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Kurzinfos November 2020
Die Pushback-Agentur Die Grenzschutzagentur Frontex – an der sich auch die Schweiz beteiligt – macht sich an den EU-Aussengrenzen zur Komplizin bei schweren Menschenrechtsverletzungen. Die interne Kontrolle der Organisation greift nicht – und eine externe existiert nicht. (WOZ Nr. 47, 19. November 2020, weiter lesen in https://www.woz.ch/2047/frontex-in-der-aegaeis/die-pushback-agentur
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Kritik an Frontex Die europäische Grenzschutzagentur Frontex gerät wegen Rückweisungen an der griechisch-türkischen Grenze in die Kritik. Auf Vorwürfe von Rechtsverstössen durch den griechischen Grenzschutz hat die EU bisher kaum reagiert. Nach der Kritik an Frontex sieht man in Brüssel aber Handlungsbedarf.
Die Migrationskrise an der griechisch-türkischen Landgrenze von diesem Frühjahr 2020 hat zu einer Verstärkung des griechischen Grenzschutzes geführt – und zu einer deutlichen Zunahme von Vorwürfen, dass es dabei zu Rechtsverstössen kommt. Medien, Recherchenetzwerke und Menschenrechtsorganisationen haben in den letzten Monaten zahlreiche Berichte von sogenannten Push-backs veröffentlicht, also rechtswidrigen Rückweisungen von Asylsuchenden an der Grenze.
Flüchtlinge, so der Vorwurf, seien teilweise unter erheblichem Gewalteinsatz zurück auf türkisches Territorium gebracht und Schlauchboote in der Ägäis aus griechischen Hoheitsgewässern abgedrängt worden. Solche Vorfälle verstossen gegen das bindende Recht der Uno-Flüchtlingskonvention, wonach kein Schutzsuchender ohne individuelle Prüfung seines Falls abgewiesen werden darf. Griechenland hat die Vorwürfe stets als substanzlose, aus Ankara gesteuerte Diffamierungskampagne abgetan.
Tatsächlich leistet die Türkei bei der Recherche bereitwillig Hilfe, etwa indem sie Journalisten ermöglicht, bei Rettungsaktionen der Küstenwache dabei zu sein. Die Wahrhaftigkeit der Schilderungen stellt das aber nicht automatisch infrage. Ein Aufruf im Oktober von 29 Hilfsorganisationen an das griechische Parlament, die Vorwürfe zu untersuchen, blieb bisher folgenlos.
Seit einigen Wochen steht nun auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex in der Kritik. Ende Oktober 2020 veröffentlichten das Recherche-Portal Bellingcat, der «Spiegel» und weitere Medien eine gemeinsame Recherche, wonach Frontex-Einheiten bei mehreren Push-backs der griechischen Küstenwache anwesend gewesen seien oder sich sogar daran beteiligt hätten.
Geschildert wird etwa der Fall eines Schiffes der rumänischen Küstenwache, das ein Schlauchboot mit Flüchtlingen vor Lesbos an der Weiterfahrt hinderte, die Insassen aber nicht aufnahm. In einem weiteren Fall wurde mittels Geodaten rekonstruiert, dass ein anderes rumänisches Schiff anwesend gewesen ist, als die griechische Küstenwache ein Boot mit Flüchtlingen aufs offene Meer schleppte.
Im Rahmen des Frontex-Einsatzes stellen EU-Mitgliedsländer dem Gaststaat Kapazitäten des eigenen Grenzschutzes zur Verfügung. Der «Spiegel»-Bericht nennt auch portugiesische Schiffe, die sich in unmittelbarer Nähe einer Push-back-Aktion befunden haben sollen. Laut Frontex-Reglement sind alle Gesetzesverstösse an die Zentrale in Warschau zu melden. Im Extremfall kann dies zum Abbruch des Einsatzes führen. Allerdings zitieren mehrere Medien anonyme Quellen bei Frontex, laut denen diese Berichte aus Rücksicht auf das Gastland oftmals geschönt oder gar nicht erst verfasst werden.
Nach der Veröffentlichung der Vorwürfe schaltete sich die EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johannson, ein und berief zusammen mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine Sondersitzung des Frontex-Rats ein. Nach dem sechsstündigen Treffen am 12. November 2020 twitterte Johannson, dass die Agentur bis Ende November 2020 Zeit habe, die Fragen der Kommission zu beantworten. In einer Pressemitteilung hiess es, dass zur Untersuchung der Vorfälle ein Ausschuss gebildet werde, der unter Aufsicht der Kommission stehe. Zudem solle die Rolle des Menschenrechtsbeauftragten bei Frontex gestärkt werden.
Die griechische Tageszeitung «Kathimerini» berichtete nach der Sitzung, dass die griechische Delegation grossem Druck ausgesetzt gewesen und nur von den ungarischen Vertretern unterstützt worden sei. Dies deutet auf einen gewissen Stimmungswandel hin. Nach der türkischen Ankündigung im Frühjahr, ausreisewillige Migranten und Flüchtlinge nicht mehr an der Ausreise in die EU zu hindern, hatte Griechenland für seine entschlossene Reaktion an der Grenze viel Lob und Rückendeckung aus Brüssel erhalten. Die vorübergehende Aussetzung des Asylrechts wurde kaum kritisiert. Eine Mitverantwortung für das harte Vorgehen an der Aussengrenze wollen die anderen Mitgliedsstaaten aber offenbar nicht übernehmen.
