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Kurzinfos März 2016

Wahrsagerei: Bilaterale Verträge sollen viel wert sein

Der Wert der Bilateralen ist umstritten, doch eines ist sicher: Die Schweiz hatte die ausgeprägte Wachstumsschwäche der neunziger Jahre ungefähr dann überwunden, als sie das bilaterale Vertragspaket mit der EU eingeführt hatte – andere würden sagen, als die Nationalbank ihre Geldpolitik änderte. Von der Finanzkrise erholte sie sich deutlich schneller und besser als die umliegenden Länder. Gleichzeitig nahm jedoch die Nettozuwanderung relativ stark zu. War das Ganze also womöglich nur ein Wachstum in die Breite, von dem die bisher Ansässigen vor allem die Kosten und Nachteile hatten, wie Kritiker der Bilateralen gerne wieder behaupten ?

Unter den Titel « Ein unverzerrter Blick auf das Wachstum in der Schweiz » hat Economiesuisse, der Dachverband der Schweizer Wirtschaft, eine ökonomische Studie gestellt, die die Diskussion in neuem Licht erscheinen lässt. Darin zeigen die Autoren unter Leitung von Chefökonom Rudolf Minsch, dass ein oberflächlicher Blick auf die Entwicklung der Wirtschaftsleistung (BIP) pro Kopf tatsächlich den Schluss nahelegen kann, der einzelne Schweizer habe von den bilateralen Verträgen mit der EU in letzter Zeit kaum mehr profitiert. Denn seit 2008 hat sich das BIP pro Kopf (im Gegensatz zur gesamten Wirtschaftsleistung) nurmehr sehr leicht erhöht.

Die von verschiedenen Schweizer Professoren begleitete neue Studie versucht nun zu zeigen, dass die schwächere Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahre auf die Wirtschaftskrise in den Hauptabsatzländern und die Erstarkung des Frankens zurückzuführen ist. Ohne die bilateralen Verträge wäre es der Schweiz deutlich schlechter ergangen. Dies versucht man mit einem spekulativen ökonometrischen Modell und Quartalsdaten seit 1992 nachzuweisen. Die Schätzung erklärt Veränderungen des BIP pro Kopf mit der Konjunkturentwicklung in den Ländern der wichtigsten Handelspartner, der Entwicklung des realen Wechselkurses und den Investitionskosten (gemessen am Zinsniveau). Als weniger wichtig erweist sich der Erdölpreis. Die «hausgemachte» Krise der neunziger Jahre führte dazu, dass die positive Konjunktur bei den Handelspartnern damals weniger auf das Wachstum in der Schweiz durchschlug. Die Einführung der Bilateralen hingegen erweise sich durchwegs als etwas, das den Pro-Kopf-Wohlstand in der Schweiz signifikant erhöht habe.

Simuliere man mit dem Modell, wie sich das BIP pro Kopf ohne den durch die Bilateralen ausgelösten Wachstumsschub entwickelt hätte, so resultiert ein im Mittel um 4400 Franken oder um spekulative 5,7 Prozent geringeres Pro-Kopf-Einkommen für 2015. Es ist fragwürdig, ob sich die Ökonomen mit solchen Studien wissenschaftliche Ehre antun. NZZ, 16. März 2016, S. 1



Quellenbesteuerung von Ausländern: EU-Vertrag erzwingt Steuerreform

Seit dem Volks-Ja vom Februar 2014 zur Einwanderungsinitiative ist das Abkommen Schweiz - EU zur Personenfreizügigkeit infrage gestellt. Das hindert Bundesrat und Parlament aber nicht daran, eine Quellensteuer-Revision durchzuziehen, die dem Abkommen zur Personenfreizügigkeit entsprungen ist. Laut einem Urteil des Bundesgerichts von 2010 verstossen die geltenden Regeln bei nichtansässigen Quellensteuerpflichtigen in gewissen Fällen wegen unzulässiger Diskriminierung gegen das Freizügigkeitsabkommen.

Im Grundsatz ist die vom Bundesrat ausgearbeitete Reformvorlage nicht einmal mehr von der SVP bestritten. Die SVP zog ihren Antrag zur Sistierung der Vorlage vor Beginn der Debatte zurück. Die beiden deklarierten Gründe für den früheren Sistierungsantrag (Unsicherheit über das Grenzgängerabkommen Schweiz - Italien und über das Abkommen mit der EU zur Personenfreizügigkeit) haben sich laut dem Zuger SVP-Nationalrat Thomas Aeschi entschärft. In der Grenzgängerfrage habe es eine Einigung zwischen Bern und Rom gegeben, und seit dem 5. März 2016 Freitag liege die Botschaft des Bundesrats zur Umsetzung der Einwanderungsinitiative vor. Die Zukunft des Freizügigkeitsabkommens bleibt aber völlig offen. Diese Ungewissheit könne noch lange dauern, sagt Aeschi. Im Interesse der Rechtssicherheit sei die Quellenbesteuerung nun durchzuberaten.

Derzeit werden rund 760 000 unselbständig Erwerbstätige ohne Schweizer Niederlassungsbewilligung an der Quelle besteuert. Davon haben etwa 490 000 den steuerrechtlichen Wohnsitz in der Schweiz (Ansässige), 270 000 sind Nichtansässige (namentlich Grenzgänger und Wochenaufenthalter). Die Revisionsvorlage hat drei Kernpunkte. Erstens soll künftig allen ansässigen Quellensteuerpflichtigen die ordentliche Besteuerung offenstehen – und nicht nur wie bisher jenen 9 Prozent der Pflichtigen mit Bruttoerwerbseinkommen über 120 000 Franken. Zweitens soll bei ansässigen Quellensteuerpflichtigen ab einem gewissen Einkommen (voraussichtlich 120 000 Franken) die nachträgliche ordentliche Besteuerung nicht mehr nur eine Option sein, sondern Pflicht. Und drittens sollen alle nichtansässigen Quellensteuerpflichtigen, die den Grossteil ihrer Einkünfte in der Schweiz erwirtschaften (im Gespräch ist ein Schwellenwert von 90 Prozent), künftig ebenfalls die Möglichkeit einer ordentlichen Besteuerung haben. Im Gegenzug entfällt die Möglichkeit nichtansässiger Quellenbesteuerter zu nachträglichen Berechnungskorrekturen. Diese Änderungen sollen die Benachteiligung gewisser Quellenbesteuerter (etwa weil Pauschalabzüge die Realität nicht richtig abbilden) beenden.

