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Kurzinfos August 2022
Die Flüssiggas-NATO Die EU wird ihr Erdgas künftig weitestgehend aus NATO-Staaten beziehen. Dies geht aus einer aktuellen Untersuchung des Verbandes Zukunft Gas und des Energiewissenschaftlichen Instituts an der Universität Köln hervor. Demnach wird die Union im Jahr 2030 mehr Gas aus den USA importieren als bis zum vergangenen Jahr aus Russland. Lieferant Nummer zwei bleibt mit deutlichem Abstand Norwegen. Damit entsteht ein transatlantischer Energieblock, der bei seiner Gasversorgung im Falle eskalierender Kriege keinerlei Rücksichten mehr auf Drittstaaten nehmen muss. Eventuelle Flüssiggaslieferungen aus dem NATO-Staat Kanada wurden bei dem gestern zu Ende gegangenen Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz sowie Wirtschaftsminister Robert Habeck in Montréal sowie in Toronto diskutiert. Kanada exportiert bislang noch kein Flüssiggas, nicht zuletzt aufgrund des Widerstands von Klimaaktivisten und Organisationen der First Nations. Seit dem Beginn des Ukraine-Krieges dringt Berlin darauf, Ottawa solle alle Widerstände überwinden und erste Exportterminals an der kanadischen Ostküste bauen. Die Bundesregierung hat konkrete Projekte im Visier.
Indirekt beliefert
Indirekt trägt Kanada schon dazu bei, die EU-Versorgung mit Flüssiggas (Liquefied Natural Gas, LNG) auszuweiten und damit russisches Erdgas zu ersetzen. Zwar verfügt das Land bislang noch nicht über eigene LNG-Exportterminals; lediglich eins befindet sich aktuell im Bau – an der Westküste, und es soll künftig Länder in Asien beliefern. Allerdings hat Kanada seine Erdgasexporte in die Vereinigten Staaten erheblich aufgestockt; schon im Juni 2022 lagen sie laut Branchenangaben fast doppelt so hoch wie bei Beginn des Ukraine-Krieges im Februar. Die gestiegenen kanadischen Lieferungen in die USA setzen dort zusätzliche Mengen für die US-amerikanische LNG-Ausfuhr in europäische Länder frei.
Druck aus Berlin
Berlin macht sich dessen ungeachtet dafür stark, kanadisches Gas auch direkt zu verflüssigen und nach Europa bzw. nach Deutschland zu liefern. Damit stärkt es Öl- und Gaskonzernen den Rücken, die schon seit Jahren den Bau von Exportterminals an der kanadischen Ostküste nach dem Modell von US-Exportterminals planen, bislang allerdings nicht zum Zuge kamen. Bereits unmittelbar nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hatte Berlin Fühler nach Kanada ausgestreckt; Verhandlungen waren beim Besuch des kanadischen Industrieministers François-Philippe Champagne Mitte Mai 2022 in der deutschen Hauptstadt geführt [1] und unter anderem von Kanzler Scholz am Rande des G7-Gipfels im Juni in Elmau fortgesetzt worden. Auch bei der nachfolgenden Kanada-Reise von Scholz und Wirtschaftsminister Habeck stand Flüssiggas auf der Tagesordnung. Als aussichtsreich gilt vor allem der Plan, ein vorhandenes Importterminal auszubauen. Das Terminal Saint John LNG gehört dem spanischen Konzern Repsol; es liegt unweit der Kleinstadt Saint John in der kanadischen Provinz New Brunswick und versorgt Kanadas Ostküste wie auch den angrenzenden Nordosten der Vereinigten Staaten.[2] Die Erweiterung der Anlage um Exportvorrichtungen gilt als die unaufwendigste Option für den Aufbau einer kanadischen LNG-Ausfuhr.
Unterstützung aus Kiew
Die deutschen Bemühungen um kanadisches Flüssiggas werden aktuell von der Ukraine unterstützt. Dies betrifft ein LNG-Projekt bei Saguenay, einer Stadt in der Provinz Québec einige hundert Kilometer nordöstlich von Montréal. Dort will die kanadische Firma Symbio für mehr als zehn Milliarden Euro eine Verflüssigungsanlage und ein Exportterminal errichten; das benötigte Erdgas soll über eine 780 Kilometer lange Pipeline aus dem Westen des Landes herangeführt werden. Das Projekt ist schon im vergangenen Jahr von der Provinzregierung in Montréal abgelehnt worden, nicht zuletzt aufgrund der befürchteten Umweltschäden sowie aufgrund des entschlossenen Widerstandes von Organisationen der First Nations, der indigenen Bevölkerung Kanadas.[3] In diesem Frühjahr hat Symbio seine Pläne für Saguenay wieder aufgenommen – dies mit Rückendeckung aus Berlin. Zudem hat das Unternehmen eine Absichtserklärung mit dem ukrainischen Öl- und Gaskonzern Naftogaz über die Lieferung kanadischen Flüssiggases an die Ukraine geschlossen.[4] Der Schritt ist nicht zuletzt innenpolitisch motiviert: Er soll den Druck der ukrainischstämmigen Community in Kanada auf die Regierung erhöhen.
