die Einfuhrkontingente endgültig abgeschafft. Die EU hat 2002 Textilien und Bekleidung für 71,4 Mrd. eingeführt, was gegenüber 1995 einer Zunahme um 58% entspricht. Wichtigster Lieferant war China vor der Türkei. Die Ausfuhren erreichten 43,5 Mrd. (+ 49%), wobei die Schweiz mit Käufen von 3,4 Mrd. der grösste Abnehmer nach den USA war. Die Abschaffung der mengenmässigen Einfuhrbeschränkungen wird laut Kommission den Wettbewerbsdruck seitens der Hauptproduzenten wie China, Indien und Pakistan erhöhen und die EU-Hersteller zwingen, sich auf ihre komparativen Vorteile (hochwertige Produkte, rasche Reaktion auf Mode- und Marktschwankungen u. ä.) zu konzentrieren.
Vor diesem Hintergrund forderte EU-Handelskommissar Lamy vor den Medien unter anderem eine stärkere Öffnung der Absatzmärkte für EU-Produkte, wozu die EU in der «Dauha-Runde» der WTO eine Senkung der Zölle und den Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse anstrebt. Laut Kommission betragen die EU-Importzölle für Textilien und Bekleidung im Durchschnitt 9%, während andere Staaten, vor allem Entwicklungs länder, teilweise über 30% verlangten. Zweitens plädierte Lamy für eine Realisierung der im Grundsatz im Juli beschlossenen «Euro-Mittelmeerzone» bis 2005. Diese dehnt das paneuropäische System der Ursprungskumulierung auf die Nachbarn am Mittelmeer aus, was der Textilindustrie die Auslagerung von Verarbeitungsschritten etwa in den Maghreb erleichtert (NZZ 5. 7.03). Geprüft werden soll, ob europäische Qualitätsprodukte durch die Einführung einer Ursprungskennzeichnung «made in Europe» gefördert werden können. Damit nicht nur Staaten wie Indien und China profitieren, stellte Lamy zudem eine Konzentration der EU-Handelspräferenzen auf die ärmsten Länder zur Diskussion. Ausserhalb der Handelspolitik regt das Papier unter anderem an, textilabhängigen Regionen mit Geldern aus den EU-Strukturfonds beizustehen. Konkrete Massnahmen sollen nach Anhörung aller betroffenen Gruppen eingeleitet werden. NZZ, 29. 10. 03, S. 23
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Geringeres Wachstum als Folge des Euro
Die Einheitswährung - eine Hypothek für Deutschland
Von Peter Bohley, . emeritierter Professor der Universität Zürich.
Die Einführung des Euro als europäische Einheitswährung war (und bleibt) ein politisches Projekt. Davon abgesehen wurde der Euro bei seinen Befürwortern aber auch von hohen Erwartungen hinsichtlich seiner den Wohlstand steigernden Eigenschaften begleitet. Inzwischen mehren sich die Zweifel an diesen Erwartungen. Seit einer Reihe von Jahren fällt das Wachstum des Sozialprodukts in den meisten Staaten der EU tendenziell hinter das der amerikanischen Wirtschaft zurück. Akzentuiert hat sich diese Entwicklung schon im Vorfeld und speziell seit der Einführung des Euro als Buch- und Bargeld. Dieser Befund trifft in erster Linie auf Deutschland zu, das anstelle seiner früheren Rolle als weltwirtschaftlicher Motor inzwischen die Rolle eines Schlusslichts übernommen hat. In seinem soeben in Dubai vorgestellten Weltwirtschaftsbericht geht der Internationale Währungsfond (IMF) davon aus, dass Deutschland als weltweit einziges grosses Land 2003 ein «Nullwachstum» des Bruttoinlandprodukts (BIP) aufweise und auch 2004 das Schlusslicht beim europäischen Wirtschaftswachstum sein werde.
Unter Fachleuten war es weitgehend unbestritten, dass die Länder, die heute zum Euro-Gebiet gehören, keinen optimalen. das heisst keinen für eine einheitliche Währung wirklich geeigneten Währungsraum bilden würden. Auch die sogenannten Maastricht-Kriterien (Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte unter 3% des BIP, Gesamtschulden des öffentlichen Sektors unter 60%) hätten, selbst wenn sie unverbogen und ohne trickreiche Buchführung erreicht worden wären, nicht als Ausweis eines optimalen Währungsraums ausgereicht. Reformen auf den Gebieten der sozialen Sicherheit, des Gesundheitswesens, des Arbeitsrechts, der Besteuerung usw. wurden daher immer als zusätzlich notwendige Voraussetzungen für den Erfolg einer Einheitswährung angeführt. Speziell in den grossen Ländern der EU sind solche Reformen aber bisher ausgeblieben. Weitherum wird dieses Ausbleiben jetzt für die Wachstumsschwäche in Europa verantwortlich gemacht. Einer solchen Erklärung liegt jedoch ein gewaltiger Irrtum zugrunde.
Auch durch die genannten und ohne Frage notwendigen Reformen könnte die Wachstumsschwäche des (Gesamt-)Euro-Raums bestenfalls gemildert, aber keinesfalls beseitigt werden. Durch den Euro wurde eine Situation geschaffen, die eine rasche Beseitigung dieser Wachstumsschwäche des (Gesamt-)Euro-Raums nicht zulassen wird. Der Euro hat die früher vorhandenen Anreize, in Deutschland zu investieren, in entscheidender Weise gemindert. Der Direktor des Ifo-Instituts, Hans Werner Sinn, erwartet daher, dass Deutschland auch weiterhin das europäische Schlusslicht beim Wachstum des BIP bleiben wird! (Was der Euro wirklich bedeutet Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, Ifo-Standpunkt Nr. 31 vom 30. April 2003.) Der deutschen Investitionsschwäche stehen zwar zunehmende Investitionen vor allem in peripheren Ländern der EU gegenüber. Wenn aber die grösste Volkswirtschaft stagniert, bleiben nachteilige Folgen für die EU insgesamt und auch für die mit ihr eng verflochtenen Volkswirtschaften, wie beispielsweise die Schweiz, nicht ohne Folgen.
Auf den wichtigsten Grund für die mangelnde Bereitschaft deutscher und ausländischer Unternehmen, in Deutschland zu investieren, hat vor kurzem Karl Socher hingewiesen (vgl. NZZ vom 8. 9. 03). Auch wenn in seinem Artikel vor allem der Zusammenhang von Euro und europäischer Rezession untersucht wurde, müssen die dort konstatierten «zu hohen Realzinsen im wichtigsten Land» durchaus auch als Ursache für eine längerfristig zu erwartende Investitionsschwäche bezeichnet werden: Die mit der Einführung des Euro verbundene einheitliche Geldpolitik und der für den gesamten Währungsraum einheitliche Nominalzins haben angesichts unterschiedlich hoher Teuerungsraten in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Realzinsen zur Folge. Deutschland weist mit seiner sehr niedrigen Inflationsrate einen um ein Mehrfaches höheren Realzins auf als etwa Griechenland, Irland oder Portugal, deren Inflationsraten um ein Drei- oder Vierfaches über der deutschen liegen und die daher real gesehen eine bedeutend höhere Rentabilität für dort vorgenommene Investitionen bieten. Der Anreiz, in diesen peripheren Ländern zu investieren, wird im Übrigen noch ganz entscheidend durch die dort sehr viel niedrigeren Lohnkosten erhöht. Diese Tendenz wird sich in Zukunft durch den Beitritt der im Osten der EU liegenden Länder weiter verstärken, zumal sich die Nominalzinsen der Beitrittsländer immer mehr denjenigen im Euro-Raum annähern und bei ihnen qualifizierte Arbeitskräfte zu sehr tiefen Lohnkosten reichlich zur Verfügung stehen.
Eine Beeinflussung jener Faktoren, die für die Investitionsschwäche vor allem in Deutschland massgebend sind, ist für die Wirtschaftspolitik nur höchst beschränkt möglich. Die Unterschiedlichkeit der Teuerungsraten resultiert aus den differierenden Entwicklungsständen, der Heterogenität von Wirtschaftsstrukturen und von weltwirtschaftlichen, aber unterschiedlich stark wirkenden Einflüssen auf die einzelnen Volkswirtschaften (sogenannten asymmetrischen Schocks). Historisch entstandene Wirtschaftsstrukturen und Mentalitäten lassen sich nur langsam, falls überhaupt, verändern. Auch wenn deutsche Unternehmen aus den günstigen Investitionsbedingungen in den peripheren Ländern hohe Gewinne erzielen, hat der Mangel an Investitionen in Deutschland katastrophale Auswirkungen für den eigenen Arbeitsmarkt und das wirtschaftliche Wachstum im Inland. Auch andere Länder mit hohem Entwicklungsstand und traditionell eher niedriger Teuerungsrate, wie zum Beispiel die Schweiz, können die für Deutschland beschriebenen Folgen des Euro selbst durch ihre eigene Geldpolitik - geschweige denn bei einem Beitritt zur EU und zur Währungsunion - nicht gänzlich ausschalten. Der Euro macht solche Länder eher zu den wirtschaftlichen Verlierern des Euro-Projekts. NZZ, 21. 10. 03, S. 25
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Mehr Koordination in der EU gegen "illegale" Einwanderung
Im Kampf gegen die "illegale" Einwanderung haben die fünf grössten EU-Staaten einen besseren Informationsaustausch vereinbart. Die Chefs der Grenzpolizei Deutschlands, Frankreichs, Grossbritanniens, Italiens und Spaniens sollen sich künftig vierteljährlich treffen, beschlossen die Innenminister dieser Länder in La Baule. Künftig wollen die vier Länder nach Angaben des französischen Innenministers Sarkozy auch gemeinsam Flüge zur Abschiebung von Ausländern ohne Aufenthaltsgenehmigung organisieren. Zu den Abkommen über die Rücknahme "illegaler" Einwanderer durch deren Herkunftsländer beschloss die Fünfer-Gruppe nach deutschen Angaben, die Länderlisten abzustimmen. Eines der fünf Länder solle ein Musterabkommen verfassen, das die anderen übernehmen könnten. Bei der geplanten raschen Einführung biometrischer Merkmale in Reisedokumenten wurde vereinbart, den Einsatz von Fingerabdrücken und der Gesichtsfeld-Erkennung voranzutreiben. Ein drittes Merkmal, die Iris-Erkennung, solle dazukommen. NZZ, 21. 10. 03, S. 5
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Sinkende Steuerlast im OECD-Raum
Die Steuerlast ist in den Mitgliedländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im letzten Jahr im Durchschnitt gefallen. Der Rückgang ist, wie die OECD feststellt, nur teilweise auf Steuerreduktionen
zurückführen. Ein grosser Teil der geringeren Belastung sei vielmehr mit der schwachen Konjunktur zu erklären, die das Steueraufkommen automatisch begrenzt habe. Ausserdem ist das allgemeine Steuerniveau mit wenigen Ausnahmen noch immer sehr hoch. Im Durchschnitt der EU-Staaten entsprachen die Steuereinnahmen letztes Jahr 40,5% des Bruttoinlandproduktes (BIP), was zwar etwas unter dem Niveau der letzten Jahre liegt (2001: 41,0%, 2000: 41,4%), aber den Wert von 1990 weiterhin übertrifft (39,2%) - ganz zu schweigen von Vergleichen mit 1975 (33,0%) oder gar 1965 (25,8%). Es sind vor allem die EU-Länder, die den OECD-Durchschnitt auf ein recht hohes Niveau (2001: 36,9%) heben, während die OECD-Regionen Amerika und Pazifik unter der 30%-Grenze bleiben.