Im Nationalrat waren am Dienstag die Kernpunkte wenig umstritten. Kontroversen gab es allerdings in einigen «Nebenpunkten». Besonders pikant war ein Antrag der vorberatenden Kommission, den Kantonen die Spielräume für die Festlegung der Gemeindesteuerfüsse für Quellenbesteuerte wegzunehmen. Dieser Antrag war eine «Lex Tessin», hatte das Tessin doch beschlossen, italienische Quellenbesteuerte mit höherem Steuerfuss zu belasten als ordentlich Besteuerte – was Kritik aus Rom bezüglich Diskriminierung auslöste.

Finanzminister Ueli Maurer räumte ein, dass der Tessiner Weg dem ausgehandelten Grenzgängerabkommen Schweiz - Italien widerspreche. Der Bundesrat sei trotzdem gegen den Antrag der Kommission, weil man den Föderalismus respektieren und mit dem Tessin eine einvernehmliche Lösung finden solle. Dennoch fand der Antrag mit 114 zu 70 Stimmen eine deutliche Mehrheit, obwohl 7 der 8 Tessiner Nationalräte dagegen stimmten.

Bleibt es bei diesem Entscheid, wird das Tessin bei der Grenzgängerbesteuerung zurückkrebsen müssen. Die Vorlage geht nun allerdings in den Ständerat, wo die Verteidigung des Föderalismus eine grössere Rolle spielen dürfte. NZZ, 9. März 2016, S. 14


Sakrale Worte im politischen Diskurs: Was genau ist der «Rechtsstaat»?

Die vergangene Auseinandersetzung um die Durchsetzungsinitiative hat hohe Wellen geschlagen. Jede erdenkliche Gruppe fühlte sich bemüssigt, einen Aufruf zu erlassen und auf die heraufziehenden Gefahren hinzuweisen. Künstler, Bischöfe, Sozialtherapeuten, Rechtsprofessoren und viele dazu Gedrängte haben «den» Rechtsstaat beschworen. Was steckt hinter dieser geradezu religiös-bekenntnishaften Anrufung?

Seit den 1980er Jahren ist das Phänomen erkennbar, eine kontroverse Diskussion über Sachfragen durch einen Rekurs auf letzte Werte abzuschneiden. Aus den letzten Werten sollen die politisch-rechtlichen Fragen durch Deduktion aus einem Grundwert entschieden werden. Es ist klar, dass die Lage desjenigen Akteurs, der keine solchen Werte in Anspruch nimmt oder ihnen sogar widerspricht, prekär werden kann.

Erinnert man sich weiter zurück, so fallen als solche «Hochwertwörter» die Ausdrücke «die» Menschenrechte, «die» Menschenwürde, «die» Gewaltenteilung oder «die» Nachhaltigkeit in Betracht. Der den Nomina vorangestellte bestimmte Artikel soll Geltung und unbestrittene Eindeutigkeit suggerieren. Daraus lassen sich die einzig richtigen Lösungen für politische Probleme deduzieren. Diese Ableitungen sind zwar in Wirklichkeit nicht eindeutig, wer aber zuerst seine Lösung mit dem Hochwertwort garnieren kann, der ist in der Diskussion im Vorteil. Denn seine Lösung ist die richtige, die sich durchsetzen muss. Alles andere widerspricht der öffentlichen Moral.

Im politischen Gebrauch werden die erwähnten Hochwertwörter allerdings eher selten für wirklich grundlegende und wegweisende Fragen angerufen, vielmehr dienen sie dazu, nahezu beliebige Anliegen zu verstärken. In der alltäglichen politischen Praxis sind es Versuche, mit der argumentativen Brechstange einseitige Anliegen durchzudrücken. Es gibt verschiedene Gründe für den Einsatz solcher Hochwertwörter als politische Argumente.

Erstens können sie nur deshalb auf alles und jedes angewandt werden, weil ihr normativer Gehalt gering ist. Das zeigt sich beim Hochwertwort «Rechtsstaat». Im Fall der Durchsetzungsinitiative sollte «der» Rechtsstaat die unbarmherzige, eben unverhältnismässige Härte gegen Kriminelle, auch gegen solche, die nur einen Apfel vom Baum stehlen, brechen. Umgekehrt berief sich Bundeskanzlerin Merkel nach den Vorgängen von Köln ebenfalls auf «den» Rechtsstaat, der mit «der ganzen Härte» reagieren werde. Ist der Rechtsstaat nun nachsichtig-weich oder hart? Der Ausdruck lässt sich für nahezu beliebige Aussagen verwenden. Der bestimmte Artikel «der» dient der Täuschung. Politische Fragen werden mit der Berufung auf den Rechtsstaat untermauert, obwohl daraus fast nichts folgt, ausser dass der Gebrauch eines hoch angesehenen Wortes allein schon für die Gewichtigkeit des Arguments bürgt.

Zweitens entzieht der Rekurs auf Hochwertwörter die vertretene Meinung der gewöhnlichen politischen Diskussion und stellt sie auf die höchste Ebene, wo selbstverständlich keine gewöhnlichen Staatsbürger tätig sein können. Hier amtet vielmehr eine theologisch-philosophische Expertokratie, nämlich die theologisch und philosophisch arbeitenden Juristen und juristisch arbeitenden Philosophen oder Theologen.

Entscheidend ist, dass die Hochwertwörter gar nicht inhaltlich verwendet werden, sondern diskussionsstrategisch und argumentativ. Dabei setzen sich die Votanten nie mit «dem» Rechtsstaat oder «der» Gewaltenteilung auseinander, sondern sie benützen den Begriff bloss, um die Gegner ihres Anliegens zu beschmutzen. Denn wer gegen die heiligen Begriffe ist, der kann kein guter Mensch sein. Dieses Verfahren kann man daher als «Sakralisierung» (von lat. «sacer»: heilig) bezeichnen.

Damit ist eine ungünstige Folge der Verfahrensweise der Sakralisierung in der Politik schon angesprochen. Wer einem heiligen Wort widerspricht, der wird stigmatisiert, denn eine solche Person begeht ein Sakrileg und ist aus der Gemeinschaft auszuschliessen.

Die mit Hochwertwörtern arbeitenden Akteure in Staatsrecht und Politik unterstellen stillschweigend jeder widersprechenden Person eine verwerfliche Haltung: Diese gerät in die Nähe einer Person, die Unmenschliches anstrebt. Nicht selten fällt der Schatten Hitlers auf die Widersprechenden. Es ist kein Zufall, dass die Sakralisierung vornehmlich in den deutschsprachigen Ländern geübt wird. Der Einsatz sakraler Begriffe macht aus jedem politischen Alltagsproblem ein Grundsatzproblem, an dem sich Gut und Böse scheiden.