Gegen Klimaaktivisten und First Nations
Bei der Reise von Scholz und Habeck stand auch ein Treffen mit dem Premierminister der Provinz Québec, François Legault, auf dem Programm; die Entscheidung über das LNG-Projekt in Saguenay fällt im Wesentlichen in Legaults Zuständigkeit. Kanadas Premierminister Justin Trudeau, dessen Regierung das LNG-Exportterminal in Saguenay gleichfalls ablehnt, teilte nach den Gesprächen mit Scholz mit, er sehe für das Vorhaben auch weiterhin keine Perspektive.[5] Ursache sind die immensen Kosten. Zwar erhöht der massiv gestiegene Erdgaspreis die Aussichten, in Saguenay Profite erzielen zu können. Allerdings lohnt sich der Bau des Exportterminals nur, wenn von dort lange genug Flüssiggas ausgeführt werden kann, um die Bau- und Betriebskosten wieder einzuspielen. Laut offiziellem Stand will die Bundesregierung zu einem Zeitpunkt aus der Nutzung von Erdgas aussteigen, zu dem das noch nicht gewährleistet ist. Ob ein mögliches Abnahmeversprechen von Naftogaz die Lücke füllen kann, ist völlig ungewiss. Dessen ungeachtet hat Berlin neben Saint John LNG auch das Projekt in Saguenay weiterhin im Visier – gegen den entschiedenen Widerstand von Klimaaktivisten und Organisationen der First Nations.
Der transatlantische Energieblock
Unabhängig von den Berliner Bemühungen um kanadisches Flüssiggas zeichnet sich schon jetzt deutlich ab, dass die Erdgasversorgung Deutschlands und der EU künftig weitestgehend von NATO-Staaten geleistet werden wird. Dies ergibt sich aus einer aktuellen Studie des Verbandes Zukunft Gas und des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität Köln.[6] Die Autoren des Papiers gehen davon aus, dass die EU im Jahr 2030 überhaupt kein Erdgas mehr aus Russland beziehen wird. Mit erheblichem Abstand größter Lieferant werden dann laut der Untersuchung die Vereinigten Staaten sein, die 2030 gut 170 Milliarden Kubikmeter Flüssiggas jährlich in die EU liefern werden – mehr als Russland im vergangenen Jahr (155 Milliarden Kubikmeter). Die Erdgasabhängigkeit von Moskau wird demnach durch eine Erdgasabhängigkeit von Washington ersetzt. Zweitgrößter Lieferant wird der Studie zufolge Norwegen bleiben – mit einem Liefervolumen von knapp 120 Milliarden Kubikmetern Erdgas im Jahr. Größter Lieferant jenseits des westlichen Militärbündnisses wäre 2030 Qatar – mit rund 40 Milliarden Kubikmetern Flüssiggas. Der transatlantische Block hätte damit seine Abhängigkeit von Drittstaaten in hohem Maße reduziert und wäre im Fall von eskalierenden Kriegen zumindest mit Blick auf Erdgas keinerlei Zwängen zur Rücksichtnahme mehr ausgesetzt. 24. August 2022
[1] S. dazu Der Erdgaspoker der EU (IV). https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8938
[2] Sanja Pekic: Repsol names Canaport LNG as Saint John LNG terminal. offshore-energy.biz 16.11.2021.
[3] Josh Grant: Ottawa rejection likely final blow for Quebec LNG plant. cbc.ca 09.02.2022.
[4] Ukraine und Deutschland werben um kanadisches LNG-Gas. fundscene.com 21.08.2022.
[5] Olivier Bourque: Douche froide pour GNL Québec. journaldemontreal.com 23.08.2022.
[6] Christian Geinitz: Die große Drift von Ost nach West. Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.08.2022.
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Schweizer Medtech-Industrie 15 Monate nach dem EU-Rauswurf: «Die Schweizer Medtech-Industrie geht nicht zugrunde, wenn Europa Nadelstiche setzt»
Um die Schweiz zu strafen, wählte Brüssel ein leichtes Ziel: die Medizintechnik. Doch was nicht umbringt, macht stärker. Jetzt haben viele Schweizer Firmen einen Vorsprung vor der EU-Konkurrenz.
Die Medtech-Branche war das erste Opfer des Streits um das Rahmenabkommen mit der EU. Die Schweizer Firmen können auf den grossen europäischen Markt nicht verzichten. Doch im Frühjahr 2021 entschied die EU-Kommission, die bisherige enge Kooperation beim Marktzugang Knall auf Fall zu beenden und die Schweiz als normales Drittland einzustufen – was manche Firmen wie ein Schlag vor den Kopf traf. Da war es nicht selbstverständlich, dass die Zwischenbilanz so schnell so positiv ausfallen würde.
Inzwischen ist klar: «Die Schweizer Unternehmen haben ihre Aufgaben gut gelöst. Wir haben jetzt sogar einen Vorsprung vor den durchschnittlichen EU-Firmen», sagt Daniel Delfosse, der beim Branchenverband Swiss Medtech für Regulierung zuständig ist. Von Zerknirschung ist in dem Sektor, der 63 000 Mitarbeiter in der Schweiz beschäftigt, wenig zu spüren. «Wir werden überleben und sind stark unterwegs», so Delfosse.
Mitten in Europa – aber nicht mehr dabei
Bis dahin war es kein leichter Weg. Die EU hatte sich ihr Ziel gut überlegt. Innerhalb des Bündnisses läuft derzeit die Umstellung von der alten Medizinprodukte-Direktive auf die neue Medizinprodukte-Regulierung (MDR). Dabei geht es um die Anforderungen, die Firmen erfüllen müssen, wenn sie in der EU ihre Produkte verkaufen wollen – von Implantaten bis zu Rollatoren. Mitten in dieser bürokratischen Grossübung stufte die EU die Schweiz im Mai 2021 auf den Status eines Drittlandes zurück.
