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Kurzinfos Oktober 2015Deregulierung und Entdemokratisierung
Auf Wunsch der Industrie werden in der EU-Gesetzgebung verstärkt vermeintliche Wirtschaftshindernisse auf Kosten von Umwelt und Verbraucherlnnen, Demokratie und Transparenz abgebaut. Einen Überblick über Deregulierungs- und Entdemokratisierungstendenzen in der EU gibt der aktualisierte Steckbrief der DNR EU-Koordination. Weitere Themen sind das Freihandelsabkommen TTIP zwischen den USA und der EU, die interinstitutionellen Vereinbahrungen im Rahmen der Kommissionsvorschläge zur ,,Besseren Rechtsetzung" und das REFIT-Programm. www.eu-koordination.de/PDF/steckbrief-deregulierung-entdemokratisierung.pdf, umwelt aktuell, Oktober 2015, S. 23.
Weiteres Tomatenpatent genehmigt Die Firma Syngenta hat sich noch eine Tomatensorte aus konventioneller Züchtung als „geistiges Eigentum“ deklarieren lassen. Das Europäische Patentamt (EPA) stimmte dem Antrag des Schweizer Agrarkonzerns aus dem Jahr 2003 Ende August zu.
Die sogenannte Syngentatomate enthält angeblich besonders viele gesundheitsförderliche Flavonole. Dafür kreuzten Planzenzüchter konventionelle und wilde Tomaten. Die Kreuzung wurde aber nicht gentechnisch verändert. Dies ist allerdings laut europäischem Patentrecht Voraussetzung, damit ein Pflanze oder ein Tier als Erfindung anerkannt wird.
„Das EPA, das seine Einnahmen aus der Erteilung von Patenten bezieht, ebnet mit dieser inakzeptablen Auslegung des Patentrechts den Weg für seine eigenen Interessen ebenso wie für die der Industrie“, kritisiert das Internationale Bündnis No Patents on Seeds.
Das Europäische Patentamt ist keine Institution der EU, sondern besteht auf der Grundlage eines Vertrags zwischen zahlreichen Staaten. Deren Regierungen können über den Verwaltungsrat des EPA Einfluss nehmen. Durch die Politik der EPA kommt es Schritt für Schritt zum Ausverkauf unserer Nahrungsgrundlagen. Umwelt aktuell, Oktober 2015, S. 19. www.kurzlink.de/epa_tomatenpatent15, www.no-patents-on-seeds.org.
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Armut in der EU Gemäss einer Studie der Bertelsmann-Stiftung sind in der EU 122 Mio. Menschen armutsgefährdet, darunter 26 Mio. Kinder und Jugendliche. Das sind ein Viertel aller Bürger. Als von Armut oder sozialem Ausschluss bedroht gilt, wer weniger als 60% des typischen Einkommens (Median) in einem Land hat oder unter gravierenden materiellen Entbehrungen leidet. Bezüglich der „schwere materielle Entbehrung“ wird je Land ermittelt, wie viele Personen sich von neun Dingen – eine Woche Ferien, unerwartete Ausgaben, Telefon, Auto, Waschmaschine, Fernseher, Heizung, Miete, Fleisch jeden zweiten Tag – mindestens vier nicht leisten können. Nimmt man dieses Mass, das die Studie auch ausweist, sind in der EU 10% der Bevölkerung von schwerer Entbehrung betroffen. Kinder leiden mit 11% häufiger darunter als Pensionierte mit 7%. Grösser als die Unterschiede zwischen Jung und Alt sind diejenigen zwischen den Ländern. In Ungarn, Rumänien und Bulgarien liegen die Quoten für Kinder bei einem Drittel oder mehr, in Skandinavien und Deutschland unter 6%.