Es ist klar, dass die juristischen und politischen Debatten dadurch verschärft werden, da sie die Gegner und ihre Anliegen verteufeln. Umgekehrt wertet die inflationäre und beliebige Anrufung von «Rechtsstaat», «Menschenwürde» usw. diese komplexen Konzepte ab: Sie werden beschädigt und entwertet. Andreas Kley (Professor für öffentliches Recht, Verfassungsgeschichte sowie Staats- und REchtspohilosopohi an der Universität Zürich) in der NZZ vom 12. März 2016


Ende der Posse: „Rückzug“ des inexistenten EU-Beitritts-Gesuchs

Am 20. Mai 1992, wenige Monate vor der EWR-Abstimmung, hatte der Bundesrat in Brüssel ein Gesuch um die Aufnahme von Verhandlungen für einen Beitritt zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) deponiert. Dieses Gesuch, das nach dem Verzicht auf die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen hinfällig geworden war, soll der Bundesrat nun zurückziehen. Der Nationalrat stimmte am 1. März 2016 einem entsprechenden Vorstoss der SVP zu. Der Entscheid fiel deutlich mit 126 zu 46 Stimmen bei 18 Enthaltungen. Praktisch geschlossen dagegen war nur die SP. Ein Stimmungswandel hat bei CVP und FDP stattgefunden, die frühere Vorstösse mit diesem Ziel noch abgelehnt hatten. In diesen Fraktionen schätzt man den aussenpolitischen Preis eines Rückzugs inzwischen viel geringer ein als früher. Zudem bieten die beiden Parteien damit der SVP weniger Angriffsfläche. Die SVP konnte bis jetzt FDP und CVP unterstellen, dass sie dem Fernziel des EU-Beitritts doch nicht ganz abgeschworen hätten.

Der „Rückzug“ ist juristisch bedeutungslos. Letztes Jahr stimmte das Parlament – vom Bundesrat unterstützt – einem Vorstoss zu, der das inexistente Gesuch offiziell für «gegenstandslos» erklärte. Die Schweiz sei für die EU kein Beitrittskandidat, sagte Aussenminister Didier Burkhalter im Nationalrat. Der Bundesrat erachtet den Vorstoss aus formellen Gründen als unnötig, weil er den Rückzug von etwas verlangt, was gar nicht mehr existiere. Burkhalter liess indes durchblicken, dass er auch mit einem Ja zur Motion leben könne. Damit der Vorstoss umgesetzt wird, ist noch die Zustimmung des Ständerats notwendig. FDP-Ständerätin Karin Keller-Sutter rechnet damit, dass das Anliegen von den FDP-Ständeräten mehrheitlich unterstützt wird. «Mit dem Rückzug können wir klar demonstrieren, dass wir gegen einen EU-Beitritt sind.» Diese Haltung ist auch bei den CVP-Ständeräten verbreitet. Den Rückzug des inexistenten Gesuchs wird der Bundesrat EU-Kommission und Präsidentschaft in einem Brief mitteilen, wie es im Aussendepartement heisst. Die Formulierung sei Sache der Regierung. NZZ, 2. März 2016, S. 1.


EZB lanciert grosses Massnahmenpaket

Der unter Führung Draghis agierende Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) hat am 10. März 2016 ein ganzes Bündel an Massnahmen lanciert, um zu versuchen, Inflation und Wachstum in die gewünschte Richtung zu zwingen. Das Paket würde Synergien zwischen den einzelnen Instrumenten nutzen und sei geschnürt worden, um die Finanzierungsbedingungen in der Euro-Zone zu verbessern, die Kreditvergabe zu stimulieren sowie eben Wachstum und Inflation zu erhöhen.

Die EZB senkt den negativen Einlagensatz um weitere 10 Basispunkte von –0,3% auf –0,4%. Zudem stockt sie das bis März 2017 laufende monatliche Anleihekaufprogramm um 20 Mrd. auf 80 Mrd. € auf. Falls nötig, soll das Programm auch noch länger als ein Jahr laufen – im Zweifel so lange, bis sich eine nachhaltige mittelfristige Inflation von dicht bei, aber unter 2% eingestellt hat. Neu will die Notenbank dabei auch Bonds mit guter Bonität von Unternehmen des Euro-Gebiets kaufen, sofern diese nicht zum Bankensektor gehören. Ferner lanciert die EZB im Juni eine Serie von vier langfristigen Refinanzierungsoperationen (TLTRO II) für Banken mit einer Laufzeit von jeweils vier Jahren. Last, but not least senkt sie den Leitzins um kosmetische 5 Basispunkte auf erstmals 0% und den Spitzenrefinanzierungssatz um ebenfalls 5 Punkte auf 0,25%. Der Rat erwartet, dass die Zinssätze für eine längere Zeit auf diesem Niveau oder tiefer bleiben werden.

Mit dem neuerlichen Portfolio an Massnahmen will Draghi zusammen mit einer nach seinen Worten «überwältigenden Mehrheit» im EZB-Rat offenbar beweisen, dass den Notenbankern der Euro-Zone die geldpolitischen Mittel noch lange nicht ausgehen. Immer häufiger war jüngst die Meinung zu hören, dass Zentralbanken mit ihren Eingriffen an Grenzen stiessen. Obwohl die EZB diesem Eindruck nun mit Wucht entgegentreten will, steigen bei vielen Kennern die Zweifel an der Wirksamkeit der Massnahmen.

Das gilt offenbar auch für die Teilnehmer der Finanzmärkte. Erst im Dezember hatte die Notenbank ihr Anleihekaufprogramm ausgeweitet und die Laufzeit bis März 2017 verlängert. Danach machte sich an den Märkten aber schlagartig Enttäuschung breit, und die Aktienkurse fielen, da die Börsianer mit mehr gerechnet hatten. Diesmal waren sie zufrieden, aber nur kurzzeitig. Viele Aktienindizes in Europa schnellten unmittelbar nach dem Entscheid um 2% bis 3% nach oben, fielen später aber in sich zusammen und beendeten den Handelstag mit 1% bis 2% im Minus. Der Euro büsste zuerst über 1% an Wert zum Dollar ein, kletterte später jedoch um 1,7% auf $ 1.117.