Das bedeutet, dass Schweizer Firmen nun genau dieselben Kriterien erfüllen müssen wie zum Beispiel solche aus den USA. Sie müssen einen Bevollmächtigten in der EU haben, welcher der alleinige Ansprechpartner für EU-Behörden oder Patienten ist. Dahinter verbirgt sich weit mehr als ein simpler Briefkasten: Es geht um eine mit Kapital, Kompetenzen und qualifiziertem Personal ausgestattete Niederlassung. Ausserdem müssen die Firmen die Etikettierung ihrer Produkte anpassen, Verträge aktualisieren und interne Abläufe neu ordnen. All das musste im Frühjahr 2021 auf einen Schlag parat sein, eine Übergangsfrist gab es nicht.
Wer zuvor misstrauisch war, war im Vorteil. So wie Medartis, ein Basler Hersteller von Implantaten mit 830 Mitarbeitern. «Wir sind vom schlimmsten Fall ausgegangen und haben uns darauf vorbereitet, dass die Schweiz zum Drittland wird. Wir wollten uns nicht darauf verlassen, dass sich alles noch irgendwie findet», sagt Claudia De Santis, die bei Medartis die Regulierung steuert. Innerhalb von fünf Monaten wurde die prophylaktische Anpassung an den Drittland-Status gestemmt und die Tochtergesellschaft in Deutschland zum EU-Bevollmächtigten und Importeur aufgewertet. Viele Medtech-Firmen handelten ebenso vorausschauend.
Überraschender Schlag mit politischer Absicht
Doch der schmerzhafteste Nadelstich traf woanders. Medizinprodukte müssen auf Sicherheit und Leistung geprüft und zugelassen werden, um in den Verkauf zu gelangen. Früher war es so, dass in der EU auch Produkte anerkannt wurden, die nur von einer Schweizer Prüfstelle zugelassen worden waren. Doch obwohl die EU das zugrunde liegende Abkommen nicht kündigte, stellte sie die Anerkennung im Mai 2021 über Nacht ein – nicht nur für neue Produkte, die erst noch auf den Markt kommen sollen, sondern auch für bereits im Umlauf befindliche.
Medtech-Firmen, die ihre Bestandsprodukte nicht bei einer Prüfstelle in der EU zertifiziert hatten, standen plötzlich vor verschlossenen Türen. «Dieser Entscheid der EU kam völlig überraschend und war ein harter Schlag», sagt Daniel Delfosse von Swiss Medtech. Der politische Zusammenhang gilt als offensichtlich. Der Schritt weckte auch im Bündnis Kritik: Deutschland entschied unilateral, die Zertifikate für Bestandsprodukte weiterhin anzuerkennen. Mehr als ein Drittel der Schweizer Medtech-Exporte in die EU gehen nach Deutschland.
Der Schaden ist überschaubar: Etwa 350 Schweizer Medtech-Firmen exportieren in die EU. Davon hatten 54 Unternehmen nur eine Zulassung von einer Stelle in der Heimat. Es handelt sich um KMU, und ihr Anteil am EU-Export der Branche liegt unter 10 Prozent. Für die jeweilige Firma ist das Verkaufsverbot ein Schlag ins Kontor, aber insgesamt ist es für den Sektor nicht bedeutend.
Die Zulassungsstellen der EU sind am Anschlag
Bis heute ist es keiner der 54 Schweizer Firmen gelungen, sich eine neue Zulassung von einer EU-Prüfstelle zu besorgen. Dies deshalb, weil die Stellen vollkommen überlastet sind. Denn auch EU-Firmen müssen ihre Bestandsprodukte nach der neuen Medizinprodukte-Regulierung zulassen. Dafür haben sie, anders als die Schweizer Konkurrenten, eine Übergangsfrist bis Frühjahr 2024. Aber das dürfte nicht reichen. «Das System in Europa ist nicht bereit», sagt Delfosse.
Es gibt zu viele Produkte für zu wenige Prüfstellen. EU-Hersteller bieten im Bündnisgebiet rund 500 000 Medizinprodukte an, die unter anderem durch 30 000 Zertifikate von sogenannten Benannten Stellen abgedeckt werden. Sie alle müssen erneuert werden – und geschafft ist das laut Delfosse bei nicht einmal 4000 Zertifikaten. Eine Umfrage des Verbandes Medtech Europe ergab, dass die Zertifizierung inzwischen doppelt so lange dauert wie früher. Bis zu 30 Prozent der europäischen KMU haben noch nicht einmal Zugang zu einer Benannten Stelle, so sehr staut es sich.
Hier kommt der Vorsprung ans Licht, den jetzt viele Schweizer Firmen besitzen. Angesichts der politischen Querelen haben sie sich früh mit der Zulassung sowie dem drohenden Drittland-Status beschäftigt und in den allermeisten Fällen gehandelt. Die EU-Firmen kamen später und stehen nun auf eigenem Boden in der Warteschlange.
Die Schweizer waren vor dem Stau
«Weil wir bereit waren, haben wir nun einen Wettbewerbsvorteil in der EU», sagt auch Claudia De Santis von Medartis. Der Implantatehersteller meldete am Dienstag für das erste Halbjahr einen Umsatz von 88 Millionen Franken, 17 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Rund die Hälfte des Umsatzes wurde in Europa erzielt, wo der Absatz in ähnlichem Ausmass zulegte.