Am 13. November 2020 eröffnete auch die EU-Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly eine Untersuchung zur Frage, ob Frontex richtig aufgestellt sei, um Vorwürfen von Rechtsverstössen gegen Migranten nachzugehen. Frontex war bereits in der Vergangenheit für fehlende Beschwerdemöglichkeiten kritisiert worden, etwa bei Vorfällen an der bosnisch-kroatischen Grenze. NZZ, 14. November 2020, S. 3
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Grüner Parteitag in der BRD streicht direkte Demokratie aus Programm Am 22.11. 2020 ist der Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen dem Vorschlag ihres Bundesvorstands gefolgt und hat den Ausbau der direkten Demokratie aus dem Grundsatzprogramm gestrichen. Der Änderungsantrag, mit dem die Forderung nach dem bundesweiten Volksentscheid in das Programm zurückgeholt werden sollte, scheiterte knapp mit 46,4 % der 742 Delegierten. Dem Antrag des Bundesvorstands stimmten 51,5% zu.
„Wir sind bestürzt, dass die Grünen der Bevölkerung ab heute keine verbindlichen Mitbestimmungsrechte auf Bundesebene mehr zutrauen. Damit wird eine Arroganz sichtbar, die allein auf die Macht setzt”, so Ralf-Uwe Beck und Claudine Nierth, Bundesvorstandssprecher von Mehr Demokratie e.V. „Hier offenbart sich ein elitäres Politikverständnis. Die Grünen scheinen davon auszugehen, dass die Transformation in Richtung Nachhaltigkeit allein dadurch gestemmt werden könnte, dass sie an der Regierung beteiligt sind. Damit verzichten sie auf die Entschlossenheit der Zivilgesellschaft.“
Ein breites Bündnis aus 14 Vereinen und Organisationen hatte im Vorfeld des Parteitages die Grüne Basis zur Kurskorrektur aufgerufen. Bisher hatten sich alle grünen Grundsatzprogramme (1980, 1993 und 2002) zu dem Ziel bekannt, die direkte Demokratie auf Bundesebene einzuführen. Damit hatte sich die grüne Partei zur Fürsprecherin einer zentralen Forderung der Zivilgesellschaft gemacht. „Nun verabschieden sich die Grünen nach 40 Jahren von einer ihrer Kernforderungen und lassen die Zivilgesellschaft im Regen stehen“, so Beck und Nierth. Es sei ein Fehler, dabei die losbasierten Bürgerräte gegen Volksabstimmungen auszuspielen. „Es gibt einen erheblichen Bedarf auf Seiten der Bürgerschaft, sich nicht nur Gehör zu verschaffen, sondern auch direkt mit zu entscheiden.“
In den Bundesländern gehören Volksbegehren (= Initiativen) und Volksentscheide ganz selbstverständlich zum Demokratiesystem. „Die Grünen blenden die Verfassungswirklichkeit in den 16 Bundesländern völlig aus“, kritisieren Beck und Nierth. Es sei nicht vermittelbar, warum die repräsentative Demokratie auf Bundesebene nicht ebenfalls durch die direkte Demokratie ergänzt werden soll. Dies befördere die Debattenkultur, sei ein Mittel gegen überbordenden Lobbyismus und Populismus. Den offenen Brief von 14 Organisationen findet man unter: https://www.mehr-demokratie.de/news/voll/offener-brief-an-gruene-basis-zivilgesellschaft-braucht-den-bundesweiten-volksentscheid/
https://www.mehr-demokratie.de/presse/einzelansicht-pms/gruener-parteitag-streicht-direkte-demokratie-aus-programm/ 22. November 2020
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EU als Erpressungsinstrument Bulgarien (Mitglied seit 2007) verlangt von seinem Nachbarn Nordmazedonien (Kandidat seit 2005) das Bekenntnis, dass die mazedonische Sprache ein bulgarischer Dialekt sei und die mazedonische nationale Identität im Kern auf der bulgarischen beruhe. Widersetzt sich Skopje, so legt Sofia sein Veto gegen den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen ein.
Der Fall zeigt, dass EU-Staaten gefahrlos ihre Obsessionen ausleben können. Die Toleranz Brüssels und der grossen Hauptstädte ist gross selbst gegenüber einer erpresserischen Politik. Dass Nachbarn für bilaterale Probleme die Vetomacht missbrauchen, die ihnen der Europäische Rat einräumt, ist nicht neu: Slowenien blockierte Kroatiens EU-Beitritt wegen Grenzstreitigkeiten, und 2018 erzwang Griechenland, dass Mazedonien seinen Namen ändert, weil eine griechische Provinz auch so heisst. NZZ, 28. November 2020, S. 5
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Grüner EU-Deal In der EU tobt ein erbitterter Streit um die Reform der Subventionen für die Landwirte. Denn die haben nur beschränkt Lust auf den «Green Deal»
Die EU-Kommission möchte die Bauern für ihre Klimaziele einspannen. Doch diese wollen sich nicht «herumschubsen» lassen und erhalten Unterstützung von ihren Regierungen und dem EU-Parlament.