Diese Quote lag beim Schlusslicht Bulgarien vor sieben Jahren noch bei 58% – 20 Prozentpunkte höher als 2014. Unverkennbar ist dagegen die Verschlechterung in den Krisenstaaten: In Griechenland hat sie sich von 10% auf 24% mehr als verdoppelt. Auch in Irland und Italien müssen mehr Kinder grosse materielle Entbehrungen ertragen als vor der Krise (Anstieg von jeweils 8% auf 13,5%).
Je besser junge Erwachsene integriert sind, desto geringer ist ihr Armutsrisiko. Einen Hinweis gibt der Anteil der 20- bis 24-Jährigen, die weder in Ausbildung sind noch arbeiten. Besonders gross ist diese Gruppe in Italien mit einem Drittel. In Griechenland sind es 28%, wobei dieser Anteil vor der Krise bei 16% lag. In den meisten Ländern hat sich die Situation gegenüber dem Vorjahr immerhin leicht verbessert, und auf EU-Ebene ist der Anteil mit 18% auf dem Niveau von vor zehn Jahren. Deutschland schliesst hier mit 9,5% vergleichsweise gut ab. Aufgehellt hat sich die Beschäftigungssituation für ältere Arbeitnehmer. In der Altersklasse der 55- bis 65-Jährigen waren 2014 in der EU 52% beschäftigt, vor zehn Jahren waren es erst 42% gewesen. NZZ, 28. Oktober 2015, S. 27.
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Gentech in der EU: EU-Parlament gegen nationale Alleingänge Ein Versuch der EU-Kommission zur gesetzlichen Neuregelung des Zulassungsverfahrens für gentechnisch veränderte Organismen (GVO) als Lebens- und Futtermittel steht vor dem politischen Aus. Der zuständige Umweltausschuss des EU-Parlaments hat den Vorschlag mit einer überwältigenden Mehrheit von 47 gegen 3 Stimmen und 5 Enthaltungen zurückgewiesen.
Die EU-Kommission hatte im April 15 vorgeschlagen , die kurz zuvor beschlossene Opt-out-Lösung für den Anbau von gentechnisch veränderten Organismen wie zum Beispiel Genmais auf deren Zulassung als Lebens- und Futtermittel auszudehnen. Laut ihrem Vorschlag wäre über die Zulassung zum Import und zur Inverkehrsetzung zwar weiterhin auf EU-Ebene entschieden worden. Neu hätten die Mitgliedstaaten aber die Verwendung eines von der EU zugelassenen GVO als Lebens- oder Futtermittel auf nationaler Ebene unter bestimmten Bedingungen beschränken oder verbieten können. Die Idee hätte zur Entkrampfung zwischen Befürwortern und Gegnern der Gentechnik beitragen sollen, doch stiess sie umgehend auf Kritik aus allen Lagern. Die Parlamentarier wiesen nun vor allem darauf hin, dass sie dem Grundsatz des Binnenmarkts zuwiderlaufe und in der Praxis kaum umzusetzen wäre. Die Konsequenz wäre, für Agrarprodukte wieder Grenzkontrollen innerhalb der EU einzuführen, erklärte zum Beispiel Peter Liese, der umweltpolitische Sprecher der bürgerlichen EVP-Fraktion.
Die potenziellen Auswirkungen einer Opt-out-Lösung wären bei der Zulassung als Lebens- und vor allem als Futtermittel viel grösser als beim Anbau. Während in der EU nur eine einzige Genmais-Sorte zur Kultivierung zugelassen ist, sind mehrere Dutzend (importierte) GVO als Lebens- bzw. Futtermittel genehmigt. Über 60% des EU-Bedarfs an pflanzlichem Eiweiss für Nutzvieh deckt Soja aus Drittstaaten, in denen der GVO-Anbau verbreitet ist. NZZ, 13. Oktober 2015 und NZZ, 29. Oktober 2015.