Medartis blieb im Medtech-Streit vom Schlimmsten verschont, weil das Unternehmen schon seit langem eine Zulassungsstelle in der EU beauftragt, nämlich den deutschen TÜV Rheinland. «Die meisten Firmen mit einer gewissen Grösse sind immer zu grösseren Benannten Stellen in der EU gegangen», sagt De Santis. Trotzdem war die Umstellung auf die MDR sehr aufwendig, und der Zeitdruck und die Unsicherheit waren gross. «Als wir das Zertifikat bekommen haben, haben wir erst einmal tief durchgeatmet.»
Insgesamt hat die Anpassung Medartis rund 2 Millionen Franken gekostet. Bis zu 90 Mitarbeiter waren in Spitzenzeiten involviert. «Am Ende hat jeder in der Firma gewusst, was die MDR ist», sagt De Santis. Aus ihrer Sicht hat die neue Regulierung viele Vorteile gebracht – auch intern. Das Verständnis für Regulierung und Compliance sei in vielen Medtech-Firmen stark gewachsen. Man solle deshalb den Aufwand nicht nur als Last sehen, sondern als potenziellen Vorteil: «Wenn man gut dokumentiert, ist man schneller im Markt und macht somit schneller Umsatz.»
Manche ausländische Firmen meiden jetzt die Schweiz
Doch es gibt trotz allem Schattenseiten. Das sind nicht primär die wiederkehrenden Kosten für die Branche von jährlich rund 2 Prozent, die Swiss Medtech durch den höheren Aufwand in der EU erwartet. Verglichen mit der Teuerung fallen sie wenig ins Gewicht. Aber die Kluft zwischen Brüssel und Bern macht den Schweizer Markt unattraktiver für ausländische Firmen. Zwar erkennt die Schweiz eine EU-Zulassung weiterhin an – anders als in der Gegenrichtung. Doch auch diese Firmen brauchen nun in der Schweiz einen Bevollmächtigten, müssen die Verwaltung umstellen und die Etiketten anpassen. Das lohnt sich für viele nicht immer.
5000 ausländische Firmen hätten bisher Medizintechnik in die Schweiz geliefert, heisst es von Swiss Medtech. «Wir schätzen, dass wir mindestens tausend Unternehmen verlieren werden, weil der Aufwand für sie zu gross und der Markt zu klein ist», so Daniel Delfosse. Seit Anfang August, als eine Übergangsfrist ablief, seien bereits geschätzt 10 Prozent der importierten Produkte nicht mehr verfügbar. «Spitäler und Einkäufer tun seit Monaten alles, um umzudisponieren und Ersatzprodukte zu finden», sagt Delfosse.
Unter dem Strich ist für den Verbandsvertreter aber klar: «Die Schweizer Medtech-Industrie wird nicht zugrunde gehen, wenn Europa Nadelstiche setzt.» Delfosse fordert vielmehr, dass Bern die Freiheiten nutzt, die sich durch den Rauswurf aus dem Binnenmarkt ergeben. So könnte die Schweiz jetzt unilateral die amerikanische Zulassung von Medizinprodukten anerkennen, was die EU bis jetzt nicht tut. Das würde Schweizer Patienten schneller den Zugang zu Technologien eröffnen als EU-Patienten und die Versorgungssicherheit erhöhen, ist Delfosse überzeugt. «Es wäre ein weiteres Paradox: Europa straft uns, aber wir öffnen uns.» NZZ, 17. August 2022.
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Bundeskanzler: neues "Europa" in Prag Die Europäische Union soll grösser und schlagkräftiger werden und dafür das Einstimmigkeitsprinzip aufgeben. Olaf Scholz umreisst die Kernprobleme Europas – und vergisst dabei fast die Migration.
Obwohl Deutschlands Militär angeblich gerade noch «blank» dastand, kann sich der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz vorstellen, dass die Bundesrepublik «besondere Verantwortung beim Aufbau der ukrainischen Artillerie und Luftverteidigung» übernimmt, damit sich das Land auf Dauer selbst verteidigen kann. Das sagte Scholz am Montag in seiner europapolitischen Grundsatzrede an der Karls-Universität Prag. Wie Deutschland dieser Verantwortung real gerecht werden könnte, sagte er nicht. Scholz sprach sich dafür aus, für Europa ein neues Luftverteidigungssystem zu schaffen und die Verteidigungsfähigkeit der Union zu stärken.
Für den deutschen Bundeskanzler war es zugleich sein Antrittsbesuch im Nachbarland und bei dessen Ministerpräsidenten Petr Fiala. Tschechien hat seit dem 1. Juli die EU-Rats-Präsidentschaft inne. Fiala spielt daher bei der Lösung aktueller europäischer Probleme derzeit eine besondere Rolle. Tschechien ist zudem eines der europäischen Länder, mit denen Deutschland über einen Ringtausch Waffen in die Ukraine liefern will. Abgemacht hatte man dies bereits im Mai, passiert ist bis anhin nichts, es wurde nicht einmal ein Vertrag unterzeichnet. Der Krieg dauert inzwischen mehr als sechs Monate. Geplant ist, dass die tschechischen Streitkräfte 20 T-72-Panzer sowjetischer Bauart in die Ukraine liefern und dafür 15 deutsche Leopard-2-Panzer aus Industriebeständen bekommen. Am Montagnachmittag gaben Scholz und Fiala bekannt, den Ringtausch nun «konkret verabredet» zu haben.
