Der Trend ist augenfällig. Seit Jahren geht die Beteiligung an den EU-Parlamentswahlen stetig zurück. 1974, als die Abgeordneten erstmals direkt gewählt wurden, lag sie noch bei gut zwei Dritteln zuletzt, 2004, gerade noch bei 45 Prozent. Und: Für die Wahlen vom 7. Juni sagen die Umfragen eine durchschnittliche Beteiligung von gerade mal einem Drittel der Wahlberechtigten voraus, und in Polen und Slowenien sind es gar nur 17 Prozent.
In Brüssel macht die Angst vor den Wahlen schon länger die Runde. Nicht zuletzt, weil auch die etablierten Parteien stetig WählerInnen verlieren. Zwar dürften die christdemokratisch-konservativen Parteien auch diesmal stärkste Kraft bleiben gefolgt von den SozialdemokratInnen und den Liberalen. Doch daneben hat sich eine lose Gruppe aus Regionalisten, EU-Kritikerinnen und rechtsextremen Parteien zum drittgrössten Block hochgearbeitet.
Bisher vertrugen sich diese allerdings untereinander dermassen schlecht, dass sie keine Gefahr für die Vorherrschaft der grossen traditionellen Parteien waren. Mit der niedrigen Wahlbeteiligung könnte sich dies jedoch ändern. Denn genau die WählerInnen der traditionellen Parteien bleiben immer häufiger den Urnen fern, während die ProtestwählerInnen an Einfluss gewinnen.
Schlecht Informiert?
Wie kann es sein, fragt sich der christ-demokratische Parlamentspräsident Hans-Gert Pöttering, dass inzwischen 75 Prozent der verabschiedeten Gesetze in den EU-Mitgliedsländern ihren Ursprung in Brüssel haben und die Leute trotzdem nicht wählen gehen? Darauf wissen die überzeugten EuropäerInnen nur eine Antwort: Die Leute seien einfach nicht gut genug informiert.
Nachdem die Franzosen und die NiederländerInnen in einem Referendum die neue EU-Verfassung bachab schickten, lancierte die EU-Kommission eine neue Kommunikationsoffensive nach der anderen: Und mit dem irischen Nein zum EU-Vertrag im letzten Juni stieg der Aufwand für die EU-Reklame in den Himmel. Die Denkfabrik Open Europe spricht von umgerechnet 3,6 Milliarden Franken. Aus europäischer Sicht tun die 1200 in Brüssel akkreditierten Presseleute offenbar nicht genug. So richtete sich das EU-Parlament im Herbst für 14 Millionen Franken ein eigenes Internetfernsehen ein, das jährlich 1,5 Millionen Franken kostet. Und die Werbeagentur Scholz & Friends erhielt den 42 Millionen teuren Auftrag, das Parlament «besser bekannt zu machen». Weiter butterte die EU-Kommission 2008 auch 15 Millionen Franken in den Kabelkanal Euronews, schob ein Kommunikationsprogramm namens «Europa in Partnerschaft» mit 135 Millionen Franken an mit dem sie «Events» organisiert, die sie gleichzeitig journalistisch abdeckt. Zudem finanziert sie auch immer wieder Sendungen öffentlicher Radioanstalten. Und das ist noch nicht das Ende der Liste.
Das Eurobarometer
Wichtig für die «Information», wenn auch vornehmlich für das EU Establishment selbst, ist die Umfragemaschinerie Eurobarometer. Diese wird jährlich mit fast 40 Millionen geölt. Nicht einmal ein Weltkonzern wie Coca-Cola leistet sich zwei umfassende Umfragen in allen 27 EU-Ländern. Die Fragen werden von der EU-Kommission kontrolliert. Sie werden so gestellt, dass sie ihre Erwartungen bestätigen oder kritische Themen auslassen. Zudem werden Ansichten zu Angelegenheiten erkundet, die die EU-Kommission künftig zur EU-Sache machen will das Eurobarometer ist die politische Marktforschung der EU-Kommission. Das Barometer ging 1973 aus einem von der Brüsseler Kommission geförderten akademischen «Arbeitskreis europäische Integration» hervor. Zu dieser Zeit predigten US-PolitologInnen die Theorie, wonach es für die Legitimität eines politischen Systems völlig ausreiche, wenn sich nur eine Minderheit der Bevölkerung dafür interessiere zu viel Interesse deute sogar auf gefährliche Polarisierung der politischen Lager hin. Seither stellt das Eurobarometer brav die eine wichtige Frage: Finden Sie, dass Europa eine wichtige Sache ist? Doch nun ist die aus den Eurobarometer-Antworten hervorgehende Unterstützung für die EU noch rasanter als die Beteiligung an den EU-Wahlen gesunken. Derzeit liegt sie nur noch bei unter 30 Prozent. Klar, dass sich da auch Parlamentspräsident Pöttering Sorgen macht. Doch vielleicht stuft er das politische Organ, in dem er sitzt, auch als etwas zu wichtig ein: Im vergangenen Jahr verabschiedete die EU 1809 Regelsetzungen; doch bei lediglich 538 von ihnen wurde das Parlament überhaupt angehört, bei 181 durfte das Parlament Einspruche erheben (worauf sich der Ministerrat und die Kommission nochmals mit der Vorlage befassen mussten) und nur gerade eine Kommissionsvorlage brauchte unbedingt die Zustimmung des Parlaments, um wirksam zu werden. Vielleicht wissen die Nichtwähler sehr wohl, was sie tun. WoZ, 4. Juni 2009, S. 10