Gewerkschaften und Rahmenabkommen Die Nervosität steigt im Juni 2023. Der Bundesrat hat angekündigt, dass er Ende Juni 2023 über die Eckwerte eines neuen Verhandlungsmandats entscheiden will. Wird er diesen Schritt wagen? Soll er?
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB), eine der mächtigsten Kräfte in der EU-Politik der Schweiz, hat am Freitag, den 2. Juni 2023 Position. Er spricht sich weder für noch gegen die Aufnahme neuer Verhandlungen aus. Stattdessen listet die Resolution, die von den SGB-Delegierten in Bern einstimmig beschlossen worden ist, mehrere Voraussetzungen auf, die ein Verhandlungsmandat erfüllen müsse.
Implizit ist die Botschaft jedoch deutlich: Der grösste Dachverband der Angestellten glaubt nicht an eine Einigung und ist unverändert kampfbereit. Falls Bundesrat und Arbeitgeber ihn dazu bringen wollen, ein künftiges Verhandlungspaket dennoch zu unterstützen, wird das nicht gratis sein.
Was die laufenden Sondierungsgespräche mit der EU genau ergeben haben, ist bis anhin nicht öffentlich bekannt. Besser informiert sind die Spitzen der Gewerkschaften, Arbeitgeber und Kantone, mit denen sich der Bundesrat regelmässig austauscht. Doch sie haben sich verpflichtet, keine Einzelheiten weiterzugeben.
Am Freitag hat der SGB nun aber in aller Deutlichkeit Bilanz gezogen. «Die Entwicklung der Sondierungsgespräche ist, gelinde gesagt, besorgniserregend», sagte der Chefökonom Daniel Lampart. Der Lohnschutz sei nicht gesichert. Und auch beim Service public – insbesondere beim Strommarkt und bei der Eisenbahn – sieht der SGB grosse Risiken. Im Zentrum steht jedoch unverändert der Lohnschutz. Konkret geht es um die flankierenden Massnahmen, die parallel zur Personenfreizügigkeit eingeführt worden sind, um das hohe Schweizer Lohnniveau und die hiesigen Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Das Regelwerk wird von der EU seit Jahren kritisiert.
Laut Lampart sind in den Gesprächen mit Brüssel mehrere Elemente gefährdet: das schweizerische Vollzugssystem der Gesamtarbeitsverträge (GAV) durch die Sozialpartner; die Dienstleistungssperren gegenüber ausländischen Firmen, die sich nicht an die Regeln halten; und die Kautionen, die je nach GAV auch Betriebe aus EU-Ländern hinterlegen müssen, wenn sie in der Schweiz tätig sind. Zudem beharrt die EU laut dem SGB darauf, dass ausländische Firmen ihren Angestellten bei Einsätzen in der Schweiz Spesen nur in der im Heimatland üblichen Höhe bezahlen müssen.
Fazit der Gewerkschaft: Ausser Verschlechterungen liege beim Lohnschutz nichts Verbindliches auf dem Tisch. Falls der Bundesrat trotzdem neue Verhandlungen aufnimmt, muss er gemäss dem SGB primär darauf beharren, dass der «eigenständige Lohnschutz» gesichert bleibt. Dahinter steht die Sorge, die flankierenden Massnahmen könnten unter die Räder kommen, wenn in diesem Bereich eine juristische Streitbeilegung unter Einbezug des Europäischen Gerichtshofs eingerichtet wird.
Der SGB verlangt «verbindliche Garantien» für einzelne Teile des Lohnschutzes. Gleichzeitig zeigt er sich bereit zu Justierungen im Detail, zum Beispiel bei der berühmt-berüchtigten Acht-Tage-Regel, die 2019 im Streit um den gescheiterten Rahmenvertrag für Aufsehen sorgte. Die Voranmeldefrist für Arbeitseinsätze in der Schweiz kann laut dem SGB verkürzt werden – unter Bedingungen: Neu sollen Bauherren für die beauftragten Firmen haften. Sie erhielten dafür Zugang zu den Daten aus den Lohnkontrollen, um zu sehen, wer sich an die Regeln hält. Die neue Resolution plädiert zwar für eine Öffnung gegenüber der EU, aber diese müsse den Arbeitnehmenden dienen.
Der SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard warf dem Bundesrat und den Arbeitgebern «Rosinenpickerei» vor. Sie wollten von der EU nur jene Regeln übernehmen, die in ihre «neoliberale Agenda» passten. Dabei kenne die Union bei Themen wie Mindestlöhnen oder Temporärarbeit fortschrittliche Ansätze, denen sich Bern aus Sicht des SGB noch so gern anschliessen könnte.
«Eine himmeltraurige Rolle spielen die Schweizer Arbeitgeber», sagte Daniel Lampart. Sie nähmen Verschlechterungen in Kauf und böten keine Hand für Verbesserungen, um den Lohnschutz trotz zunehmender Verbreitung von Subunternehmen und Temporärarbeit weiterhin sicherstellen zu können.