Nach dem Kriegsausbruch hatte Scholz von einer «Zeitenwende» gesprochen. Auf diese Aussage kam er nun zurück. Das ganze Konzept Europa müsse erneuert werden, sagte er sinngemäss. Der Druck auf Europa werde wachsen, und zwar unabhängig vom derzeitigen Krieg Russlands und von seinen Folgen, so Scholz: «In einer Welt mit acht, künftig wohl mit zehn Milliarden Menschen ist jeder einzelne unserer europäischen Nationalstaaten für sich genommen viel zu klein, um allein seine Interessen und Werte durchzusetzen.»
Hat die EU bald 36 Mitgliedstaaten?
Folgerichtig plädierte Scholz für eine Stärkung und Vergrösserung der Europäischen Union – bei den Ländern des Westbalkans stehe man schon seit zwanzig Jahren im Wort, und auch die Ukraine, die Moldau und sogar Georgien seien Kandidaten. Sie müssten allerdings auch die Beitrittsvoraussetzungen erfüllen.
Scholz malte die Vision einer «Europäischen Union aus 27, 30 oder 36 Staaten, mit dann mehr als 500 Millionen freien und gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern, mit dem grössten Binnenmarkt der Welt, mit führenden Forschungseinrichtungen und innovativen Unternehmen, mit stabilen Demokratien, mit einer sozialen Versorgung und einer öffentlichen Infrastruktur, die ihresgleichen suchen auf der Welt» – das sei der Anspruch, den er mit einer geopolitischen EU verbinde.
Freilich habe man dann mit einem viel grösseren EU-Parlament und teilweise gegenläufigen Interessen zu tun, so dass am Einstimmigkeitsprinzip nicht festgehalten werden sollte, weil sonst ein einzelnes Land mit seinem Veto alle anderen am Fortkommen hindern könne. Scholz plädierte deutlich für das Prinzip der
Mehrheitsentscheidung.
Wenn man das EU-Parlament nicht aufblähen wolle, brauche es zudem eine «neue Balance, was seine Zusammensetzung angeht», sagte Scholz. «Und zwar unter Beachtung auch des demokratischen Prinzips, wonach jede Wählerstimme etwa das gleiche Gewicht haben sollte.» Im EU-Parlament sind Länder mit kleinerer Bevölkerung überproportional vertreten – bevölkerungsstarke Länder wie Deutschland unterproportional. Scholz sagte weiter: «In den Verträgen ist aus gutem Grund eine Höchstzahl von 751 Abgeordneten vorgesehen. Diese Zahl aber werden wir überschreiten, wenn neue Länder beitreten.»
Mit aufgeblähten Parlamenten kennt sich der Sozialdemokrat aus: Der Deutsche Bundestag hat laut Verfassung 598 Sitze, im echten Leben jedoch 736 – nach jeder Wahl waren es ein paar mehr. Es gelingt seit Jahren nicht, das Wahlrecht so zu reformieren, dass der vorgesehene Zustand wieder hergestellt ist.
Ein schönes Gemälde, doch stimmt es?
Mit seiner Rede hat sich Scholz erstmals umfassend in der Europapolitik positioniert. Die Rede gleicht einem Rundumschlag, der auch nötige Entwicklungen in Technologie und Wirtschaft, bei Chips und Halbleitern, Rohstoffen und Energiewirtschaft einschliesst. Welchen ordnungspolitischen Rahmen er sich dafür vorstellt, beschreibt Scholz in seiner Rede nicht.
Kurz vor Schluss kommt er noch kurz auf das drängende und hoch umstrittene Thema Migrationspolitik zu sprechen; es macht im Manuskript eine von 25 Seiten aus. Scholz plädiert für einen wirksamen Schutz der Aussengrenzen und für «verbindliche Partnerschaften mit Herkunftsstaaten – und zwar auf Augenhöhe». Es müsse mehr legale Wege nach Europa geben, dafür müssten die Herkunftsländer ihre Staatsangehörigen ohne Perspektive in Europa aber auch zurücknehmen. Dieser Vision steht eine gegenläufige Realität gegenüber: Die illegale Migration über das Mittelmeer hat wieder enorm zugenommen, und es wird kaum jemand ausgeschafft.
Auch der französische Präsident Emmanuel Macron hatte einst eine europapolitische Grundsatzrede gehalten, die bis heute nachhallt – im Jahr 2017, an der Pariser Sorbonne. Macron hatte damals die «Neugründung» eines souveränen, demokratischen und vereinigten Europas gefordert. Konkret sprach er sich unter anderem für ein gemeinsames Budget für die Euro-Länder, einen gemeinsamen EU-Verteidigungsetat sowie eine europäische Interventionstruppe und einheitliche Regeln für Auslandseinsätze aus. Realiter ist aber von der enthusiastischen Vision auch nach dieser Rede kaum etwas in der Wirklichkeit angekommen. NZZ, 30. August 2022, S. 1
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Scholz träumt von einer EU mit entmachteten Nationalstaaten – ausgerechnet in Ostmitteleuropa
Die Mitgliedstaaten sollen ihre Vetomacht einschränken – als Konzession an den Imperialismus Russlands. Doch gerade die kleineren EU-Staaten verteidigen ihre Souveränität gegen eine Vereinnahmung durch Brüssel und Berlin mit guten Gründen.