Die Struktur der Steuereinnahmen hat sich in den letzten drei Jahrzehnten deutlich verändert. Während die Einkommensteuer 1975 30% der Gesamtsteuereinnahmen der damaligen Mitgliedländer ausmachte, war ihr Anteil 1995 auf 27% gefallen und 2001 auf noch 26%. Die Besteuerung der Unternehmen betrug 2001 9% des Steueraufkommens und war damit etwas höher als in den letzten Jahrzehnten (8%). Einen kräftigen, in den letzten Jahren aber abgeflachten Anstieg zeigen die von Arbeitnehmern und Arbeitgebern abgeführten Sozialbeiträge, die von 18% (1965) auf 22% (1985) und 25% (1995 und 2001) zugenommen haben. Während die speziellen Verbrauchssteuern kontinuierlich gefallen sind - von 24% des BIP 1965 auf 11% 2001-, haben die allgemeinen Konsumsteuern an Bedeutung gewonnen und machen jetzt 18% des BIP aus (1975: 13%).
Die den gesamten OECD-Raum umfassenden Durchschnittsdaten überdecken die zum Teil ausgeprägten Veränderungen in einzelnen Ländern. Auffallend ist der Erfolg von osteuropäischen Staaten, die Steuerlast zu reduzieren. Dies trifft vor allem für Ungarn und Polen zu, deren BIP-Steueranteil zwischen 1995 und 2002 von 42,4% bzw. 39,6% auf 37,7% und 34,3% abnahm. Unter den Hochsteuerländern hat vor allem Schweden eine Umkehrung der Tendenz zu verzeichnen, wo der BIP-Anteil seit 2000 von 54,0% auf 50,6% fiel - was aber noch immer das höchste Niveau im OECD-Raum ist. Sinkende Trends verzeichnen auch Frankreich, Italien und Österreich; sie unterschreiten aber die 40%-Marke nicht. Deutschland und Grossbritannien liegen darunter. Als Länder mit kontinuierlich niedriger Belastung bestätigten sich Japan und die USA; allerdings hat für sie die OECD noch keine Daten für 2002 bekanntgegeben. Auffallend gering ist die Steuerlast in Mexiko. Für ein Land, das häufig als Steuerparadies bezeichnet wird, schneidet die Schweiz nicht besonders gut ab. Zwar gehört sie weiterhin in die Gruppe der Länder mit einer relativ geringen Steuerlast, aber dieser Vorteil nimmt kontinuierlich ab, zumal der Steueranteil im letzten Jahr gestiegen ist. Hinzu kommt, dass die relativ gute Position weitgehend auf einen geringen Anteil der Sozialbeiträge (7,95% des BIP) zurückzuführen ist, während die Belastung der Einkommen und Gewinne (13,6%) viele andere Länder einschliesslich Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Spaniens übertrifft und gleich hoch wie in Grossbritannien ist. NZZ, 23. 10. 03, S. 21
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Deutsches Dosenpfand Verstoss gegen freien Warenverkehr?
Die EU-Kommission schliesst nicht aus, dass das deutsche Pfand- und Rücknahmesystem für Einwegverpackungen die im EU-Binnenmarkt verbürgte Warenverkehrsfreiheit verletzt. Auf Antrag von Binnenmarkt-Kommissar Bolkestein eröffnete das Kollegium am Dienstag ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Die Kommission kritisierte, es gebe offenbar kein landesweit funktionierendes Rücknahmesystem, das dem Konsumenten erlaube, Einwegverpackungen, wie Plastikflaschen oder Dosen, bei jeder beliebigen Verkaufsstelle zurückzugeben und sich das Pfand zurückerstatten zu lassen. Der Einzelhändler müsse nur zurücknehmen, was er selber im Angebot habe. Der Kunde, schreibt die Kommission, greife deshalb weniger zu Einwegverpackungen. Dieses Konsumverhalten treffe vor allem ausländische Anbieter, weil die importierten Getränke wegen des langen Lieferwegs fast ausschliesslich in Einwegverpackungen angeboten würden. Die Kommission sieht ihre Vermutung durch zahlreiche Beschwerden bestätigt, wonach deutsche Einzelhändler Getränke aus anderen Mitgliedstaaten aus dem Sortiment nähmen.
Die Kommission betonte, sie stelle das Dosenpfand nicht grundsätzlich in Frage. Ein solches System müsse aber im Einklang mit dem freien Warenverkehr im Binnenmarkt stehen. Lösungen in anderen Mitgliedstaaten zeigten, dass es durchaus EU-Recht-verträgliche Modelle gebe. Die deutschen Behörden haben nun zwei Monate Zeit, sich zu den Vorwürfen zu äussern. Werden bis dann die Zweifel der Kommission nicht ausgeräumt, kann Brüssel in einem zweiten Verfahrensschritt die Änderung des deutschen Pfandsystems verlangen. Kommt es zu keiner Einigung, ist im dritten Verfahrensschritt eine Klage der Kommission gegen Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) möglich. NZZ, 22.10. 03, S. 23
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Neue Betrugsaffäre
Die EU-Kommission wird erneut durch eine explosive Affäre erschüttert. Nach dem Eurostat-Fall geht es diesmal um mutmassliche Insidergeschäfte im Getreidehandel. Laut Angaben der belgischen Staatsanwaltschaft vom 16. 10. 03 auf den 15. 10. 03 eine breit angelegte Polizeioperation in Belgien, Frankreich und den Niederlanden durchgeführt worden. Ziel seien insbesondere Lokalitäten der Generaldirektion Landwirtschaft der EU-Kommission und Firmensitze von je einer französischen und holländischen Getreidehandelsgruppe in Paris und Rotterdam gewesen. Sechs Personen seien von den französischen Justizbehörden, zwei weitere von belgischen Untersuchungsrichtern vorläufig festgenommen worden. Zahlreiche Dokumente und elektronische Unterlagen seien beschlagnahmt worden.
Laut Angaben der belgischen Staatsanwaltschaft und der EU-Kommission befindet sich unter den beiden in Belgien verhafteten Personen ein Kommissionsbeamter. Dieser werde verdächtigt, gegen Schmiergelder vertrauliche Informationen «von hohem wirtschaftlichem und strategischem Wert» an bedeutende Getreidehandelsfirmen weitergegeben zu haben. Die Kommission ergänzte, sie habe den Beamten sowie einen seiner Kollegen vorsichtshalber auf andere Posten in derselben Generaldirektion versetzt. Was genau passiert sei, erklärten Kommissionssprecher, sei ihnen nicht bekannt. Für Insidergeschäfte in Frage kommen mehrere von der Generaldirektion Landwirtschaft regelmässig durchgeführte Transaktionen: Ausschreibungen für den subventionierten Export von Getreide sowie für Interventionskäufe, Tender zum Verkauf von Interventionsbeständen inner- oder ausserhalb der EU und die Festlegung der Importzölle. Die EU exportiert pro Jahr rund 30 Millionen Tonnen an überschüssigem Getreide. Laut dem EU-Betrugsbekämpfungsamt (Olaf), das an der Aktion vom Mittwoch beteiligt war, könnten die Delikte substanzielle Summen umfassen.
Ausgangspunkt war eine Olaf-Untersuchung, über die im Jahr 2001 die belgischen Behörden informiert worden sind. Auf deren Verlangen hin hatte die Kommission bereits damals die Immunität des nun verhafteten Beamten aufgehoben und diesen von der Schweigepflicht entbunden. Laut Angaben aus Kommissionskreisen sind damals aber nur der Generalsekretär der Kommission sowie deren Generaldirektor für Personal informiert und zugleich vom belgischen Untersuchungsrichter im Interesse der laufenden Untersuchung auf striktes Stillschweigen verpflichtet worden. Auch das Betrugsdezernat habe bis am Mittwoch auf Geheimhaltung bestanden. NZZ. 17. 10. 03, S. 2
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Transatlantischer Streit um Hormonfleisch
Die EU-Kommission hat am Mittwoch die USA und Kanada aufgefordert, ihre von der Welthandelsorganisation (WTO) seit dem Juli 1999 zugelassenen Handelssanktionen gegen das von der Europäischen Union verhängte Einfuhrverbot für Hormonfleisch aufzuheben. Die EU hatte den Einsatz von sechs Hormonen in der Tierzucht und Fleischerzeugung wegen gesundheitlicher Risiken untersagt und entsprechende Erzeugnisse mit einem Einfuhrverbot belegt. Kanada und die USA hingegen erachteten die Verwendung dieser Substanzen als unbedenklich und fochten die Restriktionen bei der Welthandelsorganisation als nicht WTO-konform an. Die WTO hiess die Klagen gut, weil die EU für das Verbot nicht ausreichende und vor allem zu allgemeine wissenschaftliche Beweise vorgelegt habe. Ab Juli 1999 durften deshalb die USA und Kanada als Kompensation pro Jahr Strafzölle in Höhe von 116,8 Mio. $ bzw. 11,3 Mio. kanadischer Dollar auf europäische Produkten erheben.