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Unterschriftensammlung von «Stop TTIP» Die EU tut sich schwer mit Bürgerbeteiligung. Neustes Beispiel: die erfolgreiche Kampagne «Stop TTIP» gegen ein Freihandelsabkommen mit den USA, die keine offizielle EU-Bürgerinitiative sein durfte. Die Aktivisten von «Stop TTIP» feierten 3,26 Millionen gesammelte Unterschriften, die sie einem Vertreter der EU-Kommission übergaben. Nie zuvor hat eine Kampagne so leicht eine Million Unterschriften zusammengebracht, die für den erfolgreichen Abschluss einer sogenannten Europäischen Bürgerinitiative (EBI) nötig ist. Zudem erfüllt «Stop TTIP» die nationalen Unterstützer-Quoren nicht nur wie nötig in 7 der 28 EU-Länder, sondern in 23. Die Kampagne von Globalisierungskritikern, Verbraucher- und Umweltschützern wurde aber von der EU-Kommision nicht als offizielle Bürgerinitiative anerkannt. Die EU-Kommission verweigerte die Registrierung aus zwei Gründen : Eine EBI dürfe sich nicht auf ein Verhandlungsmandat der Kommission beziehen. Und sie dürfe die Kommission nicht zu negativem Handeln auffordern – also nicht dazu, Parlament und Rat die Nichtratifizierung von Abkommen zu empfehlen.
Seit Einführung der EBI vor dreieinhalb Jahren lehnte die Kommission 20 von 48 Initiativen ab. Der konservative EU-Parlamentarier György Schöpflin hat einen Bericht zur Reform der Europäischen Bürgerinitiative verfasst. Schöpflins Bericht wird im Plenum des EU-Parlaments behandelt und der Kommission danach sozusagen als Wunschliste vorgelegt. Erklärtes Ziel ist es, Bürgerinitiativen wirksamer zu machen. Dazu schlägt Schöpflin etwa vor, dass die EU-Kommission auf erfolgreiche Initiativen innert eines Jahres mit einem Gesetzesvorschlag reagieren muss. Das begrüsst Carsten Berg von der «EBI-Kampagne» , einer Allianz europäischer Nichtregierungsorganisationen: «Erst dann kann so etwas wie ein Dialog, ein öffentliches Agenda-Setting, entstehen», sagt er. Bis jetzt kann die Kommission auf erfolgreiche Initiativen ablehnend oder mit einer unverbindlichen Mitteilung antworten. Das tat sie bei allen drei Initiativen, die mehr als eine Million Unterschriften erhielten: bei jener gegen Tierversuche, gegen Embryonenforschung sowie zur Anerkennung eines Menschenrechts auf Trinkwasser. EBI sind somit so folgenlos wie Petitionen.
Entsprechend frustriert sind viele Initianten. Sechs von ihnen klagen vor dem Europäischen Gerichtshof. Ein siebtes Verfahren verlor Ende September ein Grieche, dessen Initiative zum unilateralen Schuldenschnitt für klamme Staaten nicht registriert worden war. Das Gericht bestätigte die Kommission in ihrer Sicht, dass sie nicht zuständig sei. Vielversprechender erscheint die Klage von «Stop TTIP». Sie verweist darauf, dass eine andere Initiative zu einem internationalen Abkommen zugelassen worden war. Diese hiess «Kündigung Personenfreizügigkeit Schweiz» und wurde 2012 registriert, aber kurz darauf von den Organisatoren zurückgezogen. Michael Efler, ein Sprecher von «Stop TTIP», sagt: «Es ist merkwürdig, eine mögliche Kündigung eines Abkommens zuzulassen, nicht aber unseren Wunsch nach Nichtzustandekommen der Freihandelsabkommen.»
