Ungewohnt EU-kritisches hört man von Georg Kreis. In einem Artikel in der NZZ betont er die koloniale Vergangenheit der EU-Gründungsmitglieder. Vier der sechst Vertragspartner waren 1957 noch Kolonialmächte: Frankreich hatte seine Hand noch fest auf Teilen Schwarzafrikas und führte zu jener Zeit in Algerien einen Krieg. In Belgien, das «sein» Kongo 1960 innert Wochen fallenlassen sollte, diskutierten 1957 die progressivsten Kräfte einzig darüber, wie man binnen 30 Jahren die Kolonie in die Unabhängigkeit entlassen könnte. Die Niederländer waren zwar zum eigenen Kolonialreich und zur Kolonialpolitik anderer bereits auf Distanz gegangen, sie sassen aber immer noch in Teilen Indonesiens und in den Antillen, in Neu-Guinea und in Surinam. Italien war noch für Teile Somalias zuständig und agierte für seine ehemalige Kolonie Libyen; allerdings musste es auch an die Entwicklungsprobleme seines Mezzogiorno denken. Einzig Deutschland und Luxemburg hat- ten keine Kolonialinteressen formeller Art.
Die Kolonien, seit dem Krieg verharmlosend vor allem als Überseegebiete bezeichnet, wurden auf Betreiben Frankreichs und Belgiens in die Verhandlungen einbezogen. Dies geschah auffallend spät. In der wichtigen Vorkonferenz von Messina vom Juni 1955 war noch keine Rede davon. Erst im November 1956 machte Frankreich das Verhältnis zu den Kolonien zum Verhandlungsgegenstand. Wenige Wochen vor Vertragsunterzeichnung kam es diesbezüglich zu einer Einigung, nachdem Frankreich das ganze Vertragswerk davon abhängig gemacht hatte.
Die Bundesrepublik Deutschland und die Niederlande wehrten sich am heftigsten gegen Frankreichs Ansinnen und befürchteten, zu Komplizen eines überholten Kolonialismus gemacht zu werden. In Bonn kam noch die spezielle Befürchtung hinzu, deswegen in der Dritten Welt schlechter dazustehen als die konkurrierende DDR. NZZ, 7. März, S. 2007