So deutliche Worte hört man an Pressekonferenzen der EU-Institutionen selten. «Zutiefst irritiert» hätten sich die 27 Landwirtschaftsminister gezeigt, berichtete Julia Klöckner am Mitte November 2020 nach einer Videokonferenz mit ihren Kollegen. Sie hatte das Treffen als Vertreterin der EU-Rats-Präsidentschaft geleitet. Für Ärger sorgten laut Klöckner Äusserungen des Kommissionsvizepräsidenten Frans Timmermans. Dieser ist zuständig für den grünen Deal, mit dem die Kommission um die Deutsche Ursula von der Leyen die EU bis 2050 klimaneutral machen will.
Der Niederländer habe die Drohung in den Raum gestellt, dass die Kommission ihren Reformvorschlag für die gemeinsame Agrarpolitik der EU (GAP) zurückziehe, sagte Klöckner. Die Vorlage, so behaupte Timmermans, würde bezüglich Klimaschutz und Biodiversität hinter den Status quo zurückfallen. Das sei faktisch falsch und heize die Stimmung gegen Landwirte an, sagte die deutsche Landwirtschaftsministerin. Das sei der Kommission nicht würdig, polterte Klöckner weiter. Ihre Kollegen hätten sich ähnlich emotional und teilweise noch deutlicher geäussert, schob sie nach.
Seit Anfang der 1960er Jahre lässt die EU im Rahmen ihrer GAP den Bauern finanzielle Unterstützung zukommen. Der Sektor war 2018 für 1,6% des Bruttoinlandproduktes (BIP) der EU – damals noch mit Grossbritannien – verantwortlich. Es gibt rund 8,8 Mio. Bauern (2017) und 10,5 Mio. Betriebe (2016).
Die EU lässt sich die Unterstützung der Landwirtschaft seit je eine Stange Geld kosten. Im Jahr 2018 stand den damals 28 EU-Staaten eine Summe von 41,5 Mrd. € für Direktzahlungen zur Verfügung, insgesamt flossen von 2014 bis 2020 jährlich rund 55 Mrd. € in die GAP. Der Sektor ist dabei extrem unterschiedlich strukturiert. Während in Tschechien grosse Betriebe dominieren, gibt es in Rumänien extrem viele kleine Höfe.
Der nächste mehrjährige Finanzrahmen (MFR, 2021 bis 2027) soll ganz im Zeichen des grünen «Deals» der EU-Kommission um Präsidentin Ursula von der Leyen stehen. Dazu sollen auch die Bauern ihren Beitrag leisten. Im MFR sind 3 von 10 € für Klimabelange reserviert, in der Agrarpolitik möchte die Kommission gar 40% der Gesamtsumme von 387 Mrd. € dafür einsetzen.
Und das ist nicht alles. Geld soll nur fliessen, wenn die Empfänger strengere Anforderungen bezüglich Klimaschutz, Biodiversität und Tierwohl erfüllen. Die Bauern müssen demnach etwa Flächen als Dauergrünland bereithalten, Feuchtgebiete und Torfflächen schützen und bei der Fruchtfolge Vorgaben berücksichtigen.
Einen Teil des Geldes erhalten die Bauern zudem nur für Öko-Programme («Eco-Schemes»). Dazu zählt Brüssel die ökologische Landwirtschaft, den Präzisionsackerbau oder auch das «Carbon-Farming», also die Kohlenstoffanreicherung von Böden durch alternative Bewirtschaftung. Die Kommission will so die Bauern hin zu «nachhaltigeren» Formen der Landwirtschaft führen.
Darüber hinaus missfällt Brüssel, dass 80% der Direktzahlungen in den Taschen von lediglich 20% der Empfänger landen. Deshalb will sie diese Subventionen auf 100 000 € pro Nutzniesser beschränken und so anstatt Grossbetrieben stärker Kleinbauern helfen.
Schliesslich plant die Kommission unter dem Slogan «Vom Hof auf den Tisch», bis 2030 den Einsatz von gefährlichen Pestiziden zu halbieren, die Verabreichung von Antibiotika in Vieh- und Fischzucht ebenfalls zu halbieren und den Einsatz von Düngemitteln um einen Fünftel zu verringern. Dazu kommt eine Biodiversitätsstrategie, in deren Rahmen Bäume angepflanzt, Schutzzonen geschaffen, Bienen gerettet und Flüsse renaturiert werden sollen. Das alles möchte Brüssel über Grundanforderungen und Ökoprogramme den Bauern auftragen.
Kaum erstaunlich haben die Landwirte aber wenig Lust, sich von der Kommission dreinreden zu lassen. Sie möchten lieber weiter möglichst viel Geld mit möglichst wenig Auflagen. Auch von einer Deckelung der Direktzahlungen halten sie wenig. Entsprechend hat sich die Bauernlobby bei EU-Parlamentariern und Landwirtschaftsministern für Änderungen an den Vorschlägen der Kommission eingesetzt.
In der zweiten Oktoberhälfte einigten sich dann der Rat der Mitgliedstaaten und das EU-Parlament auf ihre Standpunkte zur neuen GAP. Beide Institutionen wichen von den Kommissionsvorschlägen ab. Parlament und Rat wollen es den Mitgliedstaaten überlassen, ob sie die Direktzahlungen bei 100 000 € kappen. Die Finanzierung von Öko-Programmen soll flexibler gestaltet werden und auch eine andere Verwendung dieser Gelder erlauben. Und schliesslich zeigen sich beide Institutionen nachsichtiger, was die ökologischen Mindestanforderungen für Direktzahlungen betrifft.