Besonders umstritten sind die Negativzinsen, denn sie zehren an der Profitabilität der europäischen Banken und können mittel- bis langfristig gar zu Solvenzproblem führen. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) wies Anfang März darauf hin, dass Negativzinsen nicht die erhoffte Wirkung erzielt hätten und es sehr unsicher sei, wie sich eine weitere Senkung der negativen Sätze auswirken würde.

Dies sieht Draghi offenbar anders. Auf aggregierter Basis schadeten sie dem Bankensystem bis jetzt nicht, sagt der EZB-Präsident sinngemäss. Marktteilnehmer sehen sie aber zunehmend kritisch, da sie zu neuen Risiken für den Kreditzyklus und neuerlichen Sorgen über Deflation beitrügen. Die Kosten der Überschussreserven drückten auf die Gewinne, die kurzfristige Kreditvergabe sei nicht mehr profitabel und die flache Zinskurve schmälere die Margen, heisst es. Laut einer Analyse der Bank Pictet setzte der Kurszerfall am Aktienmarkt in den vergangenen Monaten in Europa und Japan ein, als die Zinssätze ins Negative rutschten.

Für Anleger glichen die Aktionen der EZB zunehmend einer gewollten Besteuerung durch die Zentralbank, urteilt die Fondsgesellschaft Union Investment. Institutionelle Anleger wie Versicherungen, Bauspar- und Pensionskassen könnten den negativen Zinsen und Renditen kaum noch ausweichen. Aus regulatorischen Gründen müssen sie primär in Anleihen mit guter Bonität anlegen. NZZ, 11. März 2016, S. 25


Die EU und die Flüchtlingskrise

Besseren und unparteiischen Journalismus verspricht die Website der Tageszeitung «Zaman» seit 5. März 2016. Wie dieser aussieht, führte sie den Lesern in der ersten Ausgabe seit der Übernahme der Redaktion durch staatliche Zwangsverwalter am darauffolgenden Tag vor. Statt mit beissender Kritik an der Regierung war das Blatt mit einer gefälligen Geschichte über die Fertigstellung der dritten Bosporus-Brücke aufgemacht. Daneben eine Foto von einem strahlenden Recep Tayyip Erdogan, der den Bau gegen alle Widerstände durchgeboxt hat.

Am Vortag (Freitag) hatte ein Gericht die staatliche Übernahme der Feza-Mediengruppe angeordnet, die zum Imperium des in Amerika lebenden Geistlichen Fethullah Gülen zählt. In der Nacht auf Samstag stürmte die Polizei die Redaktionsräume von «Zaman», die Zwangsverwalter schassten kurzerhand den Chefredaktor und einen bekannten Kolumnisten und übernahmen die redaktionelle Regie. Hunderte von Demonstranten, die dagegen protestierten, deckte die Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen ein.

Menschenrechts- und Medienorganisationen, Vertreter der EU und die amerikanische Regierung haben das Vorgehen teilweise scharf verurteilt. Doch die Regierung scheint das nicht zu kümmern. Regierungsnahe Blätter machen seit dem Wochenende offen Stimmung für die Zerschlagung der wenigen Medien, die noch nicht das Hohelied auf Präsident Erdogan singen. Türkische Journalisten sprechen von der dunkelsten Zeit in der Geschichte des Landes.

Aber nicht nur das. Am Sonntag kündigte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu an, die Aufhebung der Immunität von fünf Abgeordneten der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) ins Parlament zu bringen, unter ihnen der Mitvorsitzende Selahattin Demirtas. Erdogan fordert dies seit längerem. Bisher ist seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) vor diesem drastischen Schritt zurückgeschreckt, der nicht nur ein schwerer Schlag gegen die Demokratie wäre, sondern ziemlich sicher auch den kurdischen Konflikt weiter anheizen würde. Die HDP, mit 80 Abgeordneten derzeit drittstärkste Fraktion im Parlament, tritt selbst für eine Einschränkung der Immunität aller Abgeordneten ein, wie Demirtas am Sonntag im Gespräch mit ausländischen Journalisten bekräftigte. Doch müsse ihr Recht auf freie Rede geschützt bleiben, sagte Demirtas. Genau darauf zielt freilich Davutoglu ab. Die Verunglimpfung des Ansehens der Türkei als demokratischer Rechtsstaat könne nicht hingenommen werden, sagte der Regierungschef.

Ein funktionierender Rechtsstaat ist die Türkei heute allenfalls noch auf dem Papier. Sukzessive hat die Regierung sämtliche Errungenschaften, die Erdogan in den Anfangsjahren der AKP-Regierungen auf den Weg gebracht hat, wieder ausgehebelt. Erdogan strebt nach einer Verfassung, die ihn faktisch zum Alleinherrscher machen würde. Und wer ihm dabei im Weg steht, bekommt die harte Hand des Staates zu spüren. Das gilt für die Gülen-Bewegung, die ihm einst zur Macht verhalf und mit der er sich vor gut zwei Jahren überwarf, aber auch für die Kurden und den kleinen Kreis liberaler Kritiker.

Die Gülen-Bewegung gilt heute genauso als Terrororganisation wie die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Systematisch macht sich die Regierung an die Zerschlagung von Unternehmen aus dem Gülen-Umfeld. Dabei nahm die Polizei am Wochenende einen bekannten Geschäftsmann fest. Hunderte von Staatsanwälten und Richtern wurden wegen angeblicher Gülen-Sympathien strafversetzt. Nur das Verfassungsgericht ist heute noch unabhängig. Nach der kürzlichen Freilassung von zwei bekannten Journalisten erklärte Erdogan jedoch, dass er das Gericht nicht respektiere. Sollten sich die Berichte in der Erdogan-nahen Presse bestätigen, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Regierung auch diese letzte Bastion schleift. Der Konflikt mit der PKK hat den kurdischen Südosten des Landes derweil in einen Bürgerkrieg gestürzt. Sowohl die PKK wie die Regierung drohen mit einer weiteren Eskalation.

