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Kurzinfos Oktober 2017EU-Umweltrat stimmt gegen ehrgeizige Klimaziele
Freitag, der 13. des Oktobers 2017 war kein guter Tag fürs Klima. Die UmweltministerInnen der EU-28 haben gegen ehrgeizige Klimaziele in den Sektoren Verkehr, Landwirtschaft, Gebäude und Abfall gestimmt. Damit schwächten sie den ohnehin unzureichenden Kommissionsvorschlag zur sogenannten Lastenteilung (Effort-Sharing Regulation, ESR) noch weiter ab. Etliche Umweltverbände kritisierten die allgemeine Ausrichtung scharf.
Der Startpunkt zur Berechnung des Emissionsbudgets für den Zeitraum zwischen 2021 und 2030 ist zu hoch angesetzt. 2020 soll der Startpunkt sein, aber auf den durchschnittlichen Treibhausgasemissionen von 2016 bis 2018 basieren.
Alle Schlupflöcher der derzeit gültigen Effort Sharing Decision werden beibehalten. Neue Schlupflöcher sollen hinzukommen: Zum einen dürfen Zertifikate des Emissionshandelssystems und aus der Landnutzung, Landnutzungsänderung und Forstwirtschaft (LULUCF) auf das nationale Emissionsbudget angerechnet werden. Zum anderen soll eine Sicherheitsreserve mit einem Volumen von 115 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente eingeführt werden. Diese Reserve soll wirtschaftlich schwachen EU-Ländern ab 2032 zur Verfügung stehen, wenn sie ihre 2030-Klimaschutzziele unter der ESR nicht erfüllen.
Florian Schöne, Generalsekretär des Deutschen Naturschutzrings, kommentierte: „Ehrlicher Klimaschutz sieht anders aus. In Sonntagsreden und auf der internationalen Bühne unterstützen die EU-Staaten das Pariser Klimaabkommen. Bei der konkreten Ausgestaltung eines klimaneutralen Umbaus aller Wirtschaftsbereiche, wie sie das Abkommen von uns verlangt, fehlt jedoch bisher der politische Wille.“
Auch europäische Umweltverbände wie CAN Europe und Carbon Market Watch zeigten sich sehr enttäuscht von der Entscheidung der UmweltministerInnen.
Mit der Position des Umweltrates können nun die Trilogverhandlungen mit EU-Kommission und –Parlament beginnen. 19. Oktober 2017, http://www.eu-umweltbuero.at/inhalt/umweltrat-stimmt-gegen-ehrgeizige-klimaziele
EU-Beschlüsse zu Amazon und Apple Die EU-Kommission hat am 4. Oktober 2017 zwei Beschlüsse bezüglich unzulässiger Steuerprivilegien gefasst. Zum einen ist sie auf Basis einer 2014 eröffneten vertieften Untersuchung zum Schluss gekommen, dass Luxemburg dem amerikanischen Online-Versandhändler Amazon unzulässige Staatshilfe in Form von selektiven Steuervorteilen gewährt habe. Deshalb ordnete sie an, das Grossherzogtum müsse die entgangenen Steuern nachfordern. Es geht um rund 250 Mio. € zuzüglich Zinsen. Zum andern beschloss sie, Irland an den Gerichtshof der EU (EuGH) zu verweisen, weil das Land eine Steuernachforderung an den US-Technologiekonzern Apple von bis zu 13 Mrd. € noch immer nicht eingetrieben hat.
Im Amazon-Fall ist die Steuerbelastung des Konzerns durch ein Steuer-Ruling (einen Steuervorbescheid) reduziert worden, das die Luxemburger Behörden 2003 ausgestellt und 2011 verlängert hatten. Der US-Konzern betreibt in Luxemburg die Tochtergesellschaft Amazon EU, die über 500 Mitarbeiter hat und für das Detailhandelsgeschäft in ganz Europa zuständig ist: Sämtliche in Europa getätigten Verkäufe sowie die damit erzielten Gewinne wurden in Luxemburg verbucht.