Kritiker sprachen von einer inakzeptablen Aufweichung der Umweltvorgaben und gar von der Beerdigung des «Green Deal». Landwirtschaftskreise sahen darin jedoch eine Beschränkung auf das realistisch Machbare. Klöckner ihrerseits hatte die Ideen aus Brüssel auch schon als «Visionen» bezeichnet, welche über dem Acker «schwebten» und zum Teil nicht sehr viel mit der Realität zu tun hätten.
Rat und Parlament müssen sich nun auf gemeinsame Positionen einigen. Da die beiden Institutionen sich aber bei gewissen Abweichungen bereits vor dem Start des sogenannten Trilogs mit der Kommission einig waren, dürften gewisse Standpunkte der Kommission wegfallen.
Entsprechend sah der Green-Deal-Kommissar und Vizepräsident Timmermans seine Felle davonschwimmen, was ihn zu seinen Stellungnahmen veranlasst haben dürfte. Die GAP müsse höheren Anforderungen an Klimaschutz, Biodiversität, Nachhaltigkeit und faire Einkommen für Bauern genügen, schrieb er auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Timmermans zeigte sich gegenüber der ARD «sehr enttäuscht» und erinnerte wie erwähnt an die Möglichkeit der Kommission, eine Vorlage zurückzuziehen, wenn sich Rat und Parlament zu weit von dem ursprünglichen Vorschlag entfernten. Zahlreiche Umweltschutzorganisationen um Greenpeace und WWF haben die Kommission in einem Schreiben zu genau diesem Schritt und einer Neuauflage der GAP aufgefordert. Das löste den erwähnten Aufschrei der Agrarminister aus.
Ursula von der Leyen versuchte die Wogen zu glätten. Sie habe nicht die Absicht, die Vorlage zurückzuziehen, schrieb die Präsidentin aufgebrachten EU-Parlamentariern. Sie zeigte sich vielmehr überzeugt davon, dass die GAP im Rahmen der Trilog-Gespräche noch in eine «für den Zweck geeignete» Form gebracht werden könne.
Ob das gelingt, wird sich zeigen. Die Unterhändler haben für eine Einigung noch etwas Zeit. Denn bereits im Sommer wurde beschlossen, dass die Bauern 2021 und 2022 in einer Übergangsphase noch gemäss den alten Vorschriften unterstützt werden. NZZ, 20. November 2020, S. 21
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Reform der EU-Landwirtschaftspolitik - Greenwashing statt Agrarwende Die Agrarminister der EU-Länder haben sich am 21. Oktober 2020 auf eine Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) nach 2020 verständigt. Während Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner von einem Durchbruch spricht, kritisieren Umweltorganisationen die Einigung als Scheinpolitik.
Der Kompromiss sieht vor, dass landwirtschaftliche Betriebe, die Umweltprogramme nutzen, 20 Prozent der Direktzahlungen erhalten sollen. Das Europäische Parlament hatte sich dafür ausgesprochen, 30 Prozent der Direktzahlungen an Umweltauflagen zu knüpfen. Die Mitgliedstaaten und die Abgeordneten müssen sich nun auf eine gemeinsame Linie einigen, damit die Reform in Kraft treten kann.
Umweltorganisationen bemängeln, dass der Großteil der 387 Milliarden Euro Subventionen - etwa ein Drittel des EU-Budgets - weiterhin als Direktzahlungen auf Basis der Flächengröße der Betriebe fließen sollen - und zwar ohne Umweltauflagen. Zudem monieren die Verbände, dass die osteuropäischen Staaten eine zweijährige Übergangsfrist durchgesetzt haben. Gelder, die während dieser Zeit nicht für Umweltprogramme abgerufen werden, können wie bisher auch ohne Auflagen verwendet werden.
„Die vorliegenden Ergebnisse sind herber Rückschlag für den Umwelt-, Natur- und Tierschutz. Anstatt die EU-Agrarpolitik in Einklang mit den Anforderungen des Green Deals zu bringen und den Stopp des Höfe- und Artensterbens zur politischen Zielvorgabe zu machen, wurde einmal mehr reines Greenwashing betrieben", sagte Florian Schöne, Politischer Geschäftsführer des Deutschen Naturschutzrings (DNR). Aber das letzte Wort sei noch nicht gesprochen. Denn es folgen noch die Trilog-Verhandlungen zwischen Rat, Parlament und Kommission. „Die EU-Kommission hat mit ihrem Green Deal den Ton gesetzt. Es liegt in ihrer Verantwortung, diese Grundsätze in der neuen GAP zu verankern – ansonsten bleibt der Green Deal ein tragischer Deal ohne konkreten Nutzen“, so Schöne weiter.
„Wie so die Biodiversität geschützt und der Beitrag der Landwirtschaft zum Klimaschutz deutlich erhöht werden kann, bleibt ein Rätsel“, konstatierte der BUND-Vorsitzende Olaf Bandt. So werde die EU-Agrarpolitik nicht grüner und gerechter.