Gestützt auf eine Expertise ihrer wissenschaftlichen Beratergremien schlug die Kommission im Mai 2000 eine Ergänzung der bestehenden EU-Hormon-Richtlinie vor. Die novellierte Fassung verstärkte die rechtliche Basis für ein endgültiges Verbot des hormonalen Wachstumsförderers 17- beta-Östradiol. Bei den fünf anderen strittigen Hormonen wollte die Kommission noch weitere wissenschaftliche Informationen einholen, hielt aber als gesundheitliche Vorsichtsmassnahme bis auf weiteres am Verbot fest Diese Richtlinie trat am 14. Oktober 2003 in Kraft, und bereits einen Tag später verlangte die Kommission die Aufhebung der Sanktionen. Die EU, erklärte Aussenhandelskommissar Lamy, habe für das endgültige Verbot des Wachstumshormons die von der WTO verlangte umfassende Risikobewertung vorgenommen. Was die fünf übrigen Hormone betrifft, stellt sich die Kommission auf den Standpunkt, die entsprechenden WTO-Vorschriften erlaubten vorläufige Schutzmassnahmen auf der Grundlage des derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstandes. Gehen die USA und Kanada auf das Begehren der EU nicht ein, steht eine weitere Runde in diesem transatlantischen Handelsstreit bevor. NZZ. 16. 10. 03, S. 21
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EU-Gerichtshof gegen Fahrverbot
Der EU-Gerichtshof (EuGH) hat am Donnerstag das vom österreichischen Bundesland Tirol verfügte sektorale Fahrverbot in einem nunmehr definitiven Entscheid bis zum 30. April 2004 ausgesetzt. Im Bemühen, die überbordende Lastwagenlawine im Transitverkehr zwischen Deutschland und Italien und die resultierende Umweltverschmutzung einzudämmen, wollte die Landesregierung in Innsbruck den Transport bestimmter Massengüter auf einem Abschnitt der Inntalautobahn untersagen. Doch am Tag vor Inkrafttreten des Verbotes, am 31. Juli dieses Jahres, hatte der EU-Gerichtshof in einem Präsidialentscheid die einstweilige Aussetzung des Fahrverbots angeordnet.
In seinem Entscheid hat das Gericht zwar den grundsätzlichen Vorrang von Gesundheits- und Umweltfaktoren vor wirtschaftlichen Erwägungen anerkannt. Aber der Gerichtshof argumentiert, dass das Fahrverbot zwar kurzfristig die Umwelt verbessern könne, doch langfristig Ieine Lösung der Probleme nur mit Strukturmassnahmen zu erreichen sei. Die in Innsbruck angeordnete Massnahme habe einen diskriminierenden Charakter. In Österreich wird geargwöhnt, dass der Entscheid in Brüssel mit dem italienischen EU-Vorsitz zusammenhänge und dass Italien seine Position ausnütze, um das Thema wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Italien sei aus dem Konsens der drei betroffenen Nachbarländer ausgebrochen und signalisiere neuerdings eine den Interessen der Tiroler zuwiderlaufende Flexibilität in der Transitfrage. Verkehrsminister Gorbach qualifiziert den EuGH- Entscheid als bedauerlich und verkehrspolitisch falsch; dieser müsse aber umgesetzt werden. NZZ, 3. 10. 03, S. 5
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EU-Gerichtshof und freier Kapitalverkehr
Nur wer Landwirtschaftsboden selbst bewirtschaftet, darf solchen Boden erwerben, schreibt das Grundverkehrsgesetz des Bundeslandes Vorarlberg vor. Der EU-Gerichtshof fällte auf die Klage einer Liechtensteinerin ein Urteil, in dem er den Schutz des freien Kapitalverkehrs vor nationale Einschränkungen stellte. Eine liechtensteinische Staatsbürgerin, die ihren Grundbesitz im nahen Vorarlberg in eine Familienstiftung einbringen wollte, scheiterte am Vorarlberger Grundverkehrsgesetz, das die Nutzung des Bodens für die Genehmigung des Bodenkaufes voraussetzt. Nach Verweigerung des Grundstückkaufes durch die Vorarlberger Behörden klagte die Liechtensteinerin beim Wiener Verwaltungsgerichtshof, der im Herbst 2001 das Verfahren aussetzte und den EU-Gerichtshof um die Stellungnahme ersuchte, ob die Kriterien der Selbstbewirtschaftung und des Wohnsitz-Erfordernisses mit dem EWR-Abkommen vereinbar seien.
Der EU-Gerichtshof gab grünes Licht für die Familienstiftung der Liechtensteinerin. Die Genehmigung des Grundstückkaufs könne nicht deshalb verweigert werden, entschieden die EU-Richter, wenn die Grundstück-Erwerberin den landwirtschaftlichen Boden nicht selbst bewirtschafte. Die Richter betrachteten den Erwerb von Grundstücken durch die Freiheit des Kapitalverkehrs, eine der vier Grundfreiheiten des EU-Vertrags, geschützt. Nationale Gesetze dürften diese Freiheit nur einschränken, wenn der Staat ein berechtigtes Interesse geltend machen könne und die Entscheidung verhältnismässig sei. Für den St. Galler Rechtsprofessor Carl Baudenbacher, Liechtensteins Richter am EFfA-Gerichtshof, hat die Entscheidung über diesen Fall hinaus grundsätzliche Bedeutung. Der EU-Gerichtshof habe sich als Garant des EWR-Abkommens etabliert. Die EWR-Stabsstelle Liechtensteins stellte fest, dass der EU-Gerichtshof den Sachverhalt nicht anhand des EU-Vertrags, sondern anhand des EWR-Abkommens geprüft habe. NZZ, 3. 10. 03, S. 18
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Ein sicherer Platz für nationale Minderheiten Unbefriedigende Aussagen im EU-Verfassungsentwurf
Von Romedi Arquint, Präsident Föderalistische Union europäischer Volksgruppen
Die Europäische Union (EU) gibt sich zurzeit eine Verfassung. Als Aussenstehende ist die Schweiz lediglich Beobachterin. Doch das Schweizer Staatsmodell bietet auch für eine europäische Verfassung einiges an Beachtenswertem, insbesondere was den Umgang mit Minderheiten betrifft. Diesen hätten die Autoren des Verfassungsentwurfs noch kaum befriedigend gelöst, stellt Romedi Arquint fest. Ein Vergleich mit der Schweizer Minderheiten- und Sprachenpolitik wäre daher angebracht.
Die EU hat eine Sprachenpolitik und hat sie gleichzeitig nicht. Dies macht ihr Dilemma aus und stellt andererseits eine der politischen Herausforderungen dar, die durch die Aufnahme der zehn neuen Mitgliedstaaten an Dringlichkeit und an Zündstoff gewonnen hat. Für den politischen und den Verwaltungsbereich ist die Lage geregelt: Die nationalen Amtssprachen sind auch Amts- und Arbeitssprachen der Gemeinschaft. An diesem Prinzip wird trotz den damit verbundenen Erschwernissen und dem erheblichen finanziellen Aufwand für Übersetzungen (zwei Prozent des Gesamtbudgets) bis heute festgehalten. Ob diese Praxis mit 25 Mitgliedstaaten noch möglich sein wird und sinnvoll weitergeführt werden kann, ist höchst zweifelhaft, bleibt jedoch vorläufig offen.
Mitglieder definieren Sprachenpolitik
Hingegen hat es die EU bis heute bewusst unterlassen, sich in die Sprachenpolitik der Mitgliedstaaten einzumischen. Immerhin sprechen VOR den 370 Millionen Menschen nahezu 50 Millionen eine andere als die offiziellen Staatssprachen. Von den 40 historisch in den EU-Staaten beheimateten Sprachen gehören nur 11 zur «Champions League» der anerkannten nationalen Amtssprachen. Die knapp 30 Minderheitensprachen und Volksgruppen werden von der EU nicht berücksichtigt. Zu diesen gehören etwa die Sorben, Bretonen, Friesen als -autochthone Gemeinschaften, die Slowenen in Italien und Österreich und andere nationale Minderheiten und schliesslich nicht territorial gebundene Gemeinschaften wie diejenigen der Sinti und Roma.
Dass die Regelung der Sprachenfragen in diesem Bereich den Mitgliedstaaten überlassen wurde, hat seinen Grund in deren gegensätzlichen staatsphilosophischen Grundsätzen. So bildet die französische Sprache den Grundpfeiler für die Existenz der Republik Frankreich, was die Annahme anderer als der französischen "Nationalitäten" auf dem Territorium der «nation une et unique» ausschliesst. Ein weiterer Mitgliedstaat, Griechenland, schliesst sich diesem Staatsprinzip an, was auch hier dazu geführt hat, dass bis heute andere ethnische Gemeinschaften wie etwa die Mazedonier nicht nur nicht anerkannt sind, sondern gemäss Verfassung inexistent sind. Andere Mitgliedstaaten haben eine minderheitenfreundliche Haltung. Obwohl diese ein in der Verfassung formuliertes Prinzip der nationalen Einheit. kennen und den Minderheiten keinen Platz in der Verfassung einräumen (Deutschland), haben sie im Umgang mit den andern Volksgruppen pragmatische Modi vivendi entwickelt und diese de facto als staatstragende Gemeinschaften anerkannt. Andere wiederum wie Österreich und Italien betonen ausdrücklich die Multinationalität des Staates, indem sie den verschiedenen Volksgruppen Verfassungsrang zugestehen.