Das Ruling ermöglichte es, den grössten Teil dieser Gewinne von der Gesellschaft Amazon EU, die in Luxemburg steuerpflichtig ist, auf die ebenfalls im Grossherzogtum ansässige Amazon Europe Holding Technologies zu übertragen, die wegen ihrer Rechtsform als Kommanditgesellschaft nicht der Luxemburger Körperschaftsbesteuerung unterlag. Diese Holding hat laut Kommission weder Mitarbeiter noch Büroräume, noch hat sie Geschäftstätigkeiten ausgeübt. Sie sei nur eine leere Hülle gewesen, sagte die EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager vor den Medien.
Amazon EU zahlte der Amazon Europe Holding Technologies eine Lizenzgebühr für die Nutzung von Rechten an geistigem Eigentum des Konzerns. Dies reduzierte den zu versteuernden Gewinn von Amazon EU. Der Kern des Problems liegt darin, dass die durch das Steuer-Ruling genehmigten Lizenzgebühren laut Kommission künstlich aufgebläht und die Gewinne entsprechend gedrückt worden sind. Im Durchschnitt hätten sich die Lizenzgebühren auf mehr als 90% der Betriebsgewinne der Amazon EU belaufen und seien auch wesentlich höher gewesen als der Betrag, den die Holding an die Muttergesellschaft in den USA habe zahlen müssen, schreibt die Behörde.
Auf diese Weise führte das Steuer-Ruling dazu, dass Amazon auf drei Viertel der aus dem EU-Umsatz erzielten Gewinne keine Steuern zahlen musste. Umgekehrt hätte ein lokales Unternehmen auf denselben Gewinn viermal so viel Steuern abführen müssen, sagte Vestager.
Die gegen das EU-Beihilferecht verstossende Bevorzugung von Amazon dauerte von Mai 2006 bis Juni 2014. Die Brüsseler Wettbewerbshüter schätzen, dass Luxemburg dem Konzern in dieser Zeit eine Steuervergünstigung von insgesamt rund 250 Mio. € gewährt hat. Diese Summe zuzüglich Zinsen muss Luxemburg von Amazon nachfordern. Die Ermittlung des genauen Betrags ist Sache des Grossherzogtums.
Die Luxemburger Regierung hielt in einer Stellungnahme fest, sie werde den Entscheid analysieren und behalte sich alle Rechte vor. Amazon sei im Einklang mit den damals gültigen Steuerregeln besteuert worden, weshalb man darin keine unzulässige Staatshilfe sehe.
Die EU-Kommission untersucht seit 2013 die Praxis der Mitgliedstaaten im Bereich der – an sich legalen – Steuer-Rulings. Schon im Oktober 2015 kam sie zum Ergebnis, dass Luxemburg und die Niederlande Fiat bzw. Starbucks selektive Steuervorteile gewährt hätten. Im Januar 2016 stellte sie unzulässige belgische Privilegien für mindestens 35 Unternehmen fest, und im August 2016 folgte ein Entscheid gegen Irland im erwähnten Apple-Fall. Nirgends sonst ging es um einen so hohen Betrag wie bei Apple. Noch hängig sind Untersuchungen gegen Luxemburg in den Fällen McDonald's und Engie (vormals GDF Suez). Auch in den übrigen Fällen ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, da eine Reihe von gerichtlichen Klagen hängig sind.
Der Streit um die Steuervorteile für Apple wiederum droht mit dem Beschluss, Dublin vor den EuGH zu ziehen, zu eskalieren. Die EU-Kommission war Ende August 2016 auf Basis einer 2014 eingeleiteten Untersuchung zum Schluss gekommen, dass Irland dem US-Konzern unzulässige Staatshilfe in Form von selektiven Steuererleichterungen gewährt habe. Apple habe deutlich weniger Steuern zahlen müssen als andere Unternehmen, hielt sie damals fest. Ermöglicht wurde die strittige Konstruktion durch zwei Steuer-Rulings der irischen Behörden.