NABU-Bundesgeschäftsführer Leif Miller nannte den Kompromiss einen „gewaltigen Rückschritt für den Umwelt- und Klimaschutz". Die bittere Wahrheit sei: „Mit dem, was verabschiedet wurde, droht das Verschwinden vieler gefährdeter Arten und Lebensräume.“
Jan Plagge, Präsident von Bioland, bezeichnete die Beschlüsse als Angriff auf den Green Deal der EU-Kommission. „Die Ziele der Farm-to-Fork und der Biodiversitätsstrategie, bis 2030 den Ökolandbau der EU-Mitgliedsstaaten auf 25 Prozent auszuweiten, den Pestizid- und Antibiotikaeinsatz zu halbieren, den Düngeeinsatz stark zu regulieren und die Biodiversität zu steigern, sind mit nur 20 Prozent Eco-Schemes nicht zu erreichen.“
Demeter-Vorstand Alexander Gerber forderte konkret: „Insgesamt, über beide Säulen der Agrarpolitik verteilt, müssen mindestens 70 Prozent der Agrargelder so ausgerichtet werden, dass die Nachhaltigkeitsziele der EU erreicht werden!“
Aus Sicht von Thomas Schröder, Präsident des Deutschen Tierschutzbunds, hält zwar „der Tierschutz Einzug in die Eco-Schemes. Damit werden erstmalig auf EU-Ebene Tierschutz-Maßnahmen durch die 1. Säule finanziell gefördert.“ Aber dies sei nur ein Baustein; das gesamte Mauerwerk einer fehlgeleiteten Agrar-Förderpolitik bleibe nahezu unverändert stehen.
DNR Aktuelles, November 2020, https://www.dnr.de/aktuelles/2020/reform-der-eu-landwirtschaftspolitik-greenwashing-statt-agrarwende/
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Euratom – der ewige Rettungsanker der Atomenergie? Der EU-Gründungsvertrag 1957 ermöglicht die uferlose Finanzierung von neuen Atomkraftwerken und die notorische Beforschung neuer Reaktormodelle, wie etwa des Fusionsreaktors ITER. Daran ist auch die Schweiz beteiligt.
Rückblende zu den Anfängen ungebremster Atomeuphorie: Der Euratom-Vertrag stammt aus dem Jahre 1957 und wird zusammen mit dem EWG-Vertrag als die Römischen Verträge bezeichnet. Bis heute ist der Euratom-Vertrag mit seinen Bestimmungen praktisch unverändert geblieben und weiterhin ein eigenständiger Vertrag. Zweck ist die Nutzung und Förderung der Atomkraft. Die Europäische Kommission ist mit der Umsetzung des Vertrags betraut.
Dank Euratom gelingt es vor allem während der 70er und 80er-Jahre tatsächlich, in einigen Ländern massiv Reaktoren zu errichten. 1986 sorgte Tschernobyl für den Stopp, von dem sich die Atomindustrie nie mehr erholen sollte. Dazu führten – neben der Katastrophe in der Ukraine, die auch grosse Teile Europas mit einer radioaktiven Wolke überzog – vor allem Probleme eigener Bauart: extreme Kosten, Bauverzögerungen, wachsende technische Probleme, die sich wiederum aus den höheren Sicherheitsanforderungen ergaben sowie die Liberalisierung der Strommärkte. Diese Liberalisierung führte dazu, dass die Baukosten nicht mehr unlimitiert und unsichtbar in die Stromkosten der Kunden umgelegt werden konnten.
Subventionierung von ungeahntem Ausmass
Euratom privilegiert die Atomenergie nach wie vor auf zahlreiche und schwindelerregende Weise:
• Erstens fördert und unterstützte die Euratom-Kreditfazilität direkt die Errichtung von Atomkraftwerken in EU-Mitgliedstaaten und in Drittstaaten (in Mittel- und Osteuropa) – dies ohne Einbindung des EU-Parlaments oder der Regierungen der Mitgliedstaaten.
• Zweitens: Euratom hat ein eigenes Forschungsprogramm ausschliesslich zur Förderung der Atomenergie. Enorme Summen flossen und fliessen über das Euratom-Rahmenforschungsprogramm weiterhin in die Nuklearforschung. Damit werden sonst unfinanzierbare Grossprojekte mit sehr umstrittener Realisierbarkeit, wie der Fusionsreaktor ITER oder die Reaktoren der sogenannten Generation IV, jahrzehntelang weitergeführt.
• Drittens nutzt die EU-Kommission den Euratom-Vertrag im Nuklearbereich weiterhin verstärkt als Rechtsgrundlage für neue Richtlinien, die ohne Mitentscheidungsrechte des EU-Parlaments beschlossen werden.
Euratom ist nicht nur ein Gründungsvertrag, sondern wird auch über ein Budget und eine Behörde verwaltet, sodass jeder EU-Beitritt eines Landes auch einen Beitritt zu Euratom bedeutet. Jedes Land zahlt Beiträge, die zur Förderung von Atomforschung und -nutzung verwendet werden, u. a. in Form von Krediten und Subventionen für die Atomwirtschaft. Dabei nutzt die Hälfte der Euratom-Mitglieder die Atomenergie überhaupt nicht.