Dürftige Aussagen im Verfassungsentwurf
Gerade weil die Anerkennung anderer Volksgemeinschaften als derjenigen der Mehrheitsbevölkerung eine kontroverse und überaus sensible Frage berührt" tut sich die EU sowohl bei der Grundrechtediskussion als auch der Verfassungsfrage überaus schwer. Dementsprechend dürftig sind die Aussagen zu dieser Frage, und wenn schon, dann lassen sich solche nur indirekt aus den Aussagen zur sprachlichen und kulturellen Vielfalt Europas ableiten. Im Teil I des Verfassungsentwurfes findet sich einzig der folgende Satz: "Die Union wahrt den Reichtum ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas." Die Charta der Grundrechte enthält ein Diskriminierungsverbot, was aber nichts anderes als die Aufnahme minimalster internationaler Standards darstellt. Zwar wird "die Achtung der kulturellen, religiösen und sprachlichen Vielfalt" erwähnt, womit zwar implizit der Schutzgedanke enthalten ist. Eine aktive Förderung der Sprachenvielfalt ist damit nicht gemeint, noch viel weniger lässt sich daraus eine Grundlage für eine kohärente Politik den gefährdeten Kleinsprachen und nationalen Minderheiten gegenüber ableiten. Wünschbar und entkrampfend wäre es allerdings gewesen, wenn sich die EU ausdrücklich auch zu deren Erhalt und Förderung verpflichten würde, wie dies die Verfassung der Schweiz vorsieht. Mit dem Grundsatz der Förderung der sprachlichen und kulturellen Vielfalt würde ein neuer Verfassungswert geschaffen, der auch anwendbar sein könnte für eine umfassendere Politik zugunsten der nationalen Minderheiten.
Gefährliches Messen mit ungleichen Ellen!
Der Verfassungsentwurf ist, was die aktuelle Problematik der nationalen Minderheiten betrifft, keine Erfolgsgeschichte. Es finden sich zwar Ansätze zur Sprachen- und Kulturvielfalt, aber keinerlei Hinweise auf eine politische Verantwortung der EU im Bereich der ethno-nationalen Konflikte. Ungewiss bleibt auch in nächster Zukunft, wieweit sich die EU zu den inzwischen erarbeiteten und von den meisten Mitgliedstaaten des Europarates anerkannten Minimalstandards des Schutzes und der Förderung der nationalen Minderheiten durchringen kann. Sie hat sich mit ihrer eigenen «Nicht-Politik» im Innern und einer aktiven Politik gegenüber den neuen Mitgliedstaaten in eine Sackgasse manövriert. Denn die EU verlangte, dass die Beitrittsländer die Kopenhagener Kriterien von 1993 einhalten: Diese fordern eine strenge Beachtung der Standards zum . Minderheitenschutz. Die Anstrengungen zur Lösung der ethnischen Konflikte waren ein wichtiges Kriterium für die Aufnahme der neuen Staaten, das tatsächlich auch wesentlich zur Beruhigung der ethnisch gespannten Lage in den Beitrittsländern geführt hat. So haben alle diese Staaten die Konvention zum Schutz der nationalen Minderheiten ratifiziert und sind daran, diese in die Praxis umzusetzen.
Für die EU waren die Standards für den Minderheitenschutz ein Exportartikel und keiner für den Eigengebrauch. Sie wurden auch erst nach der Wende zu einem Thema. Als in den 1980er Jahren die «Süderweiterung» vorgenommen wurde, war der Minderheitenschutz kein Thema. Bis heute gelang es auch nicht, die "alten" EU-Staaten auf einen Minimalkonsens in dieser Frage zu verpflichten. Sind die zehn Staaten erst einmal vollwertige Mitglieder der EU, stellt sich die Frage, wie mit diesen doppelten Standards umzugehen sei. Es könnte durchaus sein, dass in den neuen und doch noch als labil zu bezeichnenden Staaten ethnisch motiviertes Konfliktpotenzial sich neu aufladen könnte, dass von diesen einmal gleichwertigen Mitgliedstaaten die erreichten Standards in Frage gestellt werden könnten, was zu einem Rückfall in ethno-nationalistische innere Auseinandersetzungen führen könnte. Jedenfalls könnte die EU solche Staaten schwerlich auf die Einhaltung der Minderheitenschutzbestimmungen verpflichten. Auch aus diesem Grunde erscheint es dringend, dass die EU eine einigermassen konsistente Sprachen- und Minderheitenpolitik entwickelt. Beim Verfassungsentwurf zeichnet sich kein Fortschritt ab.
Zuständigkeit unterer Ebenen ist sinnvoll
Gerade die Schweiz zeigt nun aber auf, dass sich mit einem föderalistischen politischen System die Fragen der nationalen Minderheiten pragmatisch und zufriedenstellend lösen lassen. Aus Schweizer Sicht kann einiges in die Debatte um die EU-Verfassung eingebracht werden. Die I Schweiz ist einer der wenigen Staaten mit einer langen Erfahrung der Koexistenz verschiedener Sprach- und Kulturgemeinschaften. Sie ist damit ein Modell, das bedenkenswerte Ansätze für eine multikulturelle EU liefern kann. Verfassungsmässige Rahmenbedingungen, die die Anerkennung der Landes- und Amtssprachen regeln, aber auch die gemeinsame Verantwortung zur Erhaltung und Förderung der bedrohten Sprachgemeinschaften und die Anstrengungen zur Verständigung zwischen den verschiedenen Nationalitäten sind das eine. Das Zweite ist die Delegation der sprach- und kulturpolitischen Kompetenzen an die Kantone; diese bieten eher Gewähr für eine basisnahe, praxisorientierte und entideologisierte Sprachenpolitik als eine zentralstaatliche Institution. Eine Demokratie vermag das Vertrauen ins Recht umso mehr zu begründen, je kleiner eine Gemeinschaft ist, die das Recht trägt (L. Siedentop). Dieses Prinzip kommt in einem höchst sensiblen Bereich der persönlichen und kollektiven Identität in besonderer Weise zum Tragen und hat sich in der Schweiz bewährt.
Wir können an der Tatsache nicht vorbeisehen, dass höchst sensible Bereiche der persönlichen und kollektiven Identität, wie es Sprache, Kultur, Religion und Mentalität sind, nicht zentral diktiert werden können. Die Delegation der Kompetenzen der Sprachen- und Kulturpolitik an die Kantone war eine der bedeutendsten Voraussetzungen für die Erhaltung der Vielfalt in der Schweiz, wenn auch gesagt werden muss, dass der so erhaltene Sprachenfrieden auf Kosten der Freude an der interkulturellen Begegnung ging. Eine Rahmenkompetenz auf Verfassungsstufe der EU mit der Rechtssetzungskompetenz und damit der Delegation der sprachpolitischen Entscheide vor Ort gehört zu den Grundzügen, die nicht zuletzt in multikulturellen Staaten wie etwa in der Schweiz sich bewährt haben und durchaus «exporttauglich» sind. NZZ, 10. Oktober 03, S. 17
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Stabilitätspackt am Kippen?
Die EU-Kommission hat am Dienstag dem Finanzministerrat (Ecofin) erwartungsgemäss empfohlen, von Deutschland neue Massnahmen zur Defizitsenkung zu fordern: 2004 soll Berlin den konjunkturbereinigten (strukturellen) Haushaltsaldo um 0,8 Prozentpunkte des Bruttoinlandproduktes (BIP) reduzieren. Für 2005 wird eine weitere Reduktion um 0,5 Prozentpunkte oder - nötigenfalls - um mehr gefordert, damit das nominale Defizit «deutlich» unter die im Stabilitätspakt fixierte Schallgrenze von 3% des BIP sinkt. Brisant ist auch die Form der Empfehlung: Die Kommission empfiehlt einen Beschluss nach Art. 104/9 EG-Vertrag. Dabei handelt sich um die nächste, schärfere Stufe im Defizitverfahren, um eine Art von "Zwangsauflagen". Entsprechend müsste die deutsche Regierung der Kommission bis am 9. Januar 2004 berichten, wie sie die Empfehlungen umzusetzen gedenkt. Ausserdem müsste sie in den nächsten beiden Jahren vier Umsetzungsberichte vorlegen. Als Zwischenschritt empfiehlt die Kommission dem Ecofin zudem, nach Art. 104/8 EG- Vertrag festzustellen, dass die von Deutschland im laufenden Jahr getroffenen Massnahmen unzureichend sind, um das Defizit 2004 unter 3% zu bringen.
Die Behörde hat sich, wie Wirtschaftskommissar Solbes vor den Medien erläuterte, eng an bereits gegen Frankreich eingeschlagene Vorgehen gehalten. Beide Staaten werden 2004 zum dritten Mal in Folge die 3% überschreiten und damit Empfehlungen verletzen, die der Ecofin in einer früheren Verfahrensstufe ausgesprochen hat. Laut Kommissionsprognosen dürfte das deutsche Defizit 2003 4,2% des BIP erreichen. Damit sei entgegen den im Frühjahr geäusserten Erwartungen und trotz den von Deutschland getroffenen Massnahmen im laufenden Jahr weder der nominale noch der strukturelle Fehlbetrag gesenkt worden. Der Defizitanstieg der vergangenen Jahre gebe, fährt die Kommission fort, «Anlass zu grosser Be- sorgnis».