Die Kommission bezifferte die zwischen 2003 und 2014 gewährten Vorteile auf bis zu 13 Mrd. €. Sie ordnete an, dass Irland den genauen Betrag zu ermitteln und nachzufordern habe. Dafür setzte sie wie üblich eine Frist von vier Monaten ab der amtlichen Mitteilung des Kommissionsbeschlusses. Damit soll die durch die Beihilfe geschaffene Wettbewerbsverzerrung beseitigt werden. Die Frist lief am 3. Januar 2017 ab.
Bisher aber habe Irland den Betrag noch nicht einmal teilweise zurückgefordert, sagte Vestager vor den Medien. Statt dessen hat die irische Regierung den Kommissionsentscheid vor dem EuGH angefochten. Eine solche Klage hat indessen keine aufschiebende Wirkung; Irland müsste den Betrag trotzdem zurückfordern, könnte ihn aber bis zum Abschluss des noch hängigen Verfahrens auf einem Treuhandkonto deponieren.
Vor diesem Hintergrund zieht nun die Kommission ihrerseits die Iren vor den EuGH. Kommt Dublin dessen Urteil nicht nach, kann die Brüsseler Behörde beim Gerichtshof in einem weiteren Schritt die Verhängung einer Geldbusse gegen Irland beantragen.
So weit muss es allerdings nicht kommen, zumal Dublin neben Enttäuschung über die Kommission auch Kooperationsbereitschaft signalisierte. Irland habe zwar die Analyse des Falls durch die Kommission nie akzeptiert respektiere aber die Rechtsstaatlichkeit in der EU, schrieb die irische Regierung in einer ersten Reaktion. Man arbeite intensiv daran, den Nachforderungspflichten baldmöglichst nachzukommen. Man habe in dieser komplexen Sache grosse Fortschritte gemacht und stehe kurz vor der Errichtung eines Treuhandfonds. Die Arbeit daran werde trotz dem «völlig unnötigen Schritt» der Kommission weitergeführt. NZZ, 5. Oktober 2017, S. 25
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EU beschließt neue Maßnahmen gegen Lohndumping Entsandte Arbeitnehmer aus einem anderen EU-Land sollen künftig grundsätzlich genauso bezahlt werden wie einheimische Kollegen. Dies ist Teil einer Reform der Entsenderichtlinie, auf die sich die EU-Sozialminister in Luxemburg geeinigt haben. Den Durchbruch gab EU-Sozialkommissarin Marianne Thyssen auf Twitter bekannt.
Die Entsenderichtlinie von 1996 regelt den Einsatz von Beschäftigten in anderen EU-Ländern. Schon jetzt sind Mindeststandards für diese Beschäftigten vorgeschrieben, etwa die Bezahlung des geltenden Mindestlohns. Gewerkschafter beklagen jedoch Schlupflöcher und Missbrauch. Ausländische Arbeitnehmer würden ausgebeutet und örtliche Sozialstandards damit ausgehöhlt. Nach Angaben der EU-Kommission verdienen entsandte Arbeitnehmer derzeit oft nur halb so viel wie einheimische Beschäftigte. Die Reform soll dies ändern.
Ziel ist, Beschäftigte besser vor Lohn- und Sozialdumping zu schützen. Deshalb sollen Entsendungen künftig in der Regel nicht länger als zwölf Monate dauern, in Ausnahmen 18 Monate, wie aus Verhandlungskreisen bekannt wurde. Das Transportgewerbe bleibt zunächst von den neuen Regeln ausgenommen.
Über die 2016 von der EU-Kommission vorgeschlagene Reform war mehr als eineinhalb Jahre diskutiert worden. Die Befristung und die Ausnahmen für Lastwagenfahrer waren bis zuletzt umstritten.
Von den Regeln sind europaweit Millionen Arbeitnehmer betroffen. In Deutschland waren 2016 nach Gewerkschaftsangaben etwa 561.000 Beschäftigte aus Italien, Spanien oder den östlichen EU-Ländern tätig, die meisten nach Regeln der Entsenderichtlinie.
