Europas Bauern gehen auf die Barrikaden – und Ursula von der Leyen hat nichts Besseres anzubieten als einen «Dialog».
Schon lange stehen viele Bauernbetriebe in der EU wirtschaftlich unter Druck. Aber europaweit demonstrieren die Bauern nicht bloss wegen des Geldes – die Unzufriedenheit mit der Politik ist grundsätzlicher. «Es fehlt an Respekt für die Landwirtschaft», sagt der belgische Landwirt und Verbandschef Hendrik Vandamme.
Respekt – dieses Wort fiel immer wieder an der Demonstration Ende Januar 2024 vor dem Europäischen Parlament in Brüssel, an der Vandamme zu den Wortführern zählte. Immerhin begegneten alle Europäer den Bauern dreimal am Tag, meint er: beim Frühstück, zu Mittag und beim Abendessen.
Die Bauern fühlen sich nicht ernst genommen, zu viele Nichtfachleute würden über ihr Schicksal entscheiden. «Wir wissen, dass wir ökologische Anpassungen vornehmen müssen, aber es gibt einfach zu viele neue Gesetze auf einmal», sagt Vandamme.
Explosive Stimmung in ganz Europa
Die Demonstration in Brüssel verlief friedlich. Noch ist ein neuer Bauernkrieg nicht ausgebrochen – aber die Landwirte gehen überall in Europa auf die Barrikaden. In Frankreich kippen sie Gülle vor Rathäuser, um gegen eine Steuererhöhung beim Agrardiesel zu protestieren. In den Niederlanden belagerten sie tagelang das Wohnhaus einer Ministerin. In Deutschland, Italien und Polen blockieren sie mit Traktoren Autobahnen und Strassen.
Der Tenor der Demonstranten ist fast immer derselbe: Es würden ständig neue Vorschriften erlassen, um die Landwirtschaft klimafreundlicher zu machen. Dabei ist aber unklar, wie die Reformen umgesetzt werden sollen und wer sie bezahlen wird: die Landwirte, die Steuerzahler oder die Konsumenten.
In Brüssel hat man erkannt, wie explosiv die Stimmung ist. Seit Jahrzehnten werden hier die Subventionen in Milliardenhöhe für den Agrarsektor verhandelt. Fast ebenso alt ist die Wut der Betroffenen gegen die Kürzung staatlicher Zuschüsse, die Öffnung neuer Märkte, den Transformationsdruck, das Hofsterben.
Doch die jüngsten Proteste sind heftiger als früher.
Die EU-Kommission hat darauf reagiert und einen «strategischen Dialog» ins Leben gerufen. Vertreter aus Landwirtschaft, Lebensmittelindustrie, Verbraucher- und Umweltschutz sollen bis spätestens September eine «gemeinsame Vision für die Zukunft des Agrar- und Lebensmittelsektors der EU» entwickeln. Sie hoffe damit, die Spaltung und Polarisierung zu überwinden, «die wir alle spüren», sagte die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vergangene Woche.
Richter fordern strengere Umweltgesetze
Die Idee der EU-Kommission ist gut gemeint. Allerdings beruft sie sich auf eine ähnliche Veranstaltung mit fraglichem Erfolg in Deutschland: die «Zukunftskommission Landwirtschaft». 2019 wurde sie von Bundeskanzlerin Angela Merkel initiiert. Zwei Jahre später kam sie unter anderem zum Schluss, dass die Agrarwende eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei, bei der weder Landwirte noch Konsumenten die Hauptlast tragen dürften.
Man habe hervorragende Arbeit geleistet, sagte der Leiter der Zukunftskommission Peter Strohschneider. Dass die deutschen Bauern trotzdem so wütend sind wie nie, darin sieht er keinen Widerspruch. Der Mediävistik-Professor soll nun auch auf EU-Ebene einen ähnlichen Gesprächskreis moderieren.
Unmittelbarer Auslöser für die Proteste in Deutschland war die Absicht der Bundesregierung, den Bauern Steuerprivilegien bei den Kraftstoffen zu entziehen. Das zeigt, dass die Landwirte an konkreten Zahlen wohl interessierter sind als an abstrakten Zielen, wie sie der «strategische Dialog» definieren soll.
Gleichzeitig müssen Europas Landwirte hohe Summen investieren, um den vielen, vor allem ökologischen Vorschriften nachzukommen. Gewisse Geschäfte werden sie aus heutiger Sicht aufgeben müssen, weil sie entweder nicht mehr rentieren oder den ökologischen Zielen der Politik widersprechen.