Zwar ist «Brüssel» angesichts des geringen Wachstums bereit, beiden Staaten zur Einhaltung der 3% ein Jahr mehr Zeit einzuräumen. Um aber eine Korrektur spätestens 2005 sicherzustellen, wird verlangt, dass rund zwei Drittel der nötigen Konsolidierung 2004 geleistet werden. Da Deutschland den strukturellen Saldo laut Kommissionsschätzungen um insgesamt rund 1,3 Prozentpunkte des BIP verbessern müsste, ergibt sich hieraus für 2004 die erwähnte Korrektur um 0,8 Punkte. Der deutsche Haushaltentwurf hingegen sieht für 2004 lediglich eine Verbesserung um 0,6 Punkte vor. Die Differenz zur Kommissionsforderung entspricht je nach Quelle rund 4 Mrd. bis 6 Mrd.
Als Nächstes muss der Ecofin über die Kommissionsempfehlungen entscheiden. Da im Rat auch die Vorschläge zu Frankreich noch hängig sind, steht am nächsten Treffen vom 24./25. November eine Debatte an, die für die Zukunft des Stabilitätspaktes entscheidend sein könnte. Der Pakt soll verhindern, dass ein Mitgliedstaat der Währungsunion die Stabilität der gemeinsamen Währung durch eine Schuldenwirtschaft gefährdet. Während die Geldpolitik zentral in Frankfurt festgelegt wird, ist der Pakt lediglich eine Krücke zur Koordination und gegenseitigen Überwachung der in nationaler Kompetenz verbliebenen Haushaltspolitik. Werden diese Verfahren blockiert, bricht diese Krücke als zweites Standbein der Stabilitätspolitik ein.
Der deutsche Finanzminister Eichel aber hat das Vorgehen der Kommission bereits im Vorfeld über die Medien ungewöhnlich scharf kritisiert (vgl. NZZ vom 17.11.03). Er lehnt nicht nur zusätzliche Massnahmen als prozyklisch ab, sondern betont vor allem, das Verfahren dürfe gegen einen "kooperationswilligem" Staat nicht verschärft werden. Dabei erklärte er flugs auch Frankreich für kooperativ, das schon mehrere haushaltspolitische EU-Vorgaben missachtet hat. Berlin stört sich an der Anwendung von Art. 108/9, der an der nationalen Souveränität nagt. Werden Vorgaben nach diesem Artikel wieder nicht erfüllt, drohen in einem weiteren Verfahrensschritt Sanktionen. Frankreich sträubt sich zwar ebenfalls gegen die Kommissionsempfehlungen, doch stellt es nicht die Verfahrensfrage in den Vordergrund, sondern es hält die für 2004 geforderte Konsolidierung für übertrieben. In Brüssel wird deshalb die - vor einigen Wochen überraschend aufgebrachte - Anzweiflung des Verfahrens durch Deutschland als gravierender eingeschätzt, weil sich hierzu keine Kompromissmöglichkeiten abzeichnen.
Vielmehr hat Solbes das von Deutschland eingeführte Kriterium der «Kooperation» in mehreren Interviews abgelehnt. Wenn es für ein Land genügen würde, zu diskutieren, um kooperativ zu sein und damit Sanktionen zu vermeiden, sagte er gegenüber der französischen «Tribune», dann wäre das ein anderer Pakt. Sogar Kommissionspräsident Prodi, der den Stabilitätspakt vor Jahresfrist noch für dumm erklärt hatte, hat Solbes' Vorgehen verschiedentlich verteidigt. «Ein Regelwerk ohne Sanktionen existiert im Paradies, aber nicht in Brüssel», erklärte er der «Welt am Sonntag». Ausserdem hat die Kommission nach eigener Darstellung rechtlich gar keine andere Wahl. Vielmehr habe sie, um den beiden Staaten entgegenzugehen, den Interpretationsspielraum bis an die Grenze ausgenützt, indem sie beiden ein weiteres Jahr zur Defizitreduktion einräume. Dies ist vor allem von Österreich und den Niederlanden lautstark als zu milde kritisiert worden. Da der Pakt in vielen Bereichen nicht eindeutig formuliert ist, kann jede Seite ihren Standpunkt durch - einander widersprechende - Rechtsgutachten untermauern.
Trotz den etwas unterschiedlichen Standpunkten ist davon auszugehen, dass sich Paris und Berlin gegenseitig unterstützen werden. Ratskreise erwarten zudem, dass sich im Falle einer Kampfabstimmung Italien und Luxemburg nicht gegen die bei den Defizitsünder stellen werden. Deshalb droht eine Blockierung der Verfahren mit einer Sperrminorität. Den Entscheid über die «Zwangsauflagen» nach Art. 104/9 fällen die Euro-Staaten ohne Stimmrecht des betroffenen Staates mit Zweidrittelmehrheit. Ein Blockade aber, fürchten Kommissions- und Ratsvertreter, könnte den Stabilitätspakt zum toten Buchstaben verkommen lassen und das Vertrauen in die Währungsunion unterhöhlen. NZZ, 19. 11. 03, S. 21
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Wachstumsinitiative der EU-Kommission
Die EU-Kommission hat am Anfangs Oktober 03 in Erfüllung eines Auftrages des EU-Gipfels vom Juni 03 einen Fahrplan und Empfehlungen für die «Europäische Wachstumsinitiative» verabschiedet. Mitberücksichtigt worden sind laut Kommissionspräsident Prodi die in den letzten Monaten aus diversen Hauptstädten eingegangenen Anregungen. Die Initiative konzentriert sich auf die transeuropäischen Netze (Verkehr, Breitband u. ä.) sowie auf Forschung, Entwicklung und Innovation. Am konkretesten sind die Vorschläge für die transeuropäischen Verkehrsnetze (TEN-V). Hier legt die Kommission dem Parlament und dem Ministerrat Entwürfe zur Modifikation des Rechts- und Finanzierungsrahmens unter Einschluss einer neuen Liste «vorrangiger Projekte» vor. Die Liste enthält 29 alte und neue Vorhaben, zu deren Vollendung bis 2020 rund 220 Mrd. Euro nötig wären.
Von der «Wachstumsinitiative» sind 80 Mrd. Euro bis 2006 vorgesehen. Etwa 20% des Totals könnte der private Sektor beisteuern, der Rest muss aus den nationalen Haushalten sowie aus EU-Schatullen kommen. Derzeit stehen im EU-Haushalt 600 Mio. Euro pro Jahr für die TEN zur Verfügung, woraus bis zu 10% der gesamten Baukosten kofinanziert werden. Die Kommission schlägt nun vor, den EU-Beitrag an die grenzüberschreitenden Abschnitte der vorrangigen Projekte auf 30% anzuheben. Auf derartige Abschnitte sollen in der nächsten Finanzperiode (2007-13) rund 15 Mrd. Euro entfallen. Weitere Gemeinschaftsmittel steuern die TEN-Investitionsfazilität der Europäischen Investitionsbank (EIB) von 50 Mrd. Euro für die Periode 2004-10 und die Kohäsionsfonds (1,5 Mrd. Euro für 2000-06) bei. Da der Mangel an Koordination unter den Mitgliedstaaten zu den Ursachen dafür zählt, dass die teilweise bereits 1994 identifizierten Projekte bis jetzt nur schleppend vorankommen, will die Kommission künftig einen «europäischen Koordinator» benennen.
Weniger konkret sind die übrigen Bestandteile der Initiative. Hierzu zählen Projekte im Bereich Breitband und «eEurope» sowie Anläufe zur Förderung von Forschung, Entwicklung und Innovation, für die weitere Milliarden aus allerlei EU-Töpfen vorgesehen sind. An die Mitgliedstaaten richtet die Kommission die Aufforderung, die immer wieder beschworene Anhebung der Forschungs- und Entwicklungsausgaben auf 3% des Bruttoinlandproduktes (wovon zwei Drittel aus der Privatwirtschaft) zu realisieren. Die Vorschläge werden im Oktober von den Finanzministern und den Staats- und Regierungschefs diskutiert, eine definitive Prüfung ist am EU-Gipfel im Dezember vorgesehen. Wohin die Initiative führen wird, ist ungewiss. NZZ, 2. 10. 03, S. 21
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Bürokraten, Bullen und Betrüger
Lutz Ribbe
Unermüdlich produzieren Brüsseler Beamte einen Wust an Paragrafen und Vorschriften. Steuermilliarden verschwinden in unnützen EU-Projekten. Sehr zur Freude von Schlaumeiern und einflussreichen Lobbyisten.
Rindviecher bekommen kaum noch frische Luft: Sie werden im Stall gehalten, damit man sie mit subventioniertem Mais voll stopfen kann.
Ich weiss nicht, wie es bei Ihnen ist. Mir aber geht diese Kaste von Europapolitikern, deren Hauptaktivität darin zu bestehen scheint, sich gern und ausgiebig selbst zu loben, langsam auf die Nerven. Mein aktuellstes Erlebnis: Ich kam – als Mitglied des EU-Wirtschafts- und Sozialausschusses – müde von einem Aufenthalt in Brüssel zurück. Ich weiss nicht mal mehr, was wir breit und ausgiebig debattiert hatten, entscheidend Wichtiges war es jedenfalls nicht. Die Nachrichten berichteten vom Abschluss der Verhandlungen im Konvent, der Einrichtung also, die einen Verfassungsentwurf für die Europäische Union erarbeiten sollte. Die Interviewten überboten sich mit Superlativen: ein «historischer Moment», ein «Jahrhundertereignis», man habe etwas «Einmaliges», «Ungeheures» geleistet. Ihr Eigenlob wird sogar Platz in der Präambel der Europäischen Verfassung finden. Dort steht: «In dankender Anerkennung der Leistungen der Mitglieder des Europäischen Konvents, die diese Verfassung im Namen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas ausgearbeitet haben...»