Zwischen den EU-Ländern gehen die Interessen aber weit auseinander. Vor allem Frankreich beharrte auf strengeren Regeln, um einheimische Beschäftigte vor Lohndumping zu schützen. Die osteuropäischen Länder kritisierten, westliche Staaten wollten ihre Arbeitsmärkte abschotten. Den Kompromiss trugen letztlich nicht alle Länder mit, er wurde allerdings mit einer Mehrheit angenommen, wie es aus Verhandlungskreisen hieß. Spiegel online, 24.10.2017.
Die Verschärfung der Entsenderichtlinie kann Auswirkungen auf die Schweiz haben. Ihr bilaterales Freizügigkeitsabkommen mit der EU sieht neben der Personenfreizügigkeit auch eine zeitlich beschränkte Dienstleistungsfreiheit von bis zu 90 Tagen pro Jahr vor; es liberalisiert also die personenbezogene grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung. Und das Abkommen verweist auf die EU-Entsenderichtlinie in ihrer Version von 1996. Mit ihrem Entsendegesetz zur Einführung «flankierender Massnahmen» hat die Schweiz ähnliche Vorgaben beschlossen. So sind bestimmte in der Eidgenossenschaft geltende minimale Arbeits- und Lohnbedingungen auch auf die in die Schweiz entsandten Arbeitnehmer anzuwenden. Die Liste der einzuhaltenden Normen und der betroffenen Bereiche entspricht derjenigen der EU-Entsenderichtlinie. Nach Auskunft des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) muss die Schweiz allfällige Weiterentwicklungen des EU-Entsenderechts nicht automatisch übernehmen. Das bilaterale Abkommen sieht indessen vor, dass im Gemischten Ausschuss, in dem Vertreter beider Seiten sitzen, derartige Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf das Funktionieren des Abkommens besprochen werden. Zu prüfen ist dies laut Seco, sobald die EU-Neuerungen definitiv sind. Auftrieb verschaffen kann die EU-Entwicklung damit jenen Kräften, die auch in der Schweiz nach einer Verschärfung der flankierenden Massnahmen rufen. NZZ, 25. Oktober 2017, S. 1.
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Es lebt sich gut abseits des Euro-Raums Zwar erfüllt Tschechien alle Konvergenzkriterien zur Übernahme des Euro. Einen Termin für dessen Einführung hat man aber keinen festgelegt. Und die Fixierung eines solchen Datums wird auch in absehbarer Zukunft keine Priorität haben. In Brüssel sieht man dies ungern. So forderte der EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker eine Ausdehnung der Währungsunion. Er erinnerte Länder wie Tschechien daran, dass sie sich mit dem Beitritt zur EU auch zur Übernahme des Euro verpflichtet hätten. Auf taube Ohren stösst dieser Appell nicht nur bei der Regierung. Auch die meisten übrigen Parteien und die Mehrheit des Volks lehnen eine baldige Einführung des Euro klar ab. Die Skepsis hat ihre Gründe: So hat das ostmitteleuropäische Land die vor zehn Jahren ausgebrochene Finanzkrise nicht zuletzt deshalb recht gut gemeistert, weil es mit einer autonomen Geldpolitik flexibel reagieren konnte und nicht im Korsett des Euro gefangen war. Auch finanzpolitisch ist Tschechien weit solider unterwegs als die meisten Euro-Staaten. Diese gute Position will man nicht in einer Haftungsgemeinschaft mit überschuldeten Euro-Staaten aufs Spiel setzen. Mit der tiefsten Arbeitslosenquote der EU und einer der höchsten Wachstumsraten Europas zeigt das Land eindrücklich, dass es sich als EU-Mitglied ausserhalb des Euro-Raums gut leben lässt. Junckers Aufrufe verhallen daher ungehört. NZZ, 21. Oktober 2017, S. 42
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Kalte Regeln EU-Flüchtlingspolitik-kritischer Artikel im Le Monde diplomatique vom Oktober 2017 (S. 6 f.). http://www.taz.de/Aus-Le-Monde-diplomatique/!5454209/
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Die EZB verlängert extreme Geldpolitik Die Europäische Zentralbank (EZB) hat ihre ultraexpansive Geldpolitik ein weiteres Mal verlängert. Statt bis Ende 2017 wird sie mindestens bis inklusive September 2018 überwiegend Schuldpapiere von Ländern der Euro-Zone in Milliardenhöhe kaufen. Allerdings reduzierte die Währungsbehörde das monatliche Kaufvolumen von 60 Mrd. auf 30 Mrd. €. Insgesamt erhöht sich damit das Volumen ihrer Wertpapierkäufe um weitere 270 Mrd. €. Ende September wird sie dann Wertpapiere über insgesamt 2,55 Bio. € erworben haben.