Hinter den Kulissen wird gefeilscht. Der Bundesrat plant Massnahmen, um bei einem Deal mit der EU den Lohnschutz im Inland mit autonomen Massnahmen zu sichern. Die Gewerkschaften haben ihm einen Katalog mit Forderungen vorgelegt, der unter anderem auf eine Ausweitung von GAV und Mindestlöhnen hinausläuft. Der SGB-Präsident Maillard beklagte, die Patrons seien nicht bereit, darauf einzugehen. Rhetorisch fragte er, ob die Wirtschaft wirklich eine Lösung mit der EU wolle.
Tatsächlich zeigen sich die Arbeitgeber bis anhin unnachgiebig. Sie wollen keine weitere Regulierung und Einschränkung des Arbeitsmarkts in Kauf nehmen. Auch deshalb ist die Spannung vor dem Entscheid des Bundesrats gross. Wird er auf die Forderungen der Gewerkschaften eingehen? Weil die SVP ein neues Abkommen mit der EU in jedem Fall bekämpfen wird, hat ein neuer Anlauf wohl nur eine Chance, wenn die Linke einigermassen geschlossen dahintersteht. Das macht es schwierig, die Wünsche der Gewerkschaften zu ignorieren. NZZ, 3. Juni 2023, S. 13
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30 Jahre EU-Binnenmarkt Das Jahr 2023 markiert den 30. Jahrestag der Schaffung des Binnenmarktes der Europäischen Union. Heute berührt die Binnenmarktgesetzgebung fast jeden Aspekt des täglichen Lebens der EU-Bewohnerinnen und -Bewohner – und auch der Europäer ausserhalb der EU, und es ist schwer, sich das Leben vor dem integrierten europäischen Markt vorzustellen. Dennoch wissen die meisten EU-Europäer nichts über die innere Funktionsweise des Binnenmarktes und seinen Einfluss in den Bereichen Soziales und Umwelt.
Anlässlich dieses 30. Jahrestages haben sich Leute von NGO Corporate Europe Observary, die sich den Einfluss der Multis auf die EU untersucht (www.corporateeurope.org), hinter die Kulissen geschaut, um die Rolle der Binnenmarktgesetzgebung und ihrer Durchsetzung zu untersuchen. Dabei haben sie festgestellt, dass der Modus Operandi des Binnenmarktes eindeutig der Wirtschaft den Vorrang vor sozialen und ökologischen Belange gibt. Sie zeigen, wie die Binnenmarktregeln Geschäftsinteressen begünstigen, indem sie die Sozial- und Umweltpolitik von nationalen, regionalen und lokalen politischen Behörden einschränken.
Insbesondere zeigt der Bericht, wie Unternehmen, Lobbyisten und Industrieverbände aktiv drei spezifische Durchsetzungsmechanismen Mechanismen im Zusammenhang mit dem Binnenmarkt anwenden, um fortschrittliche Gesetzgebung auf nationaler und kommunaler Ebene zu untergraben. Diese Mechanismen sind der Beschwerdemechanismus der EU-Kommission, das Notifizierungsverfahren im im Bereich der technischen Vorschriften (TRIS), und das Notifizierungsverfahren für Dienstleistungen. Die Kombination dieser Durchsetzungsmechanismen bieten den Unternehmen reichlich Möglichkeiten die Kommission dazu zu bewegen, die nationalen regionalen Rechtsvorschriften auf mögliche Verstöße des EU-Rechts zu untersuchen. Das Endergebnis ist das Abwürgen der dringend benötigten sozialen und ökologische Wende in Europa.
Für den Bericht haben die Autoren mehrere Fallstudien zusammengetragen, die zeigen, wie mächtige Unternehmen und Industrie-Lobbys versucht haben, progressive Gesetzgebung, die ihren Profiten schaden könnte, zu verhindern oder zurückzudrehen. Zu diesen Fällen gehören z.B. Behinderung von
• Maßnahmen im sozialen Wohnungsbau
• Initiativen zur öffentlichen Gesundheitsversorgung
• Verbraucherschutzgesetzen in Bezug auf Schadstoffe
• Beschränkungen von Kurzstreckenflügen und Glücksspiel.
In fast allen Fällen hat die Wirtschaft entweder auf eine weitere Liberalisierung gedrängt, oder versucht, eine progressive Gesetzgebung zu stoppen, zu verzögern oder abzuschwächen. Eine weitere jüngste und beunruhigende Entwicklung ist, dass die EU-Kommission ihre Untersuchungen in diesen Angelegenheiten in eine informelle, noch weniger transparenten Bereich verlagert. Moritz Neujeffski und Olivier Hoedeman, 30 YEARS OF EU SINGLE MARKET: Time to remove the obstacles to social-ecological transformation, Corporate Europe Observatory (CEO), Brüssel, Juni 2023, https://corporateeurope.org/sites/default/files/2023-06/30%20Years%20of%20EU%20Single%20Market-Report-Final.pdf
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Der EU-Ausschuss für Regulierungskontrolle: Schutz für Unternehmen vor unliebsamen Rechtsvorschriften Ein weiteres Beispiel dafür, dass wichtige EU-Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen werden. Dieses Beispiel ist des Ausschusses für Regulierungskontrolle. Wann immer die EU-Kommission ein wichtiges Gesetz plant, prüft dieses Gremium, welche Auswirkungen vom Gesetz zu erwarten sind erwartet.