Hartnäckig scheint die EU davor die Augen zu verschliessen, um das Abkommen über die Flüchtlinge nicht zu gefährden. Erdogan benutze die Flüchtlinge, um die EU-Europäer zu erpressen, sagt Demirtas. Die EU-Europäer müssten endlich aufwachen und Druck auf Ankara ausüben, fordert er. «Die EU führt mit der Türkei Beitrittsverhandlungen, insofern ist alles, was hier passiert, kein rein innenpolitisches Problem», sagt er. «Die EU darf nicht länger vor ihrer Verantwortung davonlaufen.» NZZ, 7. März 2016, S. 3


Richter bezweifeln Legalität von I nvestitionsgericht

Der Deutsche Richterbund (DRB) hat sich Anfang Februar 2016 kritisch zu den Plänen von EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström geäußert. Diese möchte im Zuge des Transatlantischen Freihandelsabkommens TTIP ein öffentliches Investitionsgericht (ICS) einführen, um ausländischen Investoren besondere Klagemöglichkeiten gegen Staaten einzuräumen. Die RichterInnen kritisieren die Rechtsgrundlage von Malmströms Vorschlag. Der DRB hebt hervor, dass die Annahme, die Gerichte der EU-Mitgliedstaaten könnten ausländischen Investoren keinen effektiven Rechtsschutz gewähren, sachlicher Feststellungen entbehre. Sollten sich Schwächen ergeben, so müssten diesen im bewährten System des nationalen und europäischen Rechtsschutzes Abhilfe geschaffen werden. Darüber hinaus zweifelt der Richterbund an der Kompetenz der EU hinsichtlich der Einsetzung eines internationalen Investitionsgerichtes. Ein solches würde die Rechtsetzungsbefugnis der Union und der Mitgliedstaaten einschränken und dadurch auch das etablierte Gerichtssystem innerhalb der Mitgliedstaaten verändern. Die RichterInnen beziehen sich außerdem auf das schon 2011 erlassene Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zur Einführung eines Europäischen Patentgerichts. Mit Blick auf den institutionellen Rahmen der EU und die neue Rechtspersönlichkeit hatte der EuGH die Einführung eines solchen Gerichtes abgelehnt. Der dritte Aspekt, den der DRB kritisch beurteilt, ist das Verfahren zur Ernennung der RichterIinnen sowie deren zu erwartende Stellung. Beides genüge nicht den internationalen Anforderungen an die Unabhängigkeit von Gerichten: ,,Das ICS erscheint vor diesem Hintergrund nicht als internationales Gericht, sondern vielmehr als ständiges Schiedsgericht." Als einflussreicher Interessenverbund der deutschen RichterIinnen ist die öffentliche Stellungnahme des DRB ein klares Signal an Handelskommissarin Malmström, die bisherige Herangehensweise an das umstrittene Thema der internationalen Schiedsgerichte zu überdenken. umwelt aktuell, März 2016, S. 28, www.drb.de/cms/index.php?id=952 labl


Plan A, B, C und die Verteidigung der Mindestsicherung

Als im Sommer 2015 die eurolinken Phantasmagorien über eine sozialere und demokratischere EU, oder auch nur ein Ende der Austerität, nach dem griechischen Referendum zusammenkrachten, konnten wir hoffen, dass das linke komödiantische Treiben rund um das goldene Kalb EU ein Ende nimmt. Immerhin wurde in einem Aufruf von „Europa neu begründen“ bereits nach dem Wahlsieg Syrizas im Jänner 2015 artikuliert: eine Neuorientierung der EU ist nur nach einem Ausscheiden aus der Währungsunion möglich und „die europäischen Institutionen werden für unvereinbar mit demokratischen Entscheidungen in den Mitgliedsländern erklärt.“1)

Doch dann kam der 9.2.2016. Der gescheiterte griechische Finanzminister Gianis Varoufakis verkündet in Berlin mit Mitstreitern aus 12 Ländern das „Democracy in Europe Movement 25“ (DiEM25). Es ist müßig, darüber zu spekulieren, woher das Gold stammt, das da nunmehr in ein neues Kalb gegossen wurde. Jede Menge klingende Namen, Toni Negri, James Galbraith, Srecko Horvat, sind da versammelt; aus Österreich ProponentInnen der „Europa anders“ Kandidatur, die 2014 mit einem Volksbegehren zum Angriff auf die letzten Reste genossenschaftlichen und kommunalen Bankwesens zugunsten der europäischen Finanzindustrie bliesen. Das Manifest selbst wurde, wie es sich für ein EU-Dokument gehört, in Hinterzimmern gekleistert, und so moniert der grüne EU-Abgeordnete Sven Giegold, dass nicht klar sei, wer eigentlich „die vielen Änderungen in den verschiedenen Versionen des Manifests verlangt und wer entschieden hat…“2) Von Austerität, Massenarbeitslosigkeit und Eurokrise ist keine Rede mehr. Stattdessen fordert man live-streams von den EU-Ratssitzungen und vor allem eine verfassungsgebende Versammlung. Martin Höpner, Sozialwissenschafter am Max-Planck-Institut, erklärt in einem hellsichtigen Blogeintrag den Zusammenhang von Demokratie und Euroregime: „Vor diesem Hintergrund ist es nur höchst konsequent, Verfahren zu errichten, die zum Ziel haben, das Fehlen transnationaler Lohnkoordination zu kompensieren, ja die Tarifautonomie der Sozialpartner in letzter Konsequenz zu brechen. Das ist der Preis des Euro….. Wenn der Euro denn verteidigt werden soll, seine Bestandsvoraussetzungen aber eklatant verletzt werden, solange die Euro-Teilnehmer Demokratien sind – dann ist es nur höchst konsequent, die Freiheitsgrade der Demokratien durch technokratische Interventionen immer weiter einzuschränken, bis hin zur faktischen Vollsuspendierung demokratischer Verhältnisse in den Krisenländern.“ 3)

Bereits bei den Auseinandersetzungen um den EU-Reformvertrag und den EU-Fiskalpakt gab es von eurolinker Seite den Versuch, die nationalen Demokratien auszuhebeln, indem man eine europaweite Volksabstimmung forderte. Im österreichischen Fall ist es jedoch geradezu eine hintervotzige Art von NS-Wiederbetätigung, wenn man fordert 80 Millionen Deutsche mögen über die immerwährende Neutralität abstimmen, und so beließ man diese Phantasien in rechtlichen Grauzonen. Es ging mehr um die Hoffnung auf ein eurochauvinistisches Erweckungserlebnis, dessen Sog skeptische Kräfte in einzelnen Ländern hinwegspülen würde, wenn eine derartige Volksabstimmung in allen Ländern am gleichen Tag durchgeführt werde. Doch diese Hoffnung wurde bereits 1999 enttäuscht. Damals sprach der deutsche Kanzler Schröder anläßlich des Beginns der Bombardierung Jugoslawiens von einem "europäische(n) Gründungsakt, der wie so oft nicht im Jubel, sondern im Schmerz" geschehe.