Mit der Verringerung des monatlichen Kaufvolumens leiteten Präsident Mario Draghi und die Mehrheit des EZB-Rats eine langsame Entwöhnung der Finanzmärkte von der Droge der extrem grosszügigen Geldpolitik ein. Die Leitzinsen in der Euro-Zone gemessen am Hauptrefinanzierungssatz der EZB bleiben aber bei 0%, und Banken müssen für Einlagen bei der Notenbank weiter Strafzinsen in Höhe von 0,4% zahlen. Die Zinssätze sollen bis weit nach Ende des Anleihe-Kaufprogramms auf diesem Niveau bleiben. Ökonomen rechnen frühestens im ersten Quartal 2019 mit einer Zinserhöhung durch die EZB. Was die Regierungen von hochverschuldeten Euro-Ländern wie Italien und Griechenland freuen dürfte, ist für Sparer und Altersvorsorger eine schlechte Nachricht. Sie werden sich noch sehr lange mit mickrigen Zinsen abfinden müssen. In Folge der EZB-Ankündigungen sanken denn auch der Wert von Obligationen, während die Aktienkurse anzogen.
Die steigenden Gefahren durch die Nebenwirkungen der expansiven Geldpolitik, beispielsweise durch das mögliche Entstehen von Blasen an den Finanzmärkten oder die Verzerrung von Anreizen in der Realwirtschaft, beeindrucken die EZB bis jetzt kaum. Statt sich auf eine schnellere Normalisierung des monetären Umfelds zu konzentrieren, beharren Draghi und die Mehrheit im EZB-Rat darauf, den Kauf von Schuldpapieren im Hinblick auf Umfang und/oder Dauer auszuweiten, sollten sich die Refinanzierungsbedingungen und die Inflationsaussichten im Euro-Raum eintrüben.
Dass die EZB ihr Kaufprogramm verringert, obwohl sich in Sachen Konjunktur und Inflationsausblick in den letzten Monaten in der Euro-Zone eigentlich kaum etwas getan hat, dürfte in allererster Linie damit zusammenhängen, dass der Zentralbank unter den von ihr selbst gesetzten Bedingungen langsam die zum Kauf zur Verfügung stehenden Staatsanleihen ausgehen. Das ist bei kleineren Ländern wie Estland, Litauen oder der Slowakei schon längst der Fall und gilt zunehmend auch für grosse Staaten wie Deutschland. Insofern wirkt die Ankündigung einer möglichen Ausweitung des Kaufprogramms nicht sehr glaubwürdig, es sei denn, die EZB würde ihre eigenen Parameter über den Haufen werfen. NZZ, 27. Oktober 2017, S. 25
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Miese Tricks Ein diffamierender deutscher Zeitungsbericht und sein mutmaßlicher deutscher Stichwortgeber in der EU-Bürokratie belasten in zunehmendem Maß die Verhandlungen über den britischen Austritt aus der Union. Martin Selmayr, Kabinettschef von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, wird vorgeworfen, angebliche Inhalte eines internen Gesprächs zwischen Juncker und der britischen Premierministerin Theresa May an eine deutsche Zeitung weitergeleitet zu haben. Die - laut Juncker unzutreffenden - Inhalte sind geeignet, Großbritannien in den Brexit-Verhandlungen schweren Schaden zuzufügen. Selmayr, der schon vor Monaten erklärte, der Brexit werde "nie ein Erfolg", gilt als mächtigster Beamter in Brüssel. Über ihn heißt es, er kontrolliere nicht nur den Zugang zu Juncker; er "regiere" auch "sehr autoritär". Neben ihm sind noch weitere Deutsche an Schlüsselstellen in der EU mit den Brexit-Verhandlungen befasst.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7430/, 27.10.2017
