EU-Rechtsbruch der Deutschen Justizministerin Trotz drohenden Strafzahlungen für die Bundesrepublik hat die deutsche Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) am Donnerstag, den 31. Mai 2012 noch einmal ihre Weigerung bekräftigt, eine EU-Richtlinie zur Speicherung von Telekommunikations-Daten umzusetzen. Die Entscheidung der EU-Kommission, Deutschland wegen dieser Frage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu verklagen und ein Zwangsgeld in Höhe von täglich rund 315'000 Euro zu beantragen, kommentierte ein Sprecher der Ministerin mit den Worten, dieser Schritt komme «nicht überraschend». Man bleibe bei der Weigerung, denn bei der Vorgabe aus Brüssel handle es sich um «die umstrittenste Richtlinie in der Geschichte der europäischen Integration».
Den Einwand, jeder Normalbürger müsse auch solche Gesetze beachten, die er für falsch halte, wollte der Sprecher nicht gelten lassen. Man strebe an, die Richtlinie auf europäischer Ebene zu verändern, und wolle durch die Weigerung, sie in nationales Recht umzusetzen, den Druck auf Brüssel aufrechterhalten. Die EU-Richtlinie von 2006 schreibt den Mitgliedsländern vor, zur Terrorismusbekämpfung die Telefon- und Internetverbindungsdaten ihrer Bürger auch ohne konkreten Verdacht für mindestens sechs Monate zu speichern. Die Inhalte der Gespräche oder E-Mails werden nicht registriert.
Seit das Bundesverfassungsgericht das deutsche Gesetz 2010 für ungültig erklärt hat, streiten Union und FDP um eine Neufassung. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) pocht auf einer Einhaltung der EU-Richtlinie und forderte seine FDP-Kollegin am Donnerstag noch einmal zum Einlenken auf. Wenn es am Ende zu einer Verurteilung komme, «wird es auf jeden Fall teuer», so der CSU-Politiker. In Berlin wird allerdings damit gerechnet, dass das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof am Boulevard Konrad Adenauer in Luxemburg bis zu zwei Jahre dauern wird und erst die nächste Bundesregierung von möglichen Strafzahlungen betroffen wäre.
Die FDP-Justizministerin will die generelle Speicherung von Internetverbindungsdaten nur für höchstens sieben Tage zulassen und weiter gehende Fristen nur bei einem konkreten Verdacht hinnehmen. Die EU-Kommission hat aber schon deutlich gemacht, dass sie dieses sogenannte Quick-Freeze-Verfahren nicht akzeptiert. Leutheusser-Schnarrenberger stellt mit ihrer starren Haltung auch die Autorität von Bundeskanzlerin Angela Merkel infrage, die schon vor einigen Wochen nachdrücklich eine Umsetzung der EU-Richtlinie angemahnt hat. Von ihrem eigenen Parteivorsitzenden Philipp Rösler muss sie keinen Widerspruch befürchten, denn der ist gegenwärtig so geschwächt, dass er keinen Konflikt mit der eigenen Bundesministerin wagen kann. Zudem steht die FDP in dieser Frage auch unter dem Druck der Piraten-Partei, die bei den jüngsten Landtagswahlen ausserordentlich erfolgreich war und jede Speicherung von Internetdaten als Eingriff in die Privatsphäre der User kategorisch ablehnt.
Leutheusser-Schnarrenberger gehörte zu den FDP-Politikern, die 2010 mit ihrer Klage gegen das ursprünglich von der grossen Koalition beschlossene Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht Erfolg hatten. Damals meinte sie warnend, der «Speicherwahn» seit den Anschlägen vom 11. September 2001 sei gefährlich und könne «in den Überwachungsstaat führen». Es sei nicht zu vertreten, auch die Daten eines Achtjährigen aufzubewahren, der vom Schulhof aus seine Eltern anrufe. NZZ, 31. Mai 2012, S. 3.