Nun ist Warten angesagt. Die EU-Kommission soll bald ihren Reformvorschlag vorlegen. Womöglich wird sie Demokratie-Aktivisten enttäuschen, denn weder die Kommission noch der Rat als Organ der Mitgliedstaaten dürften Interesse an legislativer Konkurrenz durch Bürger haben. Manche EU-Parlamentarier wollen zudem vor einer möglichen Revision der EBI-Verordnung die Klagen vor dem Gerichtshof abwarten. Erst nach einer Revision wollen laut Carsten Berg mehrere neue Initiativen loslegen. Derweil ist die EBI, in die Aktivisten einst viel Hoffnung setzten, je nach Lesart «abgestürzt» (Berg) oder «vom Aussterben bedroht» (Efler): Nur zwei Initiativen starteten dieses Jahr. NZZ, 12. Oktober 2015, S., 4.
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Pestizide schaden Artenvielfalt und Ökosystemen Der alltägliche Einsatz chemisch-synthetischer Pestizide in der industrialisierten Landwirtschaft Europas schadet der Umwelt. Zudem versagt die EU bei Bewertung, Zulassung und Überwachung von Pestiziden. Dies zeigt ein heute europaweit veröffentlichter Greenpeace-Report.
Demnach sind weniger Gifte und eine andere landwirtschaftliche Produktion und Agrarpolitik dringend notwendig. Auch weil Pestizide in der Umwelt etwa eine zusätzliche Reinigung von Trinkwasser oder Lebensmittelkontrollen notwendig machen. Greenpeace-Landwirtschaftsexperte Dirk Zimmermann fordert Agrarminister Christian Schmidt (CSU) zum Handeln auf: „Nicht die Allgemeinheit, sondern die Verursacher sollten die verdeckten Kosten tragen. Agrarminister Schmidt muss sich deshalb für eine Pestizidsteuer stark machen.“ Einnahmen einer solchen Abgabe sollten unter anderem die ökologische Landwirtschaft fördern, fordert die unabhängige Umweltorganisation.
Der Bericht „Europas Abhängigkeit von Pestiziden“ hat wissenschaftliche Studien zu den Umweltauswirkungen von Pestiziden zusammengeführt. In der EU nimmt der Einsatz von Pestiziden zu, so auch in Deutschland. Obstbauern bringen hier in Apfelplantagen im Laufe einer Saison durchschnittlich über 21 Mal Pestizide aus – häufig mehrere Gifte auf einmal. Die Untersuchungen zeigen: Pestizide gefährden die Artenvielfalt und stören natürliche Systeme. Insekten, die Pflanzen bestäuben, sterben, die natürliche Schädlingskontrolle versagt und die Bodenfruchtbarkeit leidet.
Der Greenpeace-Report deckt entscheidende Schwächen bei der Regulierung von Pestiziden in der EU auf. Die Zulassungsverfahren bewerten etwa nur die Wirkstoffe und nicht die Produkte für die Anwendung, obwohl diese häufig deutlich giftiger sind. Sie berücksichtigen nicht die Auswirkungen von Wirkstoffkombinationen und vernachlässigen die zahlreichen Effekte von Agrargiften, die auch mit dem Bienensterben in Verbindung gebracht werden. Unabhängige Studien werden vernachlässigt, Kriterien wie schädigende Wirkungen auf das Hormonsystem nicht konsequent angewandt.