Doch niemand stellte die Frage, was dort wirklich geleistet wurde. Wurden Visionen für die Zukunft Europas entwickelt? – Mitnichten! Im Kern erzielte man nicht mehr als einen eher faulen Kompromiss bei der Frage der zukünftigen Macht- und Postenverteilung. Hinter den grossen Sprüchen versteckt sich die Wahrheit, dass Europa auch fünfzig Jahre nach Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sich weiter ein Parlament leistet, das noch nicht einmal ein Gesetz einbringen kann. Das ist wahrhaftig etwas Einmaliges. Europa soll auch weiterhin von einer Kommission regiert werden, bei der Misswirtschaft an der Tagesordnung zu sein scheint.
Doch die Politiker werden nicht müde, von ihren grossen Taten am Aufbau des europäischen Hauses zu reden. In Wirklichkeit verliert sich Europa immer mehr im Klein-Klein und in der Wahrung der Pfründen, die man sich im Laufe der Zeit durch geschickte Lobbypolitik gesichert hat.
Im März etwa legte die Kommission ein zwölfseitiges Papier zur Kodifizierung der Richtlinie über die «Halteeinrichtungen für Beifahrer von zweirädrigen Kraftfahrzeugen» vor. Gar 19 Seiten umfasst der zeitgleich vorgelegte Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie des EU-Parlaments und des Rates «über den Ständer von zweirädrigen Kraftfahrzeugen». In den Begründungen zu den Gesetzentwürfen heisst es, dass es der EU-Kommission «im Zusammenhang mit dem Europa der Bürger» (das hört sich immer gut an!) «ein wichtiges Anliegen [ist], das Gemeinschaftsrecht zu vereinfachen und klarer zu gestalten, damit es für die Bürger besser verständlich und zugänglich ist und er die speziellen Rechte, die es ihm zuerkennt, besser in Anspruch nehmen kann». Wie beruhigend, dieser Monstersatz: Des Bürgers Rechte bei den «Ständern» und «Haltegriffen von Zweirädern» liegen den Brüsseler Beamten am Herzen.
Das Europaparlament, der Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Rat der Europäischen Union werden sich in Sorge um Bürgernähe nun bald auch mit den Bestimmungen für die technische Ausgestaltung von Traktoren und anderen landwirtschaftlichen Zugmaschinen beschäftigen. Nicht weniger als vierzig (!) Vorschriften gibt es schon in diesem Bereich, und auch sie wollen kodifiziert sein, damit sie ihren Beitrag zum Abbau von Handelshemmnissen leisten können; zu diesem Zweck nämlich wurden sie erlassen. So sind den Rückspiegeln von Zugmaschinen in der EU zwei Richtlinien gewidmet, 74/347 regelt die «Scheibenwischer», während die «Fahrersitze» durch 78/764, 83/190 und 88/465 genormt werden. Da muss natürlich auch – das ist kein Scherz – für den «Beifahrersitz» eines Traktors eine eigene EU-Bestimmung her, ebenso für die «Abschleppeinrichtung», die «Beleuchtungs- und Lichtsignaleinrichtung», die «Bremsanlage», den «Rückwärtsgang» oder die «Umsturzschutzvorrichtung». Dieser gönnt die EU insgesamt gar neun Richtlinien (neun!). Wen wundert es, wenn dann noch zwei, nämlich die Richtlinie 80/720 und 86/297 für die «Zapfwellen von Zugmaschinen», erlassen wurden?
Turbotraktoren auf Feldautobahnen
Richtlinien der EU müssen anschliessend in nationales Recht überführt werden. Also befassen sich 15 Mitgliedstaaten und 10 Beitrittsländer mit der Umsetzung in nationales Recht. Bei den Richtlinien der EU weist die erste Zahl der Nummern auf das Jahr hin, in dem die Richtlinie erlassen wurde. An vielen der aus den siebziger und achtziger Jahren stammenden Traktorenrichtlinien nagt also der Zahn der Zeit. In ihnen wurde definiert, dass sie nur Anwendung für Fahrzeuge finden, deren «bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit» zwischen sechs und dreissig Kilometer pro Stunde liegt. Für schnellere Fahrzeuge, die immer häufiger über europäische Äcker und die zu Feldautobahnen ausgebauten Wirtschaftswege düsen, galten sie nicht. Brüssel war erschüttert, dass die in nächtelangen Sitzungen ausgetüftelten Regelungen auf immer weniger Fahrzeuge Anwendung fanden. Daher wurde am 23.9. 1997 flugs eine weitere Richtlinie erlassen. Sie hebt einfach die «bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit von land- und forstwirtschaftlichen Zugmaschinen auf Rädern» von dreissig auf vierzig Kilometer pro Stunde an; und alle schönen Regeln gelten nun wieder europaweit und einheitlich für alle Fahrzeuge.
Auf die Idee, normierte Telefon- oder Steckdosenstecker einzuführen, die das Reisen durch europäische Länder erleichtern würden, ist man hingegen noch nicht gekommen. Dafür erfreuen sich die französischen überseeischen Departemente besonderer Aufmerksamkeit. So sitzen in Brüssel Beamte, die jährlich den Bedarf dieser Inseln an Bruteiern, reinrassigen Zuchtkaninchen, Zuchtpferden und -kühen abzuschätzen haben. Und was abgeschätzt wurde, muss befriedigt werden, unterstützt natürlich mit europäischen Subventionen. Jedes einzelne der 1200 Zuchtkaninchen, die 1999 für die Entwicklung der französischen Eiländer für nötig empfunden wurden, wurde mit sechzig Euro subventioniert. Was man den französischen überseeischen Departementen bewilligt, kann und will man den spanischen Kanaren, den griechischen Ägäis-Inseln oder den portugiesischen Azoren nicht verwehren. Für alle diese Randgebiete gibt es Sonderprogramme. Der EU-Rechnungshof hat diese unter die Lupe genommen und kam zu einem katastrophalen Ergebnis: Sie helfen weniger der Wirtschaft oder den Menschen auf diesen Inseln als vielmehr den Ex- und Importeuren der Waren.
Die EU ist schon immer spendabel gewesen, wenn es um regionale Aspekte geht. Die Zucht von Seidenraupen und Seidenraupen-eiern ist – wer würde daran zweifeln? – für bestimmte Regionen in Frankreich von «besonderer Bedeutung». Will heissen: Sie muss mit EU-Mitteln gefördert werden. Besonders in Italien und Frankreich gibt es Züchter, die pro Brutschachtel Steuergelder der EU kassieren.
Es gibt im Haushalt der EU eine Unmenge von Subventionen, die extra für bestimmte Regionen oder Erzeugergruppen entwickelt wurden. Und dabei soll es auch bleiben. Es besteht zwischen den Mitgliedstaaten eine Art Stillhalteabkommen, um dieses diffizil ausgehandelte Geldverteilungssystem nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Pfiffig muss man sein, um an EU-Knete zu kommen, so wie die britischen Whiskeyhersteller. Als das Vereinte Königreich der EU beitrat, gab es noch hohe Garantiepreise für Getreide. Wegen der daraus resultierenden unglaublichen Überschüsse wurde der Export von EU-Getreide auf den Weltmarkt subventioniert, wobei – das sei am Rande erwähnt – betrogen wurde, dass sich die Balken bogen. Die Whiskeydestillateure fuhren nach Brüssel und forderten Exporterstattungen auch für ihr Produkt. Ihr Argument: Man führe Getreide in veredelter Form aus. So einfach entstand der Haushaltsposten «(Export-)Erstattungen für in Form von bestimmten alkoholischen Getränken ausgeführtes Getreide». Allein von 1990 bis 1995 wurden hierfür 281,7 Millionen Euro ausgegeben.
Der EU-Rechnungshof prüfte Mitte der neunziger Jahre den Getreidebereich und stiess auf diese Subventionslinie. Er kritisierte diese Zahlung, denn mit der Agrarreform von 1992 wurde der Garantiepreis bei Getreide und somit auch die notwendigen Exporthilfen für Getreide radikal gesenkt, nicht aber die für Whiskey. Auf diesen Sachverhalt angesprochen, sagte die Kommission, dass «die Abschaffung der Destillationsbeihilfe für Whiskey dem Protokoll Nr. 19 des Vertrags über den Beitritt des Vereinigten Königreiches zu den Europäischen Gemeinschaften» widersprechen würde, will sagen: Das hat sich die Lobby damals gesichert, daran können wir nicht mehr rütteln. Noch heute findet sich im Haushalt der EU dieser Haushaltsposten, im Jahr 2001 wurden immer noch knapp 2,5 Mio Euro dafür ausgegeben.
Glanzstück der Maislobby
Ob bei der privaten Lagerung von Tintenfischen, bei der Beihilfe für die Erzeugung von Ananaskonserven oder der Verwendung von Olivenöl in Gemüse- und Fischkonserven: Die EU ist mit Subventionsgeldern dabei. Ob legal oder illegal, Brüssel ist eine Melkkuh geworden, und in dieser Rolle wird die EU gern akzeptiert. Lobbybüros sind in Brüssel allgegenwärtig, die darüber wachen, dass die Pfründen nicht verloren gehen respektive – noch besser – neue gesichert werden. Ein extrem erfolg-reiches Beispiel ist die Maislobby. Als 1992 im Rahmen der Agrarreform die künstlich hoch gehaltenen Getreidepreise abgesenkt wurden, liefen die Bauernverbände Sturm. Ein geringerer Garantiepreis bedeutet weniger Einkommen, und das könne die Landwirtschaft nicht verkraften, hiess es. Okay, sagte Brüssel, das stimmt. Deshalb wurden im Gegenzug zu den Preissenkungen die Preisausgleichszahlungen eingeführt. Heute nennen wir sie in der EU «Direktzahlungen». Natürlich ist die Auszahlung dieser Hilfen an den Anbau solcher Kulturen gekoppelt, die einst preisgestützt waren. Wer also weiter einst preisgestützte Arten wie Weizen, Roggen, Gerste produziert, bekommt Zahlungen. Nicht preisgestützte Kulturen oder Tiere wie Grünland und Kartoffeln, Milchkühe und Schweine kommen folglich nicht in den Genuss von Ausgleichszahlungen. Diese Direktzahlungen haben ihre Begründung in der Vergangenheit, sie sind das alte Preisstützungssystem im neuen Gewand.