"Um Hilfe gefleht"
Auslöser für den jüngsten Konflikt um Martin Selmayr, den deutschen Kabinettschef von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, war ein Presseartikel vom vergangenen Sonntag, in dem ein Politikredakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die Auseinandersetzungen um den Austritt Großbritanniens aus der EU ("Brexit") behandelte.[1] Gegenstand des Artikels war unter anderem die Schilderung eines internen Abendessens, zu dem sich Juncker und die britische Premierministerin Theresa May Anfang voriger Woche in Brüssel getroffen hatten. May wurde darin weitschweifig als schwach, planlos und unfähig dargestellt, ihre Partei zu kontrollieren. Sie sei Juncker "ängstlich", "verzagt und mutlos" gegenübergetreten, hieß es; sie habe "tiefe Ringe" unter den Augen gehabt "wie jemand, der nächtelang keinen Schlaf findet". Ihre "Mimik und ihr Auftreten" hätten "Bände" gesprochen; sie habe "äußerste Kraft" aufbringen müssen, "um nicht die Contenance zu verlieren". "Sie flehte um Hilfe", behauptete der Frankfurter Politikredakteur, der seine abschätzige Darstellung der britischen Premierministerin noch dadurch verstärkte, dass er sie mit dem Bild einer politisch stringent agierenden, dabei jedoch ehrenhaft-generös auftretenden EU-Spitze kontrastierte: Man könne zwar "nicht die Probleme der Briten für sie lösen", heiße es im Bundeskanzleramt; doch habe es in Brüssel auch "nicht so aussehen" sollen, als lasse man dort "die Premierministerin abblitzen". Man habe "ihre Niederlage" daher "wenigstens hübsch verpackt".
Der Frankfurter Zeitungsartikel hat nicht nur deswegen hohe Wellen geschlagen, weil er geeignet ist, London in den Verhandlungen Schaden zuzufügen, sondern auch, weil er bereits der zweite seiner Art binnen weniger Monate gewesen ist. Schon am 30. April hatte derselbe Politikredakteur im selben Blatt einen Beitrag publiziert, in dem ebenfalls eine interne Zusammenkunft zwischen May und Juncker ausführlich geschildert wurde. Schon damals war May unter Berufung auf angebliche Gesprächsdetails abschätzig charakterisiert worden - als naiv, illusionär und "rosige[...] Bilder vom Brexit" verbreitend -, während der Autor ihr Juncker als honorigen Fachmann gegenüberstellte, der lediglich "einen ordentlichen Austritt, kein Chaos" wolle.[2] Der Artikel, der wenige Wochen vor der britischen Parlamentswahl veröffentlicht wurde, wurde zutreffend als Versuch eingestuft, zugunsten der Brexit-Gegner in den Wahlkampf einzugreifen. Er hat entsprechend verärgerte Reaktionen im Vereinigten Königreich ausgelöst und nicht unwesentlich dazu beigetragen, das politische Klima zwischen dem Kontinent und Großbritannien zu vergiften.