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EU - Ein Vorschlag des Think-Tanks «foraus» Die Schweiz und die EU kommen auf dem bilateralen Weg nicht mehr weiter. Die Denkfabrik «foraus» (Forum Aussenpolitik) hat einen Vorschlag zu den umstrittenen institutionellen Fragen ausgearbeitet. Er wurde am Mittwoch, den 16. Mai 2012, der Öffentlichkeit vorgestellt und im Rahmen einer Veranstaltung an der Universität Zürich diskutiert.
Die Denkfabrik präsentiert ihre Ideen in Form eines ausformulierten Entwurfs für ein Rahmenabkommen. Es enthält übergeordnete Grundsätze und Prinzipien, die auf verschiedene bilaterale Verträge angewendet werden können, jedoch nicht zwingend auf alle. Der Bundesrat hingegen möchte zuerst eine institutionelle Lösung für das geplante Stromabkommen finden und diese bei Erfolg auf weitere Verträge ausdehnen.
Die Autoren präferieren ein Regime, das sich am Status quo orientiert. Der EWR dient zwar bei manchen Mechanismen als Referenz, aber eine (Teil-)Integration in den EWR wird nicht in Betracht gezogen. Supranationale Institutionen sind nicht vorgesehen. Die Konfliktlösung findet in einem «Bilateralen Ausschuss» auf Ministerebene statt. Nachfolgend die wichtigsten Elemente des Musterabkommens: Rechtsübernahme:
Die Schweiz übernimmt neues EU-Recht nicht automatisch (das ist auch im EWR nicht der Fall), sondern sie informiert die EU, ob sie die Rechtsakte umsetzt. Bei referendumsfähigen Beschlüssen gelten Fristen von bis zu drei Jahren. Ist die Schweiz nicht bereit, den entsprechenden Rechtsakt zu übernehmen, wird das entsprechende bilaterale Abkommen vorläufig ausser Kraft gesetzt. Eine ähnliche Regelung existiert im Schengen-Assoziierungsabkommen.
Mitwirkungsrechte: Die Schweiz wird von der Kommission bei der Fortentwicklung des relevanten Binnenmarkt-Rechts gleichermassen informiert und zu Rate gezogen wie die EU-Mitgliedstaaten. Sie erhält grundsätzlich die gleichen Rechte wie die EWR-Staaten.
Rechtsprechung: In diesem Bereich ändert das Rahmenabkommen wenig. Das Bundesgericht soll der EU-Rechtsprechung «Rechnung tragen», und es kann mit dem Europäischen Gerichtshof einen informellen Dialog führen. Überwachung: Eine «Bilaterale Überwachungsbehörde», die durch den Bundesrat bestellt wird, beobachtet die Umsetzung der Verträge durch die Schweiz und kann Verletzungen vor dem Bundesgericht einklagen. Beschwerden von Privatpersonen wie bei der supranationalen Efta-Überwachungsbehörde sind nicht vorgesehen. Eine nationale Überwachungsbehörde schwebt auch dem Bundesrat vor, wobei die Bundesversammlung als Wahlgremium vorgesehen ist.
Der Entwurf kommt den Forderungen der EU nach Homogenität im gemeinsamen Markt teilweise entgegen. Brüssel hält sich zurzeit bedeckt, weil die vom Bundesrat am 25. April beschlossenen Grundsätze für Verhandlungen noch in der Vernehmlassung sind. EU-Botschafter Richard Jones deutete in einem Interview mit der «Sonntags-Zeitung» aber an, dass die Kommission in einem Kernpunkt nicht so leicht nachgeben wird: «Es gehört zu den Prinzipien des Binnenmarkts, dass im Streitfall keiner der Beteiligten über sich selbst richtet.» Für Jones ist der EWR ein effektives System, weil die Rechtsprechung wie in der EU nicht an die Mitgliedstaaten delegiert ist. NZZ, 16. Mai 2012, S. 13.
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Bescheidenes Interesse an «Cassis de Dijon» Das Interesse der Grossverteiler an «Cassis de Dijon»-Produkten ist nach wie vor bescheiden. Seit der Einführung in der Schweiz am 1. Juli 2010 gingen beim Bund nur 94 Gesuche ein. Davon wurden knapp 30 bewilligt. Fünf sind gegenwärtig noch hängig.
