Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs hat am frühen Samstagnachmittag (13. Dezember 03) die Regierungskonferenz über den Abschluss eines neuen EU- Verfassungsvertrags ohne Erfolg vorzeitig abgebrochen und für die Wiederaufnahme der Arbeiten keinen neuen Termin festgelegt. Das Treffen scheiterte am Unvermögen der Gipfelrunde, sich in der umstrittenen Frage des Stimmrechts im Ministerrat zu einigen.
Die Beteiligten bemühten sich anschliessend, die Tragweite des Misserfolgs herunterzuspielen. Der italienische Premierminister und amtierende EU-Ratspräsident Berlusconi sah das Glas halb voll. Die Chefs hätten sich über die Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik verständigt, und über 80 der in der Vorbereitungsphase der Regierungskonferenz kontrovers diskutierten Vertragsfragen seien praktisch bereinigt worden. Der französische Präsident Chirac meinte, die Verhandlungen seien unterbrochen worden, aber es gebe deswegen innerhalb der EU weder Drama noch Krise. Auch der Präsident des Europäischen Parlamentes, der Ire Pat Cox, beschwichtigte, die EU habe zwar einen Rückschlag erlebt, aber sie sei deswegen nicht ins Unglück gestürzt. Der britische Premierminister Blair betonte, die laufende Diskussion über eine Vertragsänderung erfolge nicht unter dem gleichen Zeitdruck wie jene in Nizza, als sich die EU rasch institutionell erweiterungsfähig habe machen müssen. Dank dem Vertrag von Nizza, ergänzte Chirac, seien die Voraussetzungen für die planmässige Aufnahme von zehn neuen Mitgliedstaaten am 1. Mai 2004 erfüllt.
Nach den Erfahrungen der «langen Nacht» von Nizza, rechtfertigte Blair den Verhandlungsabbruch, hätten die Staats- und Regierungschefs diesmal nicht erneut endlos diskutieren wollen, um am Schluss um jeden Preis eine unbefriedigende Lösung zu bekommen. In Brüssel fand aber ein wirkliches Ringen um eine Einigung nicht einmal ansatzweise statt. Es gab zwar zahlreiche direkte Sondierungsgespräche des italienischen Ratspräsidenten mit einzelnen Kollegen und parallel dazu bilaterale und trilaterale Treffen zwischen einzelnen Delegationen. Aber weder die Präsidentschaft noch einer oder mehrere der Mitgliedstaaten zusammen legten einen Kompromissvorschlag zur Stimmengewichtung auf den Tisch und hätten so die Runde zur Offenbarung gezwungen, ob nicht doch ein politischer Wille zum Abschluss vorhanden sei. Dies erklärt, weshalb die 25 Staats- und Regierungschefs nur knapp 90 Minuten gemeinsam am Verhandlungstisch sassen. Die Polen jedenfalls reagierten enttäuscht auf den Entscheid Berlusconis, die Verhandlungen abzubrechen, ehe sie überhaupt richtig eingesetzt hatten. Auch der schwedische Premierminister Persson äusserte sich anschliessend verwundert, dass Berlusconi das Handtuch so rasch geworfen habe. Der Italiener rechtfertigte sich mit dem Argument, seine Gespräche hätten ergeben, dass die Positionen zu weit auseinander lägen und eine Einigung unmöglich gewesen sei.
Fehlender Abschlusswille
Der deutsche Europa-Abgeordnete und Beobachter des Europäischen Parlaments in der Regierungskonferenz, Elmar Brok, stellte am Samstagnachmittag betrübt fest, es habe den Staats- und Regierungschefs am politischen Willen gefehlt, abzuschliessen. Chirac, berichteten verschiedene Delegationen, habe bereits am Freitagabend abbrechen wollen. Die einen Beobachter erklärten das Scheitern mit dem Wunsch der Deutschen und Franzosen, insbesondere den hartnäckigen Polen eine Lektion zu erteilen. Schröder und Chirac machten denn auch in ihren öffentlichen Auftritten Madrid und Warschau wegen der zähen Verteidigung ihrer Stimmrechtsvorteile im Vertrag von Nizza für das Scheitern verantwortlich. Chirac hatte den polnischen Ministerpräsidenten Miller schon am Freitag wissen lassen, wer mit Vetodrohungen anreise, könne gleich wieder abreisen.
Kerneuropa als Alternative?
Aus Delegationskreisen wurde aber bekannt, bei einzelnen der im Verlauf der Gespräche er- örterten Kompromissformeln auf der Grundlage der vom Konvent vorgeschlagenen doppelten Mehrheit hätten sich zumindest der spanische Ministerpräsident Aznar und der deutsche Kanzler Schröder, der entschlossenste Verteidiger dieses Modells, bewegt. Dies hätte die Polen in Zugzwang gebracht. So weit sei es aber gar nicht gekommen, weil Frankreich umgehend blockiert habe. Hinter diesem eigenartigen Verhalten sahen Diplomaten das nationale Interesse Frankreichs, das einen Machtverlust im erweiterten Europa befürchte, an einer möglichst raschen Sammlung von Gleichgesinnten in einem straffer geführten Kerneuropa. In seiner Medienkonferenz akzeptierte der Franzose zwar die Erweiterung als eine «unvermeidliche Realität». Aber, fuhr er weiter, es könnten nicht alle Mitgliedstaaten die gleiche Integrationsintensität aufbringen. Deshalb erachte er es nach wie vor als am besten, wenn eine «Pioniergruppe» in Bereichen wie Verteidigung, Wirtschaft oder innere Sicherheit vorangehe. Dieser von Chirac gewünschte Trend hin zu einem Kerneuropa, interpretierten Diplomaten sein Taktieren an der Regierungskonferenz, würde eben Tempo gewinnen, falls die EU tatsächlich auf «Nizza» sitzen bliebe. Auch Schröder sprach von einer logischen Entwicklung hin zu einem Kerneuropa, falls der unterbrochene Verfassungs prozess endgültig scheitern sollte. Deutschland, versicherte er, wünsche dies aber nicht. NZZ, 14. Dezember 03
Vaclav Klaus, tschechischer Präsident
Zitat: NZZ: "Die Schweiz ist ein Land mit beschränkter Sympathie für die EU, wie mehrere Abstimmungen gezeigt haben", das wissen wir Tschechen. Und wir können Ihnen sagen, dass dies im Grund in allen Ländern Europas der Fall ist. Die Schweizer sind da nur einfach aufrichiger". NZZ, 23. Dezember 03, S. 5
Arbeitslosigkeit in der EU
Die Arbeitslosigkeit in der Euro-Zone bleibt unverändert hoch: Im Oktober 03 lag die Arbeitslosenquote wie schon im September bei 8,8%, wie das europäische Statistikamt Eurostat mitteilt. Im Oktober 2002 hatte die Quote bei 8,5% gelegen. Die höchste Arbeitslosigkeit verzeichneten Spanien (11,2%), Frankreich (9,6%) und Deutschland (9,3%). Eurostat schätzt, dass im Oktober in der Euro- Zone 12,4 Mio. Personen arbeitslos waren. Bei den Daten handelt es sich um saisonbereinigte Zahlen gemäss den Kriterien der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). NZZ, 3. Dezember 03, S. 23
EU-Vertragsverletzungsverfahren wegen Dosenpfand gegen Deutschland
Wegen Beeinträchtigung des innergemeinschaftlichen Warenverkehrs hat die EU-Kommission am 21. Oktober 03 ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen der Ausgestaltung des Dosenpfandsystems eingeleitet. Laut EU-Kommission werden 95 Prozent der Getränke aus dem Ausland in Einwegflaschen und -dosen geliefert. Nun werde dem Vorwurf nachgegangen, ob das deutsche Verfahren ausländische Getränkeanbieter benachteiligt. Inzwischen lägen 30 Beschwerden von Unternehmern aus zehn Mitgliedstaaten vor. Die EU-Kommission sieht eine Benachteiligung der Einweg-lmporteure als erwiesen an, weil
es in Deutschland kein einheitliches Rücknahmesystem für gebrauchte Einweg- Getränkeverpackungen gibt.
Mehrwegsysteme und eine Reduzierung des Verpackungsmülls sind aber ausdrückliche Ziele des 6. EU-Umweltaktionsprogrammes. Insofern wird die Pfandpflicht an sich nicht in Frage gestellt. Allerdings dürfe die Anwendung nicht zu Wettbewerbsverzerrungen führen, so die Argumentation der EU-Kommission.
Während für die Lobbyvereinigung "Arbeitsgemeinschaft Verpackung und Umwelt" die Einleitung eines Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) eine "gute Nachricht" ist und das Informations-Zentrum Weißblech e.V. "die Entscheidung begrüßt", hat die grüne EU-paparlamentarierin Hiltrud Breyer die "Verzögerungstaktik und Blockadehaltung zahlreicher Getränkehersteller" scharf kritisiert. Diese hätten genug Zeit gehabt sich auf die Veränderungen einzustellen.
Eine Umfrage des Forsa-lnstituts im Auftrage des Umweltministeriums ergab, dass die deutschen Verbraucher/innen das Dosenpfand für richtig halten. Die Rücknahmesysteme funktionierten gut, teilte die Deutsche Umwelthilfe (DUH) mit. Das habe die Organisation durch mehrere hundert Testkäufe im ganzen Bundesgebiet festgestellt. DNR-EU-Rundschreiben, November/Dezember 03, S. 21