DiEM25 geht da einen Schritt weiter. Von Volksabstimmungen, ob national oder EU-weit, ist überhaupt keine Rede mehr. Die verfassungsgebende Versammlung selbst „wird die Befugnis haben, über eine künftige demokratische Verfassung zu entscheiden, die innerhalb eine Jahrzehnts die bestehenden europäischen Verträge ersetzen wird.“4) Man/frau traut seinen Augen nicht. In einem von Strippenziehern im Hintergrund erstellten Manifest wird ein europaweiter Verfassungsputsch gefordert und als demokratische Erneuerung verkauft. Was, wenn sich da im Ergebnis dann doch einzelne europäische Nationen verweigern? Wie geht man dann gegen diese vor? Genügt dann noch eine Troika mit ihren Memoranden oder benötigt man dann doch schon härtere Mittel? Wir müssten alarmiert sein, wäre das gesamte Manifest und seine ProtagonistInnen nicht so lächerlich. Martin Höpner bringt es auf den Punkt, wenn er in einem facebook-Eintrag schreibt: „Was von DiEM25 bleiben wird … sind Forderungen nach Livestreams von Sitzungen des Rats und ähnlicher Unfug.“

DiEM25 eigentlicher Zweck: ein Begräbnis für Plan B

Der eigentliche Zweck der Krawallveranstaltung in Berlin war, einer ernsthaften Initiative, die sich im Herbst 2015 rund um Oskar Lafontaine, Luc Melenchon, Stefano Fassina, u. a. herausgebildet hat, der so genannten „Plan B Initiative“ den Boden unter den Füssen zu entziehen. „Neben den südlichen Krisenländern durchlaufen auch Italien und Frankreich einen rasanten Prozess der Deindustrialisierung. …Wir müssen uns der Einsicht stellen, dass eine progressive Rettung des Euros keine Chance auf Verwirklichung hat…Aus diesem Grund müssen wir den Euro selbst zur Disposition stellen… Der Übergang in ein anpassungsfähiges Wechselkurssystem würde die Wechselkurse von den erratischen Ausschlägen der Finanzmärkte schützen, seinen Teilnehmern aber gleichzeitig die Möglichkeit von Auf- und Abwertungen eröffnen und eine auf die jeweiligen Problemlagen passende Geldpolitik erlauben.“5), heißt es im Aufruf vom Herbst 2015. Martin Höpner sieht vier Gründe, die für ein erneuertes Europäisches Währungssystem sprechen, wobei der Titel seines Beitrags gewisse Selbstzweifel offen anspricht.6) Zum Ersten: das EWS existiert bereits, findet aber zur Zeit nur im Verhältnis von Euro und dänischer Krone Anwendung. Zum Zweiten: die Wirkungen der Wechselkursanpassungen lassen sich, entgegen neoliberaler Märchenerzählungen überprüfen. Zum Dritten, setzt sich damit die Plan B – Initiative deutlich von neoliberaler Eurokritik ab, die einzig im freien Spiel der Marktkräfte auf den Finanzmärkten, das Heil sucht. Zum Vierten wäre es kein Zurück in die „nationale Wagenburg“.

Bei Drittens und Viertens geht es um entscheidende ideologische Fragen, die einer eingehenden Untersuchung bedürfen. Skepsis ist auch bezüglich Erstens und Zweitens angebracht. So kommt Klaus Dräger, auch in Reflexion der Erfahrungen der ersten Regierung Mitterand im Frankreich der frühen 80er Jahre zum Resumee: „Insofern: ein erneuertes EWS propagieren – ja. Aber reale und absehbare weitere Krisenentwicklungen könnten auch dazu führen, dass vor allem von Linksbündnissen geführte EU-Länder daraus ausscheren müssten. Sofern sie ihr Programm umsetzen wollten, mit dem sie demokratische Wahlen gewannen.“7) Aber das weiß auch Martin Höpner, wenn er zum Schluss kommt: „Andererseits waren, sind und bleiben die europäischen Produktions- und Verteilungsregime samt ihrer Inflationsdynamiken zu heterogen, als dass diese Stabilisierung friktionslos und vor allem dauerhaft gelingen könnte.“8 ) Der Nutzen der Plan B-Initiative ist m E. ein politischer. Ein erneuertes EWS ist ein geeignetes Verhandlungsinstrument in den Händen entschlossener emanzipativer Kräfte. Die Betonung liegt hier auf dem Adjektiv „entschlossen“. Es bedeutet nichts weniger als die Bereitschaft, mit dem Euroregime zu brechen, auch wenn der Verhandlungsgegner nicht bereit ist, auf die Ausgestaltung eines EWS einzusteigen. Das berührt auch die Frage eines Austritts aus der EU. Natürlich ist die Frage berechtigt, wie so etwas durchgeführt werden soll. Weder die Einführung eines EWS noch der EU-Austritt können jedoch im Sinne eines Fahrplans autonom definiert werden. Sie können das Ergebnis härtester Konfrontation und Brüche, sowohl mit den Eliten im Innern als auch mit den äußeren hegemonialen Kräften, wie das Ergebnis eines Verhandlungskonsenses sein.

Aus dieser Perspektive hätte Plan B, bzw. ein erneuertes EWS, bedeutend gewichtigere Bedeutung für Frankreich, vor allem aber auch für eine österreichische EU-Austrittsbewegung, als für die südeuropäische Peripherie. Die Erosion französischer Hegemonie korreliert unmittelbar mit der Einbindung Österreichs bei der Entfaltung der deutschen Hegemonie in Europa. Griechenland, Portugal, ja selbst Spanien ist aus der deutschen Perspektive ein Nebenschauplatz. Das benennt die wesentlichste Schwäche der Plan B-Initiative: sie suggeriert, in Anlehnung an die Ideologeme der herrschenden Eliten, der Euro sei der Kern des europäischen Projekts. Die wesentlichste Auswirkung eines Austritts Griechenlands aus der Eurozone für die Menschen in Griechenland wäre die Wahrnehmung der Tatsache, dass sie keine Deutschen sind. Punkt. Polen mit seinen 38 Mio EinwohnerInnen, Tschechien, Österreich mit seiner historischen Stellung in Mittel-, Ostereuropa ist von wesentlich zentralerer Bedeutung für die deutsche hegemoniale Entfaltung. Der wirkliche Grund für das Festhalten der südlichen Peripherie am Euro ist chauvinistischer Natur. Man will entgegen der wirtschaftlichen Fakten dazugehören zum Klub der Reichen und Schönen. Das ist verständlich, schafft aber umgekehrt entwürdigende Abhängigkeiten. Dieser entwürdigenden europäischen Kastengesellschaft kann im Rahmen des Euroregimes nicht begegnet werden. Frederic Heine und Thomas Sablowski haben in einem Beitrag 2015 darauf aufmerksam gemacht.„Demnach ist der Anteil der Eurozone an den deutschen Exportzielen von 42,7% im Jahr 2008 auf nur noch 36,4%im Jahr 2014 gesunken. Die Krisenländer, auf die 2008 noch 12,9% der deutschen Exporte entfielen, haben dabei als Markt am stärksten an Bedeutung verloren und absorbieren nur noch 9,5% aller deutschen Exporte.“9)