Als Quelle des Frankfurter Politikredakteurs ist damals recht schnell Martin Selmayr ausgemacht worden. Dies ergab sich daraus, dass der Redakteur interne Informationen über einen Teil der Zusammenkunft verbreitete, bei dem neben Juncker, May und einem ihrer Berater nur Selmayr zugegen gewesen war. Insider berichteten bereits im Frühjahr, Selmayr sei längst dafür bekannt, gelegentlich interne Details an den Frankfurter Redakteur durchsickern zu lassen. Auch diesmal ist der Verdacht wieder auf Junckers Kabinettschef gefallen, zumal erneut keine andere Quelle erkennbar ist: Neben Selmayr waren für die EU nur Juncker und der Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier zugegen gewesen. Insider messen Selmayrs Dementi, das über Twitter erfolgte, deshalb wenig Überzeugungskraft bei. Dabei hat der Bericht, dessen Inhalt in London als nicht nur tendenziös, sondern sachlich falsch eingestuft und dessen Inhalt auch von Juncker bestritten wird, potentiell weitreichende Folgen: Er entzieht künftigen Gesprächen zwischen London und Brüssel jegliche Vertrauensgrundlage, da nun jederzeit mit einem erneuten Durchsickern zutreffender oder unzutreffender Details und einem weiteren, die britische Regierung diffamierenden Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zu rechnen ist. Wohl auch deshalb hat Kanzlerin Angela Merkel verbreiten lassen, sie sei "wütend" über den Artikel [4], der das höchst seltene Kunststück vollbracht hat, in Großbritannien Befürworter und Gegner des Brexit in Empörung zu vereinen.
Dabei wirft der Skandal einmal mehr ein Schlaglicht auf die zunehmend beherrschende Rolle, die deutsches Personal in den obersten Rängen der EU-Bürokratie spielt. Selmayr hat dabei zur Zeit eine Schlüsselposition inne. Er ist an führender Stelle mit dem britischen EU-Austritt befasst, seit er von Juncker im Oktober 2016 beauftragt wurde, mit London erste Vorgespräche darüber zu führen. Seitdem ist er - zuweilen als einziger neben Juncker - auch bei Spitzenverhandlungen über den Brexit präsent. Sein Leitmotiv dabei hat er folgendermaßen formuliert: "Der Brexit wird nie ein Erfolg werden."[9] Dabei ist Selmayr nicht der einzige Deutsche, der im Namen der EU auf höchster Ebene Brexit-Verhandlungen führt. Auch der - neben Juncker - zweite EU-Verantwortliche, der offizielle Brexit-Beauftragte Michel Barnier, hat mit seiner Stellvertreterin Sabine Weyand eine Deutsche an seiner Seite. Über Weyand, die ebenfalls in Gespräche auf höchster Ebene eingebunden ist, heißt es, sie stehe Selmayr durchaus nahe.[10] Brexit-Koordinator der Europäischen Volkspartei (EVP) und Brexit-Sherpa des Europäischen Parlaments ist mit Selmayrs langjährigem Förderer Elmar Brok ebenfalls ein Deutscher. In Verbindung mit der dominanten Stellung der deutschen Kanzlerin in der EU üben deutsche Politiker und Beamte auf allen Ebenen einen entscheidenden Einfluss auf die Brexit-Gespräche aus.
Deutschland befindet sich bezüglich des Brexits bezüglich eigener Interessen in einem Dilemma. Deutsche Wirtschaftsverbände dringen auf ein Ende der Brexit-Provokationen der EU-Kommission. Ein ungeregelter Brexit werde die deutsche Wirtschaft teuer zu stehen kommen, warnte z.B. der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK); man müsse unbedingt zu einer gütlichen Einigung mit London über den britischen EU-Austritt gelangen. Ähnlich äußerte sich der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Mit Blick auf drohende Schäden für die deutsche Wirtschaft, die ein harter Bruch zwischen der EU und Großbritannien verursachen dürfte, rief das Kanzleramt Brüssel zur Mäßigung auf. Andererseits möchte man mit Blick auf das von Deutschland dominierte Grossmachprojekt „Europa“ den Brexit nicht zum Erfolg werden lassen. Mögliche Austrittsinteressenten sollen abgeschreckt werden.
Quellen:
[1] Thomas Gutschker: Ohne Qualen geht es nicht. www.faz.net 22.10.2017.
[2] Thomas Gutschker: Das desaströse Brexit-Dinner. www.faz.net 01.05.2017.
[4] Merkel "wütend" über Bericht zu May und Juncker. www.derstandard.de 24.10.2017.
[9] Florian Eder, David M. Herszenhorn: Brexit will never be a success: Juncker's top aide. www.politico.eu 05.05.2017.
[10] Tom McTague, David M. Herszenhorn: Juncker's "monster" haunts Britain. www.politico.eu 26.10.2017.
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