Euratom und Schweiz
Auch der Nicht-EU-Staat Schweiz beteiligt sich an Euratom. Nicht nur an einzelnen Projekten, sondern sie leistet ihre jährlichen Beiträge an das Budget des Euratom-Programms nach demselben Schlüssel wie ein EU-Land. Zur Orientierung: 2017 waren es 13 Millionen, 2019 fast 16 Millionen Schweizer Franken. Seit 1978 beteiligt sich die Schweiz am Euratom-Projekt zur Kernfusion und der Plasmaphysik. Davon profitieren vor allem die ETH Lausanne und das Paul-Scherrer-Institut in Würenlingen.
Schlüssel zur Finanzierung neuer Reaktoren
Während die EU generell staatliche Subventionen zu minimieren sucht, wird – dank Euratom – das Überleben der Atomwirtschaft mit Steuermitteln garantiert. Denn seit den 90er-Jahren ist die noch verbliebene Atomindustrie Europas – mit Ausnahme des staatlichen russischen Konzerns Rosatom – kaum mehr in der Lage, neue Reaktoren zu finanzieren und zu bauen. Dabei handelt es sich nicht um Kredite, sondern Ausnahmen, die rechtlich (nicht unumstritten) auf eben diesem Vertragswerk aufbauen.
Der Fall Hinkley Point C
2005 verkündete die britische Regierung, den Bau neuer Atomkraftwerke wieder aufzunehmen, ohne Subventionen und mit Inbetriebnahme vor 2020. Doch 2013 wird ein Subventionspaket nie da gewesenen Umfangs, finanziell und politisch, der Europäischen Kommission zur Notifizierung vorgelegt. Treffend dann der Kommentar des damaligen Energiekommissars Günter Oettinger, der die 35-jährige Abnahmeverpflichtung zum fixen Preis inklusive Profit für den Betreiber schlicht als «sowjetisch» bezeichnete. Die wichtigsten drei Punkte des Beihilfepakets, eigentlich eines Nothilfepakets:
• Erstens: Beihilfe in Form einer staatlichen Kreditgarantie für die Errichtungskosten in der Höhe von 17 Milliarden Pfund
• Zweitens: Der «Contract for Difference» über den staatlich finanzierten, an den Verbraucherpreisindex gebundenen Abnahmepreis über eine Laufzeit von 35 Jahren, der deutlich über dem Marktpreis liegt und der neben den Kosten für die Investition auch sämtliche Betriebskosten des Kraftwerks deckt.
• Zuletzt noch eine weitere Beihilfe in Form einer Ausgleichszahlung im Falle einer vorzeitigen Schliessung, die ebenfalls alle verbliebenen Kosten und Entsorgungskosten umfasst. Der Clou: Es können auch «politische Gründe», wie etwa höhere Sicherheitsstandards, Ausstiegsregelungen u.ä. geltend gemacht werden.
Somit handelt es sich um ein vollkommen risikofreies Projekt für den französischen Investor EDF. Der Britische Rechnungshof hat diesbezüglich bereits erklärt, dass die Kosten und Risiken, die durch diesen Vertrag gebunden sind, von der Regierung unterschätzt wurden und die KonsumentInnen noch lange für diese zwei Reaktoren teuer zahlen werden müssen.
Im Fall von Hinkley Point C zog die Republik Österreich vor das Europäische Gericht und nun vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH), um den Missstand anzufechten. Erfolglos: Der EuGH hat dieses Jahr endgültig die Auslegung von Euratom gegenüber dem Wettbewerbsrecht bestätigt. Dazu gehört die Erkenntnis, dass Atomstrom «anders» ist als anderer Strom und also separat behandelt und gefördert werden kann – das ermögliche und bezwecke Euratom. Die Atomkraft ist durch den alten Euratom-Vertrag von 1957 heute noch ein klar definiertes Ziel des EU-Rechts.
Und wie werden wir Euratom wieder los?
Eine Auflösung ist der einzige Weg. Aber kein einfacher: Da es sich um einen Gründungsvertrag handelt, ist die Einberufung einer Regierungskonferenz mit den Regierungsvorsitzenden aller EU-Mitgliedstaaten nötig. Das alleine ist eine Herausforderung. Die pronuklearen Staaten sind zwar nicht in der Mehrheit, aber meist grosse Mitgliedstaaten (Frankreich) oder sehr klar aufgestellt und laut, wie die Tschechische Republik, die Slowakei, Bulgarien, Rumänien und seit neuestem auch Polen (auch wenn dort das erste AKW vielleicht nie gebaut wird). Und dann müssten sich die Staaten einstimmig auf Auflösung oder radikale Reform einigen. Technisch wäre das kein Problem: Die wenigen notwendigen Regelungen wie etwa Strahlenschutz könnten in den EU-Vertrag übernommen werden, die Kontrolle über das Spaltmaterial würde wie für alle anderen Staaten der Welt von der Internationalen Atomenergie-Organisation (eine UN-Behörde) durchgeführt werden.