„Unsere Landwirtschaft muss konsequent ökologisch ausgerichtet werden“, so Zimmermann. „Wir brauchen einen grundsätzlichen Wechsel zu einem Wirtschaften mit der Natur statt gegen sie.“ Gefordert ist die Politik: Ökologische Landwirtschaft braucht zuverlässige finanzielle Unterstützung, Subventionen dürfen nicht länger zerstörerische Anbaupraktiken fördern. Agrarsubventionen sind der größte Posten im EU-Haushalt, 2015 machen sie mit 58 Milliarden Euro 39 Prozent des Gesamtetats aus. Pestizide mit besonders gefährlichen Eigenschaften wie bienenschädigende, krebserregende, hormonell wirksame oder auf das Nervensystem wirkende Gifte muss die Politik umgehend verbieten. Hamburg, 13. Oktober 2015, der Report findet sich unter www.greenpeace.de/pestizide-umwelt-2015
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Von der EU-Kommission in die Chefetagen von Multis Einer von drei (9 von 26) EU-Kommissaren, welche die Kommission 2014 verliessen, kamen nach ihrem Austritt nahtlos bei Multis oder Multi-Organisationen unter. Dieses Phänomen, auch „Drehtür“ genannt, führt zu Befürchtungen bezüglich ungesund naher Verbindungen zwischen der EU-Kommission und den privaten Interessen von Multis. Zum Thema wurde im Oktober 2015 ein Bericht von der Multi-kritischen NGO „Corporate Europe Observatory“ veröffentlicht (s. http://www.corporateeurope.org/revolving-doors/2015/10/revolving-doors-spin-again). Der Bericht weist darauf hin, dass der bestehende Verhaltenskodex für EU-Kommissare ungenügend ist. Wenigstens 8 der Übertritte hätte wegen des Risikos von Interessenkonflikten die Erlaubnis verweigert werden sollen. Es folgen ein paar Beispiele:
1) Viviane Reding (Luxembourg), Ex-Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Unions-Bürgerschaft (2010-2014); Information, Gesellschaft und Medien (2004-2010); Erziehung und Kultur (1999-2004) und nun EU-Parlamentariern, wechselte in die Verwaltungsräte der Minen-Gesellschaft Nyrstar, der Agfa Gevaert und der Bertelsmann Stiftung - letztere hat starke Bindungen zum globalen Mediangiganten mit demselben Namen)
2) Karel De Gucht (Belgien), Ex-Kommissar für Handel (2010-2014); Entwicklung und humanitäre Belange (2009-2010), wechselte in den Verwaltungsrat von Belgacom (Proximus); Merit Capital NV; CVC Partners; und übernahm weitere Mandate
3) Neelie Kroes (Niederlande), Ex-Kommissarin für die Digitale Agenda (2010-2014) und Wettbewerb (2004-2010), erhielt ein Beratungsmandat für die Bank of America Merrill Lynch; ist Verwaltungsrätin des Open Data Institute und nahm weitere Mandate an.
4) Siim Kallas (Estland), Ex-Kommissar für Transport (2010-2014); für Verwaltungsangelegenheiten, Audits und Anti-Korruption (2004-2010); für Wirtschafts- und Finanz-Angelegenheiten (2004-2004) wurde Berater für Nortal (seither beendet); Berater für Kommissar Dombrovskis; Vorsitzender der Unabhängigen Experten für Europäische Struktur- und Investmentfonds, und übernahm weitere Mandate
5) José Manuel Barroso (Portugal), Ex-Kommissionspräsident (2004-2014), hat 22 Mandate und ist Mitglied der Steuerungsgruppe der Bilderberg Konferenz sowie Honorarvorsitzender des Honorarkommittes des European Business Summit.
Das Drehtür-Phänomen ist allerdings nicht neu. 2011 hatten Corporate Europe Observatory, LobbyControl, und andere Gruppierungen mittels der Alliance for Lobbying Transparency and Ethics Regulation (ALTER-EU) besser Regeln für den Übergang von der Kommission in die Wirtschaft verlangt. Die Barroso II Kommission antwortete, die überarbeiteten diesbezüglichen EU-Regeln würden “die beste Praxis in Europa und der Welt” reflektieren.
Die neueste Analyse der Verhaltens der Ex-Mitglieder der Kommission zeigt aber, dass die Drehtür-Regeln der EU unangemessen sind und zu milde umgesetzt werden. 28. Oktober 2015. Siehe auch „Brüsseler Drehtür“ im Le Monde diplimatique, September 2015, S. 16 (http://monde-diplomatique.de/artikel/!5228367), sowie „Anleitung für Lobbyisten (ebenda, S. 17, http://monde-diplomatique.de/artikel/!5228372).