Was die Maislobby mit dem Ganzen zu tun hat? Nun, Mais war in der EU niemals preisgestützt. Also gab es auch keine Preisausgleichszahlungen beim Maisanbau. Dennoch gelang es der Maislobby, den Mais in die Liste der preisausgleichsberechtigten Kulturen aufzunehmen. Ein teures Glanzstück europäischen Lobbyismus. Seit 1992 werden pro Jahr knapp 1,5 Milliarden Euro an Maissubventionen gewährt, der grösste Teil davon geht in nur drei Staaten, nämlich Deutschland, Frankreich und Italien; für alle EU-Agrarumweltmassnahmen gibt die EU nur wenig mehr Geld aus als für den Mais! In Bayern bekommen Maisbauern bis zu 460 Euro pro Jahr und Hektar, für das ökologisch wertvolle Grünland gibt es nichts.
Und da wundern sich Politiker, dass innerhalb kürzester Zeit in unserer Landschaft radikalste Veränderungen eingetreten sind. In Deutschland hatten noch Ende der achtziger Jahre rund neunzig Prozent aller Milchkühe quasi täglich Weidegang, waren also an der frischen Luft und taten das, was nur Wiederkäuer tun können: Gras fressen und somit Landschaft pflegen. Heute gelangt nur noch ein knappes Drittel der Kühe in diesen Genuss artgerechter Haltungsform. Der Grossteil der Tiere wird heute im Stall mit subventioniertem Mais voll gestopft. Das ist produktiver, die Bauern verdienen so mehr Geld und haben Arbeitserleichterungen. Wieso aber soll der Steuerzahler via EU gerade die produktivsten Verfahren subventionieren? Wieso nicht einen Ausgleich für Erschwernisse gewähren, die Bauern auf sich nehmen, wenn sie umweltfreundlicher oder tiergerechter produzieren, als es das Gesetz verlangt? Wenn sie etwas für die Gesellschaft tun, was sich betriebswirtschaftlich nicht rechnet oder sogar schadet?
Fairerweise sollte man der EU-Kommission bescheinigen, dass nicht sie diesen Unsinn mit der Maisprämie eingeführt hat. Es waren – na wer schon? – Deutschland, Frankreich und Italien, die drei grössten Maisproduzenten, die 1992 diese Subventionslinie durchdrückten. Auch hier galt das Motto: Spuckst du mir nicht in die Suppe, dann stelle ich auch deine Subvention nicht in Frage. Die EU-Kommission wollte die Maisprämie im Rahmen der Reform des Jahres 2000 streichen; es gelang ihr nicht.
Damit sind wir bei einem anderen wichtigen Thema: Was einmal beschlossen wurde, kann in der EU kaum rückgängig gemacht werden. In keinem Sektor beweist sich die Unfähigkeit der europäischen Institutionen, Reformen anzugehen, so deutlich wie in der Agrarpolitik. Trotz vollmundiger Bekundungen nach den Luxemburger Reformvereinbarungen vom 26. Juni 2003, endlich eine natur- und umweltgerechte, bauernfreundliche, arbeitsplatzschaffende und qualitätsorientierte Landwirtschaft zu fördern, treibt die Agrarindustrie – massiv unterstützt mit EU-Geldern – weiter ihre Blüten. Die Grossen fressen die Kleinen, Wachsen oder Weichen bestimmt die EU-Agrarpolitik auch im neuen Jahrtausend.
Lex Deutschland
Vor gut einem Jahr hat EU-Agrarkommissar Franz Fischler Reformgedanken zu Papier gebracht. Er hatte erkannt, dass angesichts immer knapperer Kassen die Landwirtschaft gute Argumente braucht, will man die rund 45 Milliarden Euro, die jährlich aus Brüssel fliessen, erhalten. So richtig überzeugend könne es wohl nicht sein, wenn ein Landwirt etwa im Jahr 2010 vor die Öffentlichkeit trete und fordere, etwas mehr Geld überwiesen zu bekommen, weil doch seinem Herrn Papa 1992 die Preise gesenkt worden seien. Die Preisausgleichszahlungen, so Fischlers Gedanke, die ihre Begründung in der Vergangenheit haben, tragen nicht in die Zukunft. Sie setzen zudem falsche Produktionsanreize, verursachen Probleme mit der Welthandelsorganisation (WTO) und sind umweltpolitisch kontraproduktiv. Seine Idee: Wir «entkoppeln» die Direktzahlungen, sie sollen also nicht mehr an den Anbau früher preisgestützter Kulturen gebunden sein.
Hurra, riefen die, die unter dem alten System gelitten haben: die Grünlandbauern und Kleinbetriebe, die bislang kaum etwas bekamen. Die «Verteilungsgerechtigkeit» ist in der Tat ein spannendes Thema. EU-weit bekam 1999 über die Hälfte aller landwirtschaftlichen Betriebe weniger als 1250 Euro pro Jahr an Direktzahlungen. Ein weiteres Viertel lag zwischen 1250 und 5000 Euro. Zusammen bekamen diese 75 Prozent aller Betriebe aber nur knapp 18 Prozent aller EU-Direktzahlungen. 2,2 Prozent der Betriebe hingegen bekamen Direktzahlungen in Höhe von 50000 und mehr Euro gutgeschrieben. Zusammen häufte sich dort mehr Geld an als bei den 75 Prozent Kleinbetrieben zusammen. Besonders krasse Beispiele können in den fünf neuen Ländern in Deutschland beobachtet werden. In Mecklenburg-Vorpommern erhielten 1999 insgesamt 912 Bauernbetriebe die so genannte Bullenprämie als Direktzahlung. Normalerweise regelt Artikel 4 der entsprechenden EU-Verordnung, dass «die Prämie auf Jahresbasis und pro Betrieb für maximal 90 Bullen gewährt» wird. Eine Obergrenze steht also fest. Jedoch weicht Artikel 5 den Artikel 4 gleich wieder auf. Denn danach können die Mitgliedstaaten «auf der Grundlage von ihnen festgelegter objektiver Kriterien den Grenzwert von 90 Tieren ändern oder aufheben». Ein Freifahrtschein, eine Lex Deutschland. Die Bundesrepublik hatte aufgrund der grossen Rindviehbestände im Osten gegen diesen Grenzwert gewettert und ohne Widerstände diese Ausnahmeregelung, die fortan natürlich zur Regel wurde, durchgeboxt. Interessant ist zu wissen, dass von den 912 Betrieben in Mecklenburg-Vorpommern 838 (also knapp 92 Prozent) weniger als 90 Bullen hatten. Sie wären also von der EU-Obergrenze gar nicht betroffen gewesen. Gerade einmal 8 Prozent lagen über dieser Grenze, doch für sie wird Politik gemacht. Die Folge: Die 838 Betriebe bekamen für 14486 Bullen zusammen die Prämie. Genauso viel an Prämie, also rund 15000-mal 210 Euro, holt sich der grösste Bullenmäster in Mecklenburg-Vorpommern, der Ferdinandshof, alleine ab!
Subventionen für die Reichen
Fischler wollte kleinen Betrieben nichts wegnehmen, bei den grossen aber die EU-Zahlungen auf maximal 300000 Euro beschränken und sie an den Faktor Arbeit binden. Von einer 300000-Euro-Obergrenze wären in Europa rund 2000 Betriebe betroffen gewesen, die meisten im Osten Deutschlands, wo die alten Grossstrukturen nach der Wende in Privatbesitz übergegangen sind. Betriebe, die sich zum Teil allein durch die Subventionen dumm und dusselig verdienen. Doch diese Betriebe machten ihren politischen Einfluss geltend, Fischlers Obergrenzenvorschlag verschwand in der Schublade.
Die bisherigen EU-Zahlungen sind nicht nur ungerecht verteilt, sie sind dauerhaft auch ohne gesellschaftliche Legitimation. Doch im Kern soll und wird es auch nach den jüngsten Beschlüssen weitgehend so bleiben. Bislang bekamen die produktivsten Strukturen das meiste Geld, genau jene, die am meisten für Arbeitsplatzverluste, trostlose Landschaften oder Umweltprobleme verantwortlich waren. Hier wollte Fischler ansetzen, er wollte Geld von den Marktordnungen und Preisausgleichszahlungen in die «ländliche Entwicklung» umschichten. Darunter versteht man in der EU die Agrarumwelt- und Aufforstungsprogramme, Hilfen für von der Natur benachteiligte Gebiete, aber auch um die regionale Weiterverarbeitung und Vermarktung zu fördern. Gerade einmal zehn Prozent der gesamten Agrarausgaben gehen derzeit in diese so genannte zweite Säule der Agrarpolitik. Fischler versprach signifikante Verbesserungen. Von allen Betrieben, die mehr als 5000 Euro an Zahlungen bekommen, wollte er 20 Prozent «wegmodulieren», um das Geld dann zukunftsgerecht und an gesellschaftlichen Ansprüchen orientiert in die ländliche Entwicklung zu investieren. Von diesem gut gemeinten Vorschlag blieb bei den Beschlüssen von Luxemburg nicht viel übrig. Die Modulation wurde auf nur fünf Prozent begrenzt, bis zum Jahr 2013 werden nun gerade einmal 1,2 Milliarden Euro von den Marktordnungen und Direktzahlungen in die ländliche Entwicklung umgeschichtet; das sind nicht einmal drei Prozent der jetzigen Agrarausgaben. Sind das die mutigen Schritte hin zu einer multifunktionalen Landwirtschaft?