Umgekehrt ist in Bezug auf Mittel- u. Osteuropa die deutsche Importstatistik bemerkenswert: 2014 kommen 20,4% aller Importe Deutschlands aus den MOEL-Staaten, die jährliche Wachstumsrate beträgt 5%. Für Frankreich betragen die gleichen Zahlen 8,6% und 1%.9) Die Frage, ob sich diese Relationen durch die französische Rätätätä-Politik in Libyen, Syrien oder Nordafrika verändert hat, ist zynisch. „Der Unterschied ist, dass Deutschland die Importe aus den Krisenländern durch Importe aus anderen Ländern ersetzte, während die peripheren europäischen Länder stärker unter einer neuen Konkurrenz im Segment der Produkte mittlerer technologischer Komplexität litten – namentlich aus China und Osteuropa – und ihre Anteile an diese verloren. Deutschland, in der Hierarchie des Weltmarkts am oberen Ende, konnte hingegen seine komplexen Produkte weiterhin sowohl in der Eurozone als auch global veräußern“, resümieren Heine und Sablowski. 9) So berühren laues Wirtschaftswachstum und Eurokrise die deutsche Exportmaschine kaum. Die Wiener Zeitung berichtet am 9.2.2016 online: „Deutschlands Exporteure haben 2015 alle Rekorde gebrochen. Waren im Gesamtwert von Eur 1195,8 Mrd gingen ins Ausland… Die Bestmarke aus dem Vorjahr wurde nochmals um 6,4% übertroffen,…Die Handelsbilanz,…, schloss mit einem Rekordsaldo von 247,8 Mrd. Euro.“10) Österreich liegt im Schlepptau, trotz Leitls Gemosere vom abgesandelten Wirtschaftsstandort: „2015 war ein Rekordjahr für die heimische Exportwirtschaft. Der Außenhandelsüberschuss liegt bei 11 Milliarden Euro“ 11) Der Wert der Exporte der österreichischen Wirtschaft beträgt 2015 stolze 184 Mrd Eur. Das Wachstum wurde vor allem in den USA, Mexiko, Polen und Tschechien erzielt, während sie gegenüber Frankreich um 11% zurückgingen.

Heine und Sablowski berühren in ihrem Beitrag eine Erkenntnis, deren Eingang in den Fundus angenommener Voraussetzungen im kritischen Diskurs vielfach suspendiert wurde: nämlich, „dass der Weltmarkt keineswegs eine homogene Entität ist, in der alle Unternehmen aller Länder auf gleicher Ebene miteinander konkurrieren. Der Weltmarkt ist auf vielfache Weise fraktioniert.“12) Dass der Weg der inneren Abwertung kein Weg aus der Krise für die südlichen Krisenländer ist, kommt in der Tatsache zum Ausdruck, dass „der Überschuss Deutschlands gegenüber den Krisenländern (…) sich auf nahezu null reduziert. (hat)…(Eine Folge) in erster Linie einer Kontraktion der Importnachfrage (die Frankreich viel härter getroffen hat, Anm. B.L.) 13) So kam es trotz der enormen Lohnsenkungen in Griechenland zu einer Verlagerung von Unternehmen aus Griechenland nach Bulgarien, einem Nichteuroland. Die Autoren kommen zum Schluss: „Es ist keineswegs notwendigerweise im aufgeklärten Eigeninteresse der Herrschenden in Deutschland, die wirtschaftliche Entwicklung und damit die Nachfrage in den Staaten Südeuropas zu fördern. Im Gegenteil profitiert Deutschland zu einem gewissen Grade von der rezessiven Entwicklung der EU. Die Schwäche des Euro verhilft zu einem kleinen Wettbewerbsplus,… da aber Frankreich und die Krisenländer einen viel größeren Anteil ihres Handels mit der Eurozone abwickeln, bleibt Deutschland der Hauptnutznießer des niedrigen Euro-Außenwerts.“ 14)

Das Gerede von der nationalen Wagenburg

All diese Überlegungen sprechen dennoch nicht dagegen, Plan B, bzw. ein erneuertes EWS als Verhandlungsoption in Stellung zu bringen. Sie sollen dazu anregen, ihn richtig in Stellung zu bringen. Das Argument, Plan B sei „kein Zurück in die nationale Wagenburg“ ist aus dieser Perspektive nicht nur überflüssig, sondern der Steigbügel für Varoufakis Scharlatanerie. Es kommt darauf an, das Gerede von der „nationalen Wagenburg“ als das zu enttarnen, was es ist: Kein Argument, sondern eine Erpressung.

Weder die Forderung nach Auflösung der Währungsunion noch die Forderung nach Austritt aus der EU haben irgendetwas mit der Sehnsucht nach einer nationalen Wagenburg zu tun. Die Wagenburg ist nichts anderes als die Drohung der hegemonialen Mächte, wie mit einem unbotmäßigen Staat umgegangen wird. Es ist die Drohung ihn zu isolieren, ihn abzuwürgen, die ihn gefügig machen soll. Ebenso ist das Gerede vom „Rückfall in den Nationalismus“ unsinnig. Man kann nicht zurückfallen in etwas, was gar nie verlassen wurde. Was auf den Bildern aus Athen nach dem Referendum vom 5. Juli 2015 ins Auge stach, waren doch die Unmengen an griechischen Fahnen, mit denen die Menschen ihren kollektiven Willen unterstrichen. Das im linksliberalen Eurodiskurs gepflegte Theorem von der Überwindung des Nationalismus durch die EU-Integration ist der Versuch einer eleganten Umschreibung der Tatsache, dass man die Bindung der eigenen Politik an die Interessen und Haltungen der Mehrheit der Menschen überwunden hat.