Gemäss dem «Cassis de Dijon»-Prinzip können Lebensmittel aus der EU in der Schweiz verkauft werden, sofern sie in der EU zugelassen sind, auch wenn sie die hiesigen Vorschriften nicht erfüllen. Voraussetzung dafür ist eine Bewilligung durch das Bundesamt für Gesundheit (BAG).
Bei den meisten Gesuchen geht es lediglich um Kennzeichnungsfragen, also darum, dass das Produkt in der Schweiz anders genannt und etikettiert werden muss als im Ursprungsland. Nur in wenigen Fällen musste das BAG tatsächlich Lebensmittel beurteilen, die von ihrer Zusammensetzung her in der Schweiz nicht zugelassen wären.
Das Kantonale Labor Zürich widmet dem «Cassis de Dijon»-Prinzip in seinem Jahresbericht 2011 gleich zwei Seiten – obwohl es sich dabei um Bundessache handelt. Der Umfang hat seinen Grund: Das Labor möchte die Regelung «so rasch wie möglich wieder abschaffen», wie es im am Dienstag veröffentlichten Bericht schreibt.
Für Lebensmittel sei das «Cassis de Dijon»-Prinzip wenig nützlich. Einen Grossteil der Gesuche bezeichnet die Zürcher Behörde sogar als «Unsinn». So müsse sich das BAG beispielsweise mit alkoholischen Getränken herumschlagen, die «Pussy-Drink» und «Playboy Energy Drink» heissen würden.
Das Interesse an den EU-Produkten stehe in keinem Verhältnis zum bürokratischen Aufwand, schreiben die Zürcher Lebensmittelinspekteure weiter. Für die Bearbeitung der Gesuche wurden beim BAG acht Stellen bewilligt. NZZ, 23. Mai 2012, S. 15.
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CH-Gewerkschaftsbund gegen Zugeständnisse im institutionellen Bereich Der Schweizerische Gewerkschaftstbund (SGB) lehnt Zugeständnisse an die EU im institutionellen Bereich ab. «Die Schweiz muss autonom bleiben, um Löhne und Arbeitsplätze der Arbeitnehmer zu schützen», sagt Daniel Lampart, der Chefökonom des SGB. Es gehe nicht an, mittels institutioneller Lösungen mit der EU den Arbeitnehmerschutz auszuhebeln. Dies habe man dem Bundesrat im Konsultationsverfahren deutlich zu verstehen gegeben.
Die harte Haltung des Gewerkschaftsbunds versetzt den Bundesrat noch vor Beginn der Verhandlungen mit der EU in eine delikate Lage. Bis jetzt hat der SGB und mit ihm das linke Lager den bilateralenWeg stets mitgetragen. Scheren die Gewerkschaften aus, kommt es erstmals zu ernsthaftem Widerstand von links. Auch der SP dürfte der Kurs der Gewerkschaften noch einige Diskussionen bescheren. Die SP habe sich bislang zu wenig kritisch mit der EU auseinandergesetzt, sagt SGB-Sekretär und Nationalrat Jean Christophe Schwaab. Bedenken des Gewerkschaftsflügels würde nur punktuell Rechnung geragen.
Der Gewerkschaftsbund fürchtet insbesondere um den Fortbestand der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit. Mit diesen versucht die Schweiz zu verhindern, dass die hiesigen Lohn- und Arbeitsbedingungen durch den freien Personenverkehr ausgehölt werden. Ihre Vereinbarkeit mit dem Abkommen über die Personenfreizügigkeit wird von der EU seit Jahren immer wieder in Frage gestellt.
Bis anhin hat in Streitfällen die Schweiz das letzte Wort gehabt. Nun verlangt die EU vom Bundesrat jedoch die Übernahme der EU-Regulierungen auf dem Gebiete der bilateralen Verträge. Davon wollen Gewerkschaften nichts wissen. «Eine gemeinsame Rechtsentwicklung auf Kosten des Arbeitnehmerschutzes kommt für uns nicht infrage», sagt Lampart. Grund für die Skepsis des SGB ist unter anderem die Praxis des EU-Gerichtshofs. Dieser hat in der Vergangenheit wiederholt nationalstaatliche Massnahmen zum Schutz der einheimischen Arbeitskräfte für unzulässig erklärt.