Bundeskanzler Scholz ruft in Prag zur Stärkung der Europäischen Union auf.
Verschwende keine Krise, die der eigenen Machtausweitung dienen könnte. Nach diesem Motto nutzen EU-Politiker seit je Notlagen, um die Kompetenzen der EU-Institutionen in Brüssel Schritt für Schritt auszuweiten. Die Finanzkrise, die Euro-Krise, die Pandemie und nun der Ukraine-Krieg – allein in den letzten fünfzehn Jahren mangelte es nicht an Rechtfertigungen für die voranschreitende Machtkonzentration in Brüssel.
In die Reihe dieser Machtpolitiker hat sich Bundeskanzler Scholz mit seiner Grundsatzrede in Prag gestellt. Einen Tag nach dem Überfall der Ukraine durch Putins Truppen hatte Scholz völlig zu Recht eine sicherheitspolitische Zeitenwende in Europa ausgerufen. Nun nutzt er diesen Einschnitt nicht etwa nur zur Rechtfertigung höherer nationaler Verteidigungsausgaben oder einer intensiveren Zusammenarbeit im Rahmen des westlichen Verteidigungsbündnisses Nato. Nein, es müssen auch mehr Kompetenzen für Brüssel her.
Die Zeitenwende bedeute, stellte Scholz fest, dass das durch die EU-Verträge festgelegte Prinzip der Einstimmigkeit der Mitgliedländer in wichtigen Bereichen wie der Aussenpolitik oder der Steuerpolitik nicht mehr funktioniere.
Erweiterung und Zentralisierung der EU zugleich
Gerade erst im Pandemiejahr 2020 hatte Berlin die Hand gereicht, um das Verbot gemeinschaftlicher Schulden zu schleifen und die Finanzhoheit der Mitgliedstaaten durch die Schaffung des EU-Aufbaufonds zu unterminieren. Jetzt sollen die Nationalstaaten Souveränität auch in Steuerfragen und in der Aussenpolitik abgeben – und das wegen Putins Artilleriegranaten im Osten der Ukraine.
Als Antwort auf die neuen geopolitischen Herausforderungen durch China und Russland soll die EU an Gewicht zulegen. Scholz sprach sich deshalb für eine Erweiterung der Union im Osten aus. Dieser Schritt war in der Vergangenheit von EU-Skeptikern wie den Briten propagiert worden, weil er eine Konzentration der Kompetenzen in Brüssel erschwert. Doch Scholz will beides, mehr Grösse und mehr Macht. Der Schlüssel dazu ist die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips: Wenn einzelne nationale Regierungen unliebsame Beschlüsse in der Zentrale nicht mehr blockieren können, geben sie Garantien für ihre nationale Souveränität auf.
Scholz hielt seine Rede bewusst in Tschechien als Geste an die mehrheitlich kleinen ostmitteleuropäischen Mitgliedstaaten. Doch das verleiht seinen Ideen nicht einen höheren Realitätsgehalt. Gerade die Ostmitteleuropäer, die ihre nationale Souveränität erst nach dem Mauerfall wiedergewonnen haben, legen besonderen Wert darauf, nicht von den grossen westeuropäischen Staaten überstimmt und dominiert zu werden. Und das mit gutem Grund. Scholz selbst erwähnte als Beispiele für eine entschlossene Durchsetzung einheitlicher Standards die Asyl- und Migrationspolitik oder die Menschenrechte.
Doch gerade in diesen Fragen pochen osteuropäische Regierungen aus Sorge um die nationale Identität als Kleinstaat auf ihre eigenen Interpretationen. Sie wollen nicht in der von Scholz postulierten europäischen «Wertegemeinschaft» aufgehen.
Frankreichs Vorstoss verpufft in Berlin
Daran ändern versöhnlich gemeinte Phrasen nichts. «Auch in Zukunft muss jedes Land mit seinen Anliegen Gehör finden», erklärte Scholz an die Adresse der kleinen Mitgliedstaaten. Das klingt schön, Vetorechte sind sicherer. Scholz lehnte auch vehement den französischen Vorschlag ab, künftig verschiedene Kreise von Integration in der EU zuzulassen und damit die nationalen Differenzen zu entschärfen und eine neue Osterweiterung zu erleichtern. Ein Wildwuchs und Dschungel wäre das, erklärte er mit offenkundigem Ekel vor natürlichen Wachstumsprozessen. Eine Rede, die zur Einigung Europas aufrief, machte vielmehr die tiefe Spaltung in den zentralen Zukunftsfragen deutlich. NZZ, 30. August 2022, S. 19
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Das „weltpolitikfähige, geopolitische Europa” Kurz vor dem Antikriegstag 2022 bekräftigt Bundeskanzler Olaf Scholz das Berliner Dringen auf eine Formierung der EU als auch militärisch schlagkräftige Weltmacht. In einer programmatischen Rede an der Prager Karls-Universität plädierte Scholz dafür, die Union in ein „weltpolitikfähige[s], geopolitische[s] Europa“ zu transformieren. Dazu sei einerseits „europäische Souveränität“ auf wirtschaftlicher Ebene erforderlich, beispielsweise der Besitz einer eigenen High-Tech-Produktion, um im Falle eskalierender Auseinandersetzungen wie aktuell mit Russland ökonomisch von keinem Rivalen abhängig zu sein. Darüber hinaus verlangt Scholz – wie schon andere deutsche Politiker zuvor –, in der Außenpolitik Mehrheitsentscheidungen einzuführen; dann müssten auf abweichende Interessen kleinerer Mitgliedstaaten keinerlei Rücksichten mehr genommen werden. Gewicht legt Scholz nicht zuletzt auf die Schaffung militärischer Strukturen der EU und auf eine dichtere Verschmelzung der europäischen Rüstungsindustrie. Langfristiges Ziel sind schlagkräftige EU-Streitkräfte, die auch unabhängig von der NATO intervenieren können.