Es gibt in der Tat immer wieder Vorstösse von einzelnen Staaten oder Gruppen für eine Reform oder Auflösung. Es braucht noch einen Anlass, etwa wenn die EU-Kommission die Kreditlinie von Euratom befüllen möchte. Denn dann würde auch eine heftige öffentliche Diskussion über die vollkommen disproportionale Förderung der Atomkraft entstehen – und könnte den Anfang vom Ende des Atomvertrags der EU bedeuten. Von Patricia Lorenz, Atomexpertin bei «Friends of the Earth Europe» und GLOBAL2000. www.foeeurope.org, www.global2000.at, https://www.energiestiftung.ch/id-2020-4-euratom-der-ewige-rettungsanker-der-atomenergie.html, Energie und Umwelt, 2020, Nr 4. https://www.energiestiftung.ch/files/energiestiftung/publikationen/energie-und-umwelt/e-u_4_2020.pdf
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EU: Dürfen Geheimdienste bald unsere Chats und WhatsApp Nachrichten lesen? Im Eilzugstempo plant die EU nach dem Anschlag in Wien, den Ausbau der Überwachungsmaßnahmen wie Verschlüsselungsverbot für Chat und Whatsapp Nachrichten, Vorratsdatenspeicherung und upload Filter. Unter dem Vorwand der Anti-Terrobekämpfung erfolgen weitere Einschnitte in unsere Grund-und Freiheitsrechte.
Nur wenige Tage nach dem Terroranschlag in Wien vom 2. November 2020 nutzt die EU die Gelegenheit, weitere Überwachungsmaßnahmen aus der Lade zu ziehen. Der EU-Ministerrat will noch im Dezember 2020 ein Verbot sicherer Verschlüsselung für Services wie WhatsApp, Signal & Co im Schnellsiedeverfahren durchzusetzen. Sie sollen verpflichtet werden, sogenannte Nachschlüssel (Generalschlüssel) in Ende-zu-Ende-verschlüsselte (E2E) Chats einzuschleusen und diese bei Behörden zu hinterlegen, wie aus einem internen Dokument der deutschen Ratspräsidentschaft an die Delegationen der Mitgliedsstaaten im Rat hervorgeht, das ORF.at vorliegt.
Zusätzlich wird eine „gezielte Vorratsdatenspeicherung“ für Chats gefordert. Bereits im Juni 2019 haben die EU-Justizminister die EU-Kommission beauftragt eine Studie für mögliche Lösungen und etwaige Gesetze für eine neue Vorratsdatenspeicherung vorzulegen. Eine Arbeitsgruppe soll erörtern, wie die Vorgaben des EuGH der bereits zwei Richtlinien zur Vorratsdatenspeicherung für unvereinbar mit den Grundrechten erklärt hat, umgangen werden könnten. „Es brauche Vorgaben, die sich nach den Bedürfnissen der Strafverfolger richten“, so der Entschluss der Arbeitsgruppe.
Die beiden Überwachungsmaßnahmen „Verschlüsselungsverbot“ und „gezielte Vorratsdatenspeicherung“ führen nach Beschluss dazu, dass u.a. Geheimdienste wie GCHQ, DGSE, BND - die wegen zunehmender Transportverschlüsselung immer weniger verarbeitbare Daten absaugen können, und deswegen nach solchen Generalschlüsseln verlangen – sich in Chats der Nutzer und Nutzerinnen unerkannt einklinken und mitlesen können und den Inhalt auch speichern dürfen. Das pervertiert den Sinn von Verschlüsselung und ist ein Angriff auf das Briefgeheimnis, Privatsphäre, die Grund und Freiheitsrechte.
Das Papier des Ministerrats enthält auch eine Menge von Maßnahmen, die die grenzüberschreitende Polizeizusammenarbeit verbessern sollen. Der Anschlag in Wien stellt eine Ausweitung der Befugnisse in Frage, wenn bestehende Gesetze und Informationen nicht genutzt werden. Dem BVT, wurden von zwei anderen Diensten zweimal Informationen auf dem Silbertablett serviert, die nicht genutzt wurden, um den Terroranschlag zu verhindern.
Gleichzeitig zu diesen Überwachungsmaßnahmen soll eine EU-Anti-Terror-Verordnung mit umfangreichen Filterpflichten für die Provider beschlossen werden. Knackpunkt dabei sind die geplanten Upload-Filter für einschlägige Videos. Diese Verordnung wurde direkt nach den Terroranschlägen in Paris gestartet. So wie die Vorratsdatenspeicherung von Metadaten aus den Telefonnetzen nichts mit dem Hergang der Bombenanschläge auf Madrider Bahnhöfe (2004) und die Londoner U-Bahn (2005) zu tun hatten, so stehen auch die nun geplanten Filterpflichten, um „terroristische Inhalte“ schon beim Upload zu blockieren, in keinerlei Zusammenhang mit diesen Anlassfällen.
Mittlerweile wird immer klarer, dass offenbar haarsträubende Ermittlungsfehler im BVT den Anschlag erst ermöglicht hatten und nicht fehlende digitale Überwachungsbefugnisse. Ob irgendein solcher Zusammenhang zur Tat besteht, ist allerdings unerheblich. In Brüssel wird so ein Anlass seit 25 Jahren mit „schnöder Regelmäßigkeit dafür missbraucht, längst geplante Überwachungsvorhaben durchzusetzen“, wie der renommierte FM4-Journalist Erich Moechel betont.