Das Europagedusel der linksliberalen Schickeria hat nichts zu tun mit einer Überwindung des Nationalismus, sondern ist die Hoffnung chauvinistische Grundhaltungen auf eine europäische Ebene heben zu können. Die aktuelle Flüchtlingskrise hat das unmittelbar sinnlich vor Augen geführt. Der Ruf nach „no border, no nation!“ hat einer Politik die Tür geöffnet, mit der das nationale Asylrecht ausgehebelt wird, um vice versa eine Festung Europa zu errichten. In dieser Frage kann es kein taktisches Wegducken geben. Freilich muss jegliche Form nationalistischen, ethnizistischen Chauvinismus im Geiste eines Internationalismus überwunden werden. Wenn wir aber darum kämpfen, dass die Arbeitenden, die Ausgestoßenen, die an den Rand gedrängten wieder zu Subjekten der Geschichte werden, kann dies nur ausgehend von den historisch gewordenen Nationalstaaten geschehen. Die antinationale Phrase ist der Versuch einer innerlich ausgehöhlten linken Ideologie, das Überleben als dienstbarer Geist der herrschenden Eliten zu sichern. Sie ist ein Angriff auf das Politische schlechthin in der irrigen Annahme, der Staat, die Politik sei den ökonomischen Verhältnissen aufgepoppt. Diese Auseinandersetzung muss in aller Entschiedenheit geführt werden, wenn wir um gesellschaftliche Emanzipation streiten wollen. Wenn wir damit nicht beginnen, werden wir noch viele DiEM25 erleben. Hans Rüdiger Minow hat es in einem Interview auf den Punkt gebracht: „Aber auch der Austritt aus dem Euro ist keine Perspektive, wenn die sozialpolitischen und geostrategischen Fundamente dieselben bleiben. Überstaatliche Verschmelzungen in einem föderalen Bundesstaat EU bringen weder Frieden noch soziale Gerechtigkeit, solange das Grundübel, die Gesamtrationalisierung des Kontinents, unangetastet bleibt.“15)

Die Verteidigung der Mindestsicherung

Klaus Dräger stellt die Frage: „Glauben die auf der Pariser Plan B Konferenz versammelten Kräfte daran, es ließe sich eine europäische oder nationale Massenbewegung für ein ‚neues EWS’ erzeugen? Vermutlich nicht. Für Erwerbslose, Arme, ArbeitnehmerInnen und selbst die Mittelschichten sind Fragen nach einem anderen Währungsregime in Europa allein zu komplex und von ihrer Lebenswirklichkeit soweit entfernt, dass sie solche Alternativen bestenfalls in den Grundzügen (und eher auf einer sozialen Werteebene) nachvollziehen und bewerten würden.“ 16) In Österreich erleben wir zur Zeit heftige Angriffe auf die Mindestsicherung. Die Angriffe begannen bereits vor der aktuellen Flüchtlingskrise. Mit dieser ist es der extremen Rechten gelungen, den Angriffen auf die Mindestsicherung einen ethnizistischen Drall zu verleihen. Die herrschaftlichen Bemühungen um die Schaffung eines Niedriglohnsektors wird von der extremen Rechten übernommen, indem sie gegen die Schwächsten gewendet wird. Es droht eine gesellschaftliche Spaltung. Die rechtsextreme Propaganda hat den Zusammenhang der Angriffe auf die Mindestsicherung mit der neoliberalen EU-Agenda fast vollständig überdeckt. Wenigen, die dagegen aktiv werden, ist bewusst, dass es ihn überhaupt gibt, und allzu wenige tragen dazu bei, dass er bewusst wird. Austerität sei eine Veranstaltung in den Krisenländern der südlichen Peripherie und nicht im Zentrumsland Österreich.

Es erfordert taktisches Geschick diesen Zusammenhang zur Sprache zu bringen, ohne den Eindruck zu erzeugen, den Menschen werde etwas aufs Auge gedrückt. Franz Stephan Parteder ist recht zu geben, wenn er in einem Debattenbeitrag formuliert: „Wir müssen darum kämpfen, dass es den Herrschenden immer schlechter gelingt, ihren Zorn über die Verhältnsisse auf noch Ärmere abzulenken. Diese Auseinandersetzung können wir nur bei uns, in den Gemeinden, in den Betrieben, wir können sie nur vor Ort führen. Es geht darum, in Bewegungen aktiv zu sein und dort einen Lernprozess über die grundlegenden Widersprüche in unserer Gesellschaft einzuleiten. Jede positive Veränderung der Kräfteverhältnisse wird dabei auch auf die europäische Ebene wirken.“17) Die aktuelle Auseinandersetzung um die Mindestsicherung lässt in diesen Überlegungen jedoch eine große Leerstelle, eine klaffende Lücke, sichtbar werden. Wir können auf europäischen Konferenzen Plan A, B oder C entwerfen. Wir können in Betrieben und Gemeinden den Widerstand organisieren. Entschieden wird im österreichischen Fall in wesentlichen politischen Fragen nach wie vor in Wien. Wir brauchen ein nationales Projekt zum Ausstieg aus dem EU-Konkurrenzregime. Boris Lechthaler, März 2016. http://www.werkstatt.or.at/index.php?option=com_content&task=view&id=1437&Itemid=86

Quellen:

1) www.europa-neu-begruenden.de
2) Birgit Baumann „der Standard“, 9.2.2016
3) Martin Höpner (www.flassbeck-economics.de/diem25-was-helfen-uns-jetzt-die-vereinigten-staaten-von-europa?)
4) zitiert nach 3)
5) Europa braucht einen „Plan B“, gemeinsame Erklärung v. Herbst 2015, www.euroexit.at
6) Martin Höpner: Voran in ein erneuertes Europäisches Währungssystem – und alles wird gut?, www.flassbeck-economics, 3.2.2016
7) Klaus Dräger: „Krise der Weltwirtschaft, erneute Eurokrise: Ein Plan B für Europa?“
8 ) siehe 6)
9) Frederic Heine und Thomas Sablowski, Zerfällt die europäische Union? Prokla, Verlag Westfälisches Dampfboot, Heft 181, 45. Jg. 2015, Nr. 4, 563-591
10) Wiener Zeitung online, 9.2.1016
11) Wiener Zeitung online, 22.2.2016
12) siehe 9)
13) siehe 9)
14) siehe 9)
15) www.german-foreign-policy.com, 26.1.2016
16) siehe 7)
17) Franz Stephan Parteder, eh. Vors. Der KPÖ-Steiermark (12.2.2016), www.euroexit.at

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