Der Krieg als Chance
In seiner Rede an der Prager Karls-Universität hat Kanzler Olaf Scholz den alten Berliner Anspruch auf eine weltpolitische Führungsposition der deutsch dominierten EU wiederholt. Die Staaten Europas, auch Deutschland, seien „für sich genommen viel zu klein“, um auf globaler Ebene im Alleingang ihre Interessen durchsetzen zu können, stellte Scholz fest; sie seien deshalb auf die EU mit ihrem potenziell deutlich größeren Gewicht angewiesen.[1] Dies sei denn auch der Grund dafür, dass „viele in den vergangenen Jahren nach einer stärkeren, souveräneren, geopolitischen Europäischen Union gerufen“ hätten. Dies hat unter anderem EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen getan.[2] Der Kanzler schloss sich in Prag explizit der Forderung nach „einem weltpolitikfähigen, geopolitischen Europa“ an, um „unsere Werte und Interessen weltweit durchzusetzen“. Die Hoffnung, dies könne jetzt gelingen, nachdem von der Leyen und andere jahrelang folgenlos die Schaffung einer „geopolitischen EU“ proklamiert hatten, begründete Scholz mit dem Ukraine-Krieg: Dieser habe die Staaten der EU mit der gemeinsamen Aufrüstung der Ukraine, mit den gemeinsam beschlossenen Russland-Sanktionen sowie mit der gemeinsamen Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge zu neuer Geschlossenheit geführt.
Von Rivalen unabhängig
Scholz drang in Prag zum wiederholten Male auf „europäische Souveränität“ – also auf die Fähigkeit der EU, so weit wie möglich unabhängig von äußeren Mächten operieren zu können. Dies schließt ökonomische Unabhängigkeit und besonders den Besitz industrieller Kapazitäten zur Herstellung unverzichtbarer High-Tech-Produkte ein. Der Nachholbedarf gegenüber mehreren Staaten Ostasiens und den USA ist groß; „dort, wo Europa verglichen mit dem Silicon Valley, Shenzhen, Singapur oder Tokio zurückliegt, wollen wir uns an die Spitze zurückkämpfen“, sagte Scholz. Er nannte exemplarisch etwa den Aufbau einer Halbleiterproduktion, eines Raumes für Mobilitätsdaten, ein Wasserstoffnetz sowie einen „unabhängige[n] Zugang zum All“. Entsprechende Bestrebungen sind längst im Gange. So subventioniert die EU mit Milliardensummen Halbleiterkonzerne wie Intel, die begonnen haben, neue Produktionsstätten in der EU zu errichten.[3] Kostspielige Wasserstoffprojekte sind mittlerweile in Arbeit.[4] Volkswagen errichtet eigene Batteriefabriken. Freilich sind europäische Konzerne dabei auf Unterstützung von Konzernen aus den Vereinigten Staaten und Ostasien abhängig: Halbleiter stellt der US-Konzern Intel her; den Aufbau einer VW-Batterieproduktion unterstützt maßgeblich der chinesische Konzern Gotion.[5]
Innere Widerstände ausschalten
Um nicht nur wirtschaftlich unabhängig zu werden, sondern auch außenpolitisch größere Schlagkraft zu erhalten, sprach sich Scholz für eine Straffung der Entscheidungsstrukturen der EU aus. So solle besonders „in der gemeinsamen Außenpolitik, aber auch in anderen Bereichen wie der Steuerpolitik, schrittweise zu Mehrheitsentscheidungen“ übergegangen werden, erklärte der Kanzler. Die Forderung wird schon seit Jahren von Politikern aus der Bundesrepublik vorgetragen.[6] Zuletzt entbrannte sie neu, nachdem Tschechien, die Slowakei und Ungarn, die sämtlich Binnenländer sind und kein Erdöl über eigene Häfen beziehen können, ein komplettes EU-Erdölembargo gegen Russland verhinderten und durchsetzten, dass Öl über Pipelines auch weiterhin geliefert werden darf. Scholz forderte jetzt in Prag, die EU müsse „zunächst in den Bereichen mit Mehrheitsentscheidungen ... beginnen“, in denen es „ganz besonders darauf ankommt, dass wir mit einer Stimme sprechen“ – etwa „in der Sanktionspolitik“. Faktisch liefen EU-Mehrheitsentscheidungen über Sanktionen darauf hinaus, dass Staaten wie Tschechien, die Slowakei und Ungarn zu einer Abkopplung von einem Energielieferanten gezwungen werden können, ohne dafür Ersatz finden zu können. Vor allem kleinere Mitgliedstaaten lehnen aus diesem Grund Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik bisher ab.