Der Ausbau der Überwachungsmaßnahmen dient nicht - wie vorgegeben - unserer Sicherheit, er dient vielmehr der Einzementierung einer Politik, die immer mehr soziale und politische Unsicherheit und Ohnmacht für die große Mehrheit der Bevölkerung schafft: Sozialabbau, neoliberaler Freihandel, Militarisierung, Demokratieabbau. Über EU-Vorgaben - EU-Fiskalpakt, EU-Freihandelsabkommen (CETA, JEFTA, TiSA & Co) oder EU-SSZ/Pesco – wird diese Politik von oben durchgesetzt. Die gewählten Parlamente werden immer mehr entmündigt. Als „post-demokratisch“ bzw. „prä-diktatorisch“ bezeichnen Sozialwissenschaftler mittlerweile diese Politik. Der Ausbau von Überwachung und Bespitzelung dient letztlich der Einschüchterung und Kriminalisierung von Widerstand gegen diese undemokratische Politik, soll apathisch machen, Misstrauen schüren und Menschen auseinanderdividieren. Dem gilt es entgegenzuwirken.
Eveline Steinbacher, www.solidarwerkstatt.at (Werkstatt-Blatt 4/2020) (November 2020)
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Trojanisches Pferd Es lohnt sich beim ,,Wiederaufbaufonds" der EU auch das Kleingedruckte zu lesen. Denn damit Länder an die Mittel kommen, müssen sie nationale Reformpläne bei der EU-Kommission vorlegen. Die Brüsseler Behörde überprüft anschließend, ob die Pläne den Vorgaben entsprechen. Klimaschutz, Digitalisierung und nicht näher bestimmte ,,Reformen" sollen dabei im Vordergrund stehen. Als Rahmen gilt dabei das so genannte ,,europäische Semester", mit dem die Brüsseler Behörde schon jetzt die Wirtschafts- und Finanzpolitik in den EU-Ländern zu steuern versucht. Ein Blick darauf, welche ,,Reformen" die EU-Kommission in der Vergangenheit über das ,,europäische Semester" durchzusetzen versuchte, sollte nachdenklich stimmen. Eine Studie hat ergeben, dass die EU-Kommission im Zeitraum 2011 bis 2018 von den EU-Staaten gefordert hat, 109-Mal die Pensionen zu verschlechtern, 63-Mal im Gesundheitsbereich zu kürzen bzw. zu privatisieren, 50-Mal das Lohnwachstum einzuschränken, 39-Mal Kündigungsschutz und Gewerkschaftsrechte zu beschneiden, 35-Mal Ausgaben für Arbeitslose und Menschen mit Behinderungen zu kürzen (1).
Es gibt schon deutliche Stimmen aus der EU-Kommission, jene Forderungen, die man im ,,europäischen Semester" bislang nicht durchsetzen konnte, mit dem ,,Wiederaufbaufonds" Nachdruck zu verleihen. EU-Wirtschafts-Kommissar Paolo Gentilonie: ,,Ich bin sicher, dass die Mitgliedsstaaten, wenn man bedenkt, was auf dem Spiel steht, diesen Empfehlungen Beachtung schenken werden" (2). Die EU-Kommission verteilt in einer ,,technischen Note" bereits Empfehlungen an die EU-Staaten, wie man Sozialabbau möglichst effektiv gegenüber ,,spezifischen Gruppen" wie,, Arbeitern, Rentnern, Beschäftigten im öffentlichen Dienst, Kranken und Familien und Kindern" durchsetzt (sh. Artikel oben).
«Sozialstaat zu einem Auslaufmodell machen"
Ab 2021 werden laut Aussage von EU-Kommissions-Präsidentin Van der Leyen auch wieder die drakonischen Budgetvorgaben des EU-Fiskalpakts in Kraft gesetzt. Ein Kriterium betrifft die Gesamtverschuldung: Diese muss jedes Jahr um ein Zwanzigstel der Differenz zwischen dem aktuellen Verschuldungsstand und dem 60%-Ziel (gemessen am Bruttoinlandsprodukt) reduziert werden. In der Coronakrise ist diese Verschuldung rasant angestiegen, um den völligen Einbruch der Wirtschaft zu verhindern. Sollte die Konjunktur nur schleppend anspringen, wird damit der dauerhafte Kürzungsdruck auf die nationalen Haushalte enorm.
Damit könnten viele Staaten in eine Doppelmühle geraten: Die nationalen Staatsausgaben müssen reduziert werden, um die EU-Fiskalregeln zu erfüllen; zu den Geldern aus dem ,,Wiederaufbaufonds" kommt man aber nur, wenn die Vorgaben der EU-Kommission erfüllt werden. Dieser ,,Wiederaufbaufonds" könnte sich somit als Trojanisches Pferd entpuppen, mit dem die EU-Technokratie ihr altes Programm mit neuem Druck durchzupeitschen versucht. Dieses Programm hat Mario Draghi, damals Chef der EZB, bei der Einführung des EU-Fiskalpakts schnörkellos vorgestellt: ,,Den europäischen Sozialstaat zu einem Auslaufmodell machen" (3).
Quellen:
(1) https : / /www.dielinke-europa.eu/de/article /12609.neuer-bericht-überwachen-und- strafen-ende-für-den-stabilitäts-und-wachstumspakt.html
(2) zit. nach EurActive,21.5.2020
(3) Mario Draghi in einem Interview im Wallstreet-Joumal, 22. 2. 2012
Werkstatt-Baltt 3/2000, www.solidarwerkstatt.at
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