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Krisenvergleich Island - Griechenland Sowohl Island als auch Griechenland waren massiv von der Wirtschafts- und Finanzkrise betroffen. Doch während Island in den letzten Jahren einen selbstbestimmten Weg aus der Krise heraus gefunden hat, rutschte Griechenland immer weiter in die soziale und wirtschaftliche Katastrophe. Der Unterschied liegt auf der Hand: Island ist weder beim Euro noch in der EU.
Es ist klar, dass man die jetzige Situation Griechenlands nicht 1:1 mit der Situation von Island 2008 vergleichen kann. Trotzdem ist es sinnvoll, sich mit dieser Thematik näher zu befassen. Obwohl Island 2008 vor einem Schuldenberg stand, der dem Zehnfachen des Bruttoinlandsprodukts entsprach und Griechenland dazu im Vergleich Staatsschulden in der Höhe von „nur“ 175% des BIPs aufweist, schaffte es der kleine Inselstaat binnen weniger Jahre, sich bemerkenswert zu stabilisieren. Aus dem Negativwachstum von 7% 2009 war nach drei Jahren ein Plus von knapp 3% geworden. Die Arbeitslosigkeit beträgt ca. 4 Prozent und Inflation ist kein Thema mehr.
Warum man die beiden Länder trotz der 2008 viel prekäreren Lage Islands nicht vergleichen kann? Island hatte trotz der viel höheren Staatsverschuldung zwei entscheidende Vorteile: Es war weder in der EU, noch hatte es den Euro. So konnte der Inselstaat seine Pleite-Banken wirklich pleite gehen lassen, die Einlagen der „kleinen“ Sparer sichern und die institutionellen Anleger bis heute auf ihr Geld warten lassen. Über die Erstattung für ihre ausländischen Sparkunden hat darüber hinaus nicht eine PolitikerInnenriege entschieden, sondern mittels Referendum die Bevölkerung. So wurden die drei Großbanken in „newbanks“ und „oldbanks“ aufgespalten. Die neuen Banken wurden mit staatlichem Kapital ausgestattet und beschränkten sich auf überschaubare einheimische Aktivitäten. Den alten, abzuwickelnden Instituten wurde das gesamte Auslandsgeschäft mit vielen zweifelhaften Vermögenswerten und riesigen Verbindlichkeiten übertragen. Die isländische Bevölkerung weigerte sich mittels Dauerdemonstrationen und Volksabstimmungen strikt, sich die Bankschulden aufhalsen zu lassen.
Konsequenterweise wurden dann auch Anfang des Jahres die vier maßgeblich beteiligten Bankmanager zu Haftstrafen zwischen vier bis fünfeinhalb Jahren wegen betrügerischer Marktmanipulation und Untreue verurteilt, weil sie Gläubiger, Investoren, SparerInnen und die Regierung geschädigt hatten.
Natürlich gab es in dieser Zeit auch für die IsländerInnen Sparvorgaben und Einschnitte. Aber sie konnten selber entscheiden, wo. Die Bevölkerung beschloss, das Bildungssystem und den Sozialstaat nicht kaputtzusparen, z.B. ist in Island weiterhin jeder Bürger krankenversichert, in Griechenland sind es Millionen nicht mehr. Es wurde eine Reichensteuer eingeführt und die Progression bei der Einkommenssteuer wurde verschärft. Für Firmen gab es spezielle Umschuldungsprogramme und bei Immobilienkrediten einen Schuldenschnitt.
Die Voraussetzung für den Aufschwung der isländischen Exportwirtschaft und der Touristikbranche lag auch maßgeblich darin begründet, dass Island die Krone als eigenständige Währung abwerten konnte. Das traf ohne Zweifel weite Teile der Bevölkerung hart, trotzdem führte dies binnen weniger Jahre zur Konsolidierung Islands, das in Bezug auf soziale Gerechtigkeit in allen internationalen Vergleichen ganz oben steht. 4.10.2015, Susanne Müller http://www.werkstatt.or.at/index.php?option=com_content&task=view&id=1333&Itemid=1
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