Dies ist auch dem Bundesrat nicht entgangen: Der Gerichtshof habe «in mehreren Urteilen für die Öffnung des Binnenmarkts und gegen die Geltung nationaler arbeitsrechtlicher Vorgaben» entschieden, schrieb die Regierung 2010 in einem Bericht. Das Integrationsbüro des Bundes räumt zudem ein, dass „seitens der EU und einiger Nachbarländer teilweise ein Unverständnis gegenüber den flankierenden Massnahmen besteht“. Auch wenn diese aus Sicht des Integrationsbüros im Einklang mit dem Abkommen über den freien Pesonenverkehr stehen. Im Besondern geht es um die 8-Tage Regel. Diese verpflichtet EU-Unternehmen, acht Tage vor einem Arbeitseinsatz in der Schweiz zu einer Voranmeldung. Für die Gewerkschaften handelt es sich um ein Bollwerk gegen Lohndumping, während die EU ein „faktisches Arbeitsverbot“ beklagt.
Innerhalb der Linken ist das Echo auf die Stellungnahme des SGB gespalten. Der grüne Nationalrat Daniel Vischer teilt diese Position. Die Linke müsse sich endlich ein realistisches Bild vo der EU machen. Diese sei „nicht die ökologische und soziale Vorzeigeorganisation, als die sie verklärt wird, sondern eine Deregulierungsmaschinerie“. Beim Arbeitnehmer-Dachverband Travailsuisse meint Präsident Martin Flügel hingegen, das neoliberale Credo verliere in der EU an Rückhalt. Berner Bund, Montag, 21. Mai 2012.
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SPD-Peer Steinbrück liest EU-Süd-Bevölkerungen die Leviten „Man wird diesen Ländern schon abverlangen dürfen, dass sie sich reformieren, dass sie bestimmte Strukturreformen und Anpassungen vornhemen, gegebenfalls auch Zumutungen verteilen auf ihre Bevölkerung.“ Europamagazin, extra, ARD, 16 Uhr bis 17 Uhr, 12. Mai 2012.
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EU-Pestizidrecht: Der Trick mit der Datenlücke Eine neue Studie des Pestizid-AktionsNetzwerks Europa (PAN Europe) zeigt, wie EU-Mitgliedstaaten und die Generaldirektion Gesundheit der EU-Kommission (DG SANCO) Regeln drehen und wenden, sodass auch verbotene Pflanzenschutzmittel letztlich wieder zugelassen werden können.
Alles beruhe auf einem System der Wiedervorlage (resubmission) bei großen Datenlücken: Solange nicht ausreichend viele Informationen für eine Risikobewertung beziehungsweise die Gefährlichkeit von bestimmten Pestiziden vorliegen, können diese nicht endgültig verboten werden. Laut der Pestizidrichtlinie 9 1/414 müssen aber alle Toxizitätsstudien durchgeführt werden, Datenlücken sind nicht gestattet. Das Wiedervorlageverfahren betreffe über 80 Wirkstoffe und lähme das Bewertungssystem der DG SANCO und der Lebensmittelbehörde EFSA seit inzwischen drei Jahren, kritisiert PAN.
Die Studie ergab auch, dass kein Mitgliedstaat ein Pestizid allein wegen der Umweltrisiken verbietet. Obwohl in sieben von zehn Fällen hohe Umweitrisiken bestanden, wurden diese Pestizide dennoch genehmigt. PAN Europe erhob massive Vorwürfe: Die dringend notwendige Erneuerung des Pestizidzulassungssystems werde verschleppt, die Zulassungsbehörden vernachlässigten sträflich ihre Aufgabe, Mensch und Umwelt vor Gefahren zu schützen, und statt weniger seien inzwischen mehr Pestizide auf dem Markt. www.pan-europe.info/News/PR/12O403.html, PAN Europe, Hans Muilerman, Tel. +316 / 55807255, E-Mail: hans@pan-europe.info, umwelt aktuell, Mai 2012, S. 11.
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