Vorbildliche Schweiz
Und weil man so schön dabei war, die notwendigen Geldumverteilungen möglichst gering zu halten, kam man bei der Agrarreform auf die Idee der «einheitlichen Betriebsprämie». Das klingt zunächst gut. Doch wer die unterschiedliche Geldverteilung zwischen den Betrieben noch vor Augen hat und sich nun vorstellt, alle würden zukünftig gleich behandelt, irrt. Die alten Ungerechtigkeiten werden mit dieser Prämie erst richtig zementiert. Geplant ist Folgendes: Die Direktzahlungen, also die früheren Preisausgleichszahlungen, sollen zwar «entkoppelt» werden, doch durch die neue Betriebsprämie, die ein Landwirt nun erhalten soll, ändert sich im Finanzstrom quasi nichts. Denn die Höhe der angeblich «einheitlichen» Betriebsprämie errechnet sich aus dem Durchschnitt der Direktzahlungen, die jeder Betrieb in den Jahren 2000 bis 2002 erhalten hat. Konkret heisst dies: Die bisherige Begründung der Direktzahlungen wurde also von der EU als falsch und wenig zukunftsorientiert erkannt und abgeschafft, der damit verbundene Geldfluss aber bleibt aufrechterhalten. Geht es eigentlich bekloppter? Wohl kaum, aber danach fragt in Brüssel keiner!
Das Wort «Entkopplung» hat gute Chancen, zum Wort des Jahres gewählt zu werden. Doch was keiner sagt: Eine wirkliche «Entkopplung» kann es gar nicht geben, denn jede staatliche Transferleistung muss – soll sie gesellschaftlich akzeptiert sein – an irgendetwas gekoppelt sein. Die EU kann in Wahrheit also nicht entkoppeln, sondern nur umkoppeln, also eine neue Begründung für den Geldfluss suchen. Die EU nennt hier den Umwelt-, Tier- und den Verbraucherschutz, sie bezeichnet dies als «cross compliance». Das kommt gut an bei der Bevölkerung. Doch es lohnt sich, das Kleingedruckte zu lesen: Die Landwirte sollen zukünftig Abzüge von ihren Prämien bekommen, wenn sie sich nicht an bestimmte Gesetze aus den Bereichen Umwelt, Tier- und Verbraucherschutz halten. Die Einhaltung von Gesetzen als Begründung für staatliche Transferleistungen? Wann kommt der Tag, an dem es Befreiungen von der Kraftfahrzeugsteuer gibt, wenn man die Verkehrsregeln einhält?
Die EU-Kommission lebt in einem Dilemma: Eigentlich möchte sie Veränderungen, denn sie weiss, dass es einer gesellschaftlichen Akzeptanz beim Geldtransfer an die Landwirtschaft bedarf. Sie weiss auch, dass der jetzige Vorschlag dies nicht einlöst. Doch die panische Angst vor den Veränderungen bei den Geldströmen lähmt die gesamte EU-Politik, der Verhandlungsmarathon hat dies gezeigt.
Die Schweiz macht es im Prinzip vor, wie es gehen muss: Dort ist verankert, dass die Zahlungen an die Landwirtschaft an gesellschaftliche Leistungen gekoppelt sind. Die Umwelt- und Verbraucherverbände in ganz Europa begrüssen das Prinzip. Sie sagen ja zu leistungsgerechten Zahlungen in der EU, wenn Landwirte das erfüllen, was die Gesellschaft von ihnen erwartet, was aber nicht im Gesetz verankert ist. Bekanntlich sind Natur- und Umweltprobleme oder die Tierschutzproblematik nicht Resultat ständiger Verstösse gegen die Gesetze. Sie finden legal, im Rahmen bestehender Regelungen, statt. Das heisst, der Bauer, der die Hecke erhält, obwohl er sie roden dürfte, der Bauer, der flächengebundene Tierhaltung praktiziert, obwohl er Massentierhaltung betreiben könnte, der Bauer, der keine Monokulturen anbaut, sondern mit weiten Fruchtfolgen die Schönheit der Landschaft erhält – diesen Bauern sollten solche Leistungen entlohnt werden. Darin liegt zukünftig die gesellschaftliche Akzeptanz eines Finanztransfers im Rahmen der europäischen Agrarpolitik. Die Partikularinteressen einzelner Mitgliedstaaten, die ihrerseits durch einflussreiche Organisationen wie die Maislobby beeinflusst werden, haben das Durchschlagen des gordischen Knotens bislang verhindert. Der Tag wird kommen, an dem sich dies für die Landwirte, aber auch für die Gesellschaft schlechthin, rächt.
Postenschacher statt Demokratie
Bei den Agrarverhandlungen war es wie im Konvent: Euphorische Sprüche wurden nach den Verhandlungen in die laufenden Kameras gehaucht, in der Hoffnung, Europas Bürger würden schon nicht die Details analysieren. Um nicht missverstanden zu werden: Die neue Agrarpolitik schafft durchaus Platz für positive Ansätze. So gibt es einen Artikel im Gesetzeswerk, der die Mitgliedstaaten ermächtigt, wirklich neue Wege zu gehen und Umverteilungen vorzunehmen. Doch die Reformunwilligen sind davon nicht betroffen. Für sie bleibt der Geldstrom weitgehend unangetastet.
Wenn die Limitierungen oder negativen Folgen der Politik sichtbar werden, sind die, die sie beschlossen haben und in der EU Verantwortung tragen, längst nicht mehr zur Rechenschaft zu ziehen. Wobei in dem Konglomerat von Brüssel sowieso die Frage zu stellen ist, wer wem gegenüber wofür verantwortlich ist. Die in Brüssel akkreditierten Journalisten Hans-Martin Tillack und Andreas Oldag beschreiben in ihrem lesenswerten Buch «Raumschiff Brüssel – wie die Demokratie in Europa scheitert» eindrucksvoll, wie sich die Mitglieder der EU-Institutionen, ob nun im Rat, in der Kommission oder im Parlament sitzend, mit ihrer Macht und Ohnmacht zufrieden geben. Denn im Wirrwarr der Gesetzgebung lässt es sich sehr schön hinter der Kompetenz der anderen verstecken. Der deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen, zuständig für die Erweiterungsfragen, wird in dem Buch mit dem Satz zitiert: «Würde sich die EU bei uns um Beitritt bewerben, müssten wir sagen: demokratisch ungenügend.» Das sagt eigentlich alles.
Zur Veränderung dieser Zustände wurde der Konvent unter der Präsidentschaft von Valéry Giscard d’Estaing eingesetzt. Er hat einen Verfassungsentwurf für das angeblich neue, das moderne, aufstrebende und lebendige Europa erarbeitet. Eine Verfassung enthält auch Hinweise auf die Richtung, in die sich ein Land entwickeln soll. Die EU bekennt sich zum «Europa der Bürger», zum «Europa der Regionen», zur kulturellen Vielfalt, zur regenerativen Energie und zur nachhaltigen Entwicklung, sie bekennt sich zu allem, was sich gut anhört.
Doch wo es hätte konkret werden müssen mit Veränderungen, da kam nichts heraus aus der Konventsdiskussion. Der EU-Agrarpolitik eine neue Aufgabe geben? – Darüber wurde nicht einmal debattiert. Die bereits 1957 im Vertrag von Rom festgelegten Ziele der Agrarpolitik wie die Steigerung der Produktivität wurden im neuen Entwurf wörtlich übernommen, auch wenn Europas Landschaften darunter leiden und die ländlichen Räume sich entleeren. Auch der alte Euratom-Vertrag, in dem sich die EU für den Ausbau der Kernenergie ausspricht, soll beibehalten werden. Man traut sich politisch nicht, einen endgültigen Strich unter diese überholte Energieoption zu ziehen. Nicht einmal zu einer gleichwertigen Aussage im Vertrag zu erneuerbaren Energien kann man sich durchringen.
Im Konvent wurde letztendlich nicht über die Zukunft Europas, sondern um Posten und Einflussnahme, also um Macht, diskutiert. Doch mit der Schaffung neuer Posten wie dem eines EU-Aussenministers oder einer 25-köpfigen Kommission, bei der 15 «Europäische Kommissare» mehr zu sagen haben als 10 weitere «Kommissare», löst man weder inhaltliche Aufgaben noch demokratische Defizite. Man schafft auch keine wirklichen Zukunftsperspektiven. Doch diejenigen, die in Brüssel die Fäden in der Hand haben und die vor die Kameras und Mikrofone treten, scheint es nicht zu stören. Manch einem scheint die wirkliche Entwicklung Europas, trotz der Lippenbekenntnisse, die immer wieder abgegeben werden, regelrecht schnuppe zu sein. Die Position des spanischen Ministerpräsidenten Aznar zur historischen Osterweiterung der EU war so einfach und eindeutig wie ernüchternd: «Ich bin dafür, wenn Spanien weiterhin ausreichend Geld aus den Strukturfonds bekommt. Wenn nicht, bin ich dagegen.»
Wer über die Zukunft Europas verhandelt wie auf einem orientalischen Basar, braucht sich nicht zu wundern, wenn sich die Bürger abwenden. Will man uns wirklich überzeugen, dass diese Europäische Union im Kern etwas Gutes ist, dann muss man mehr tun, als nur dauernd Nebelkerzen werfen. Europa scheint derzeit die Puste auszugehen, der Schwung früherer Zeiten ist dahin. Statt Seidenraupen- oder Tintenfischlagerungssubventionen oder Beifahrerhaltegriffsregelungen wären Visionen für Europa nötig. Eine Politik, die nach vorne schaut und bei den Menschen ankommt – nicht eine, bei der der Haushalt der EU zum Selbstbedienungsladen der Einflussreichsten verkommt.
Lutz Ribbe, 45, Direktor der Stiftung Europäisches Naturerbe (Euronatur), ist seit 1998 Mitglied des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses und Koautor des Buchs «Bananen für Brüssel. Europa – wie unsere Steuern vergeudet werden». Droemersche Verlagsanstalt 2000. 320 S., Fr. 13.50 Weitere Literatur: Andreas Oldag, Hans-Martin Tillack: Raumschiff Brüssel. Argon 2003. 414 S., Fr. 33.60
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