Das Hauptaugenmerk des Ausschusses für Regulierungskontrolle liegt dabei auf den wirtschaftlichen Auswirkungen. Fallen diese zu negativ aus, muss die Kommission das Gesetz revidieren. Ist auch die Überarbeitung nicht ausreichend, kann der Ausschuss sogar ein Veto einlegen. Der Ausschuss hat somit bereits in einem frühen Stadium großen Einfluss auf die EU-Gesetzgebung und trägt dazu bei, dass die kurzfristigen Kosten für Unternehmen stärker berücksichtigt werden als der langfristige Nutzen für die Gesellschaft.
Das aktuelle Beispiel des EU-Lieferkettengesetzes zeigt, wie stark Gesetzgebungsvorhaben der EU-Kommission durch ein Veto des Ausschusses für Regulierungskontrolle beeinflusst werden können. Ziel des Gesetzesvorhabens ist es, die Arbeitsbedingungen entlang der globalen Lieferkette zu verbessern und einen Beitrag zur Eindämmung des Klimawandels zu leisten.
Mit dem Veto des Ausschusses für Regulierungskontrolle hat die EU-Kommission den Geltungsbereich des Gesetzes auf wenige Unternehmen beschränkt. Es wird erwartet, dass nur 0,2 Prozent der europäischen Unternehmen die neuen Regeln einhalten werden. Die Blockade des Ausschusses hat somit zu einer erheblichen Verzögerung und Verwässerung des Gesetzesvorhabens auf Kosten von Arbeitnehmern, Verbrauchern und der Umwelt geführt.
Der Ausschuss für Regulierungskontrolle besteht derzeit aus nur sechs nicht gewählten Mitgliedern, hat aber de facto ein Vetorecht. Für jeden Gesetzesvorschlag der EU-Kommission, der weitreichende Auswirkungen haben könnte, wird ein Bericht über die möglichen Folgen erstellt. Diese so genannten Folgenabschätzungen werden vom Ausschuss geprüft und bewertet: Sie fallen entweder positiv, positiv mit Einschränkungen oder negativ aus.
Fällt das Ergebnis negativ aus, muss die Folgenabschätzung grundlegend überarbeitet und erneut zur Überprüfung vorgelegt werden, was bei 39 % aller Überprüfungen der Fall ist. Zwischen 2016 und 2021 hat der Ausschuss für Regulierungskontrolle insgesamt 314 Folgenabschätzungen überprüft. Kommt der RSB auch bei der zweiten Prüfung zu einem negativen Ergebnis, kann ein Gesetzesvorschlag nicht ohne Weiteres weiter bearbeitet werden, was bei neun Prüfungen der Fall war. Eine weitere Bearbeitung ist dann nur in einem komplexen Verfahren möglich, in dem der Vizepräsident der EU-Kommission für institutionelle Beziehungen den Vorschlag dem Kollegium der 28 Kommissare zur Entscheidung vorlegt. Dies kann zu einer erheblichen Verzögerung wichtiger Gesetzgebung führen.
Der Ausschuss für Regulierungskontrolle hat somit de facto ein Vetorecht und kann die EU-Gesetzgebung in einem sehr frühen Stadium erheblich beeinflussen. Keine andere Regulierungsbehörde hat einen solchen Einfluss - das räumt sogar die EU-Kommission ein.
Und dann ist da noch die Frage der Transparenz! Vor kurzem wurde dem EU-Parlament der Zugang zu den Dokumenten verweigert, aus denen hervorgeht, warum der RSB eine negative Stellungnahme zum Recht auf Reparatur abgegeben hat.
Die Grundlage für die Arbeit des RSB ist der so genannte Grundsatz der "Agenda für bessere Rechtsetzung". Dieser hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass wirtschaftspolitische Aspekte in der EU-Gesetzgebung weitaus stärker berücksichtigt werden als beispielsweise beschäftigungs- und umweltpolitische Belange.
Ziel der "besseren Regulierung" ist es, die Kosten der Regulierung für Unternehmen zu senken. Regulierung wird daher in erster Linie als Belastung und Kostenfaktor für Unternehmen gesehen. Gleichzeitig wird sichergestellt, dass neue Vorschriften so eng wie möglich gefasst werden und die Wettbewerbsfähigkeit und die Gewinne nicht beeinträchtigen.
Es ist undemokratisch, dass es in der EU ein intransparentes - geheimes - Beratungsgremium gibt, das mit einem faktischen Vetorecht dafür sorgt, dass neue Gesetze möglichst wenig Auswirkungen auf Unternehmen haben und soziale und beschäftigungspolitische Werte ignoriert. Aber ist daran wirklich etwas merkwürdig bei einer Organisation, die in erster Linie Unternehmensinteressen vertritt? . People’s News, Nr. 258, 12. Juni 2023 (www.people.ie)
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