Eigene Führungsstrukturen
„Europäische Souveränität“ strebt Berlin auf lange Sicht nicht zuletzt auf militärischem Feld an – um nicht auf Dauer auf die NATO und damit auf die Vereinigten Staaten angewiesen zu sein. Erst im März 2022 hatten die Außen- und Verteidigungsminister der Union den „Strategischen Kompass“ der EU verabschiedet, der zuweilen als „Militärdoktrin“ bezeichnet worden ist. Er sieht unter anderem die Schaffung einer 5.000 Soldaten starken Eingreiftruppe vor, die binnen kürzester Frist in Kampfeinsätze aller Art entsandt werden kann.[7] Scholz bekräftigte in Prag, die Bundesrepublik werde „gemeinsam mit anderen EU-Partnern“ dafür sorgen, dass die Eingreiftruppe spätestens 2025 einsatzfähig sei. Zudem gelte es, „eine klare Führungsstruktur“ aufzubauen; so solle „die ständige EU-Kommandozentrale und mittelfristig ein echtes EU-Hauptquartier mit allem“ ausgestattet werden, „was dafür finanziell, personell und technisch gebraucht wird“. Darüber hinaus müssten Unternehmen in der EU „bei Rüstungsprojekten noch viel enger zusammenarbeiten“. Dies wird bislang unter anderem über die EU-Verteidigungsagentur und das Militarisierungsprojekt PESCO forciert, bisher allerdings noch mit recht mäßigem Erfolg. Das bedeutendste Rüstungsprojekt in der EU, das deutsch-französisch-spanische FCAS, steht womöglich vor dem Scheitern.[8]
Deutsche Profiteure
Nicht zuletzt bekräftigte Scholz in Prag, die westlichen Mächte, darunter die EU, würden auch weiterhin die Ukraine aufrüsten; dabei wolle man sich künftig aber enger abstimmen. „Gemeinsam mit den Niederlanden“ habe die Bundesrepublik „eine Initiative gestartet, die auf eine dauerhafte und verlässliche Arbeitsteilung zwischen allen Partnern der Ukraine abzielt“, teilte Scholz mit. So könne er sich etwa „vorstellen, dass Deutschland besondere Verantwortung beim Aufbau der ukrainischen Artillerie und Luftverteidigung übernimmt“. Das entspricht zum einen bisherigen Schwerpunkten Berlins, zum anderen den speziellen Interessen der deutschen Rüstungsindustrie. So liefert die Bundesrepublik der Ukraine bislang unter anderem die Panzerhaubitze 2000, die von Krauss-Maffei Wegmann (KMW) hergestellt wird, sowie den Mehrfachraketenwerfer MARS II aus dem Hause KMW. Geliefert werden soll zu dem das Luftverteidigungssytem IRIS-T SLM, das vom deutschen Rüstungskonzern Diehl hergestellt wird. Weitere derartige Aufträge brächten deutschen Waffenschmieden neue Profite. Die Ausbildung ukrainischer Soldaten an dem Gerät findet schon heute in Deutschland statt – an der Artillerieschule in Idar-Oberstein in Rheinland-Pfalz sowie auf dem Truppenübungsplatz Putlos (Schleswig-Holstein). 31. August 2022, https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9009
[1] Zitate hier und im Folgenden: Rede von Bundeskanzler Scholz an der Karls-Universität am 29. August 2022 in Prag.
[2] S. dazu Die Lust an der Macht. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8046
[3] S. dazu Chip-Unabhängigkeit für künftige Konflikte. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8836
[4] S. dazu Deutschlands neue Wasserstoffwelt. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8852
[5] Stefan Menzel: Mit „Salzgiga“ in die Zukunft – VW legt Grundstein für Musterwerk zur Batterieproduktion. handelsblatt.com 07.07.2022.
[6] S. dazu Die „Koalition der Entschlossenen“ (II). https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8402
[7] S. dazu Das Kräftemessen des 21. Jahrhunderts. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8876
[8] S. dazu Streit um das Luftkampfsystem. https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9008
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Trotz «Draghi-Effekt» und neuen EU-Darlehen: Griechenlands Wirtschaft bleibt am Boden Wenn das Land in der Währungsunion bleibt, wird Griechenland nie auf einen grünen Zweig kommen. Genau zehn Jahre ist es her, seit der damalige EZB-Chef Mario Draghi im Sommer 2012 die Euro-Krise beendete. Mit dem Ausspruch, die Zentralbank werde alles tun («whatever it takes»), um den Zusammenbruch der Währungsunion zu verhindern, vermochte er die Anleger weltweit zu beruhigen.
Die Kurse der südeuropäischen Staatsanleihen erholten sich so schnell, dass das Schreckensszenario eines grossen Staatsbankrotts bald verschwand.
Ein letztes Drama
Nur ein Euro-Land, Griechenland, war noch nicht ganz aus dem Schneider. Die Wirtschaftskrise war so gravierend, dass die etablierten Parteien im Januar 2015 die Mehrheit verloren. Die neue Regierung forderte eine Schuldenreduktion und liebäugelte mit dem Austritt aus der Währungsunion, was erneut Panik auf den Finanzmärkten und einen mehrmonatigen Machtkampf mit Brüssel und Frankfurt auslöste.
Im Sommer 2015 gab Athen schliesslich nach, obwohl sich eine klare Mehrheit der griechischen Bevölkerung in einem Referendum gegen neue Sparmassnahmen ausgesprochen hatte. Ein Austritt aus der Währungsunion war vom Tisch.
Seither ist es um Griechenland ruhig geworden. Für gelegentliche Schlagzeilen sorgt einzig die griechische Asylpolitik, aber von der wirtschaftlichen Lage des Landes ist nicht mehr die Rede. Sieben Jahre nach