Die angestrebte ökologische Wende führt allerdings nicht nur zu höheren Kosten, sondern auch zu juristischen Konflikten. Die niederländische Regierung etwa ist 2021 die Verpflichtung eingegangen, dafür zu sorgen, dass in der Landwirtschaft bis 2025 weniger Stickstoff zum Einsatz kommt. Doch das Land dürfte dieses Ziel verfehlen. Das ergibt eine Analyse von Forschern, die dem Gesundheitsministerium unterstellt sind. In den Niederlanden besteht nun die Gefahr, dass Richter die Regierung dazu zwingen werden, schärfere Massnahmen gegen das Stickstoffproblem zu ergreifen. Dazu könnte eine Reduktion des Nutztierbestandes gehören. Allerdings betonen die niederländischen Bauern bereits jetzt, dass sie sich Nachhaltigkeit nicht leisten könnten. Somit läuft die Politik Gefahr, zwischen die Front von Landwirtschaft und Justiz zu geraten.
Geizige Konsumenten
Fraglich ist auch, ob die Konsumenten überhaupt bereit sind, für die ökologische Wende auch nur einen geringen finanziellen Beitrag zu leisten. Ein Experiment, das der deutsche Discounter Penny jüngst gemacht hat, nährt Zweifel. Im Sommer erhöhte er die Preise von neun Produkten während einer Woche auf ein Niveau, das auch die schwierig zu berechnenden Umweltkosten enthielt. Eine Packung «Wienerli» etwa kostete plötzlich fast doppelt so viel wie vorher.
Penny wollte wissen, wie sich höhere Preise auf die Nachfrage auswirken. Diese ging teilweise stark zurück. «Generell gilt: Je grösser der Aufschlag der Umweltfolgekosten ausfällt, desto stärker sinkt die Nachfrage der Kunden», sagt Amelie Michalke, eine Forscherin der Universität Greifswald, die das Experiment auswertete.
Die Bauern fürchten sich vor der Ukraine
Über Europas Landwirtschaft schwebt schliesslich auch die Ungewissheit, was ein EU-Beitritt der Ukraine für ihre Zukunft bedeutet. Im Juni 2022 hat die EU-Kommission bereits die Einfuhrzölle auf ukrainisches Getreide ausgesetzt. Das soll den wichtigsten Exportsektor des Landes unterstützen. Bei Europas Bauern hat die Massnahme Proteste ausgelöst.
Die ukrainische Landwirtschaft ist teilweise sehr effizient. Es gibt Betriebe, die bis zu 200 000 Hektaren Land bewirtschaften; im Nachbarstaat Polen, wo die Bauern heftig gegen die ukrainischen Importe aufbegehren, hat der Durchschnittsbetrieb nur elf Hektaren.
Bei Betriebsgrössen wie in der Ukraine lohnt es sich, in Maschinen und in die Digitalisierung zu investieren. Das ist auch nötig, um auf dem Weltmarkt zu bestehen. «Wir konkurrieren mit Brasilien oder Argentinien», sagt Alex Lisizja vom kotierten ukrainischen Agrarunternehmen IMC, das vornehmlich Mais und Weizen anbaut.
Den Bauern in der EU dagegen fehlen oft die Investitionsmittel, die ukrainische Agrarfirmen zumindest in Friedenszeiten aufbringen. Elf Hektaren Agrarfläche, wie sie polnische Bauern im Durchschnitt bewirtschaften, würfen maximal 100 Tonnen Weizen ab. Damit liessen sich 20 000 Euro Einnahmen im Jahr erzielen, rechnet ein Agrarexperte vor. Das biete keine Perspektiven.
Die Lage von Europas Bauern wird sich also nochmals verschärfen, wenn die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine erfolgreich verlaufen. Die Ackerfläche der EU stiege in diesem Fall von 100 Millionen Hektaren auf 130 Millionen Hektaren. Spätestens dann liesse sich die jetzige Agrarpolitik der EU mit ihren hohen Subventionen nicht mehr aufrechterhalten. Das wissen auch Europas Landwirte. Sie nehmen die ukrainischen Grossbetriebe bereits als Bedrohung wahr: «Die Open-Door-Politik der EU gegenüber der Ukraine zerstört uns», sagt ein Demonstrant vor dem EU-Parlament.
Die zwiespältige Rolle der Europäischen Volkspartei
Von der Leyen ist also gefordert. Die Agrarwende, für die man in der Kommission den schmissigen Titel «From Farm To Fork» (Vom Hof auf den Tisch) erfand, ist ein Herzstück ihres Green Deal. Sie soll den Übergang zu einer nachhaltigen Landwirtschaft bringen, etwa durch eine Neuausrichtung der Tierhaltung. Allerdings könnte das dazu führen, dass Fleisch aus Ländern importiert werden muss, in denen für dessen Produktion mehr Treibgase anfallen als in der EU.
Kritiker sagen, dass die Bauern von der Kommission vor vollendete Tatsachen gestellt würden. Am grössten ist der Missmut ausgerechnet in von der Leyens Partei, der als bauernfreundlich geltenden Europäischen Volkspartei (EVP). Mit dem Thema Landwirtschaft versucht die EVP nun, ihr Profil bei den anstehenden Europawahlen zu schärfen. Der «strategische Dialog» ist daher auch ein Zugeständnis an von der Leyens konservative Basis. Dafür riskiert sie nun, dass Grüne und Umweltverbände sich gegen sie stellen. NZZ, 31. Januar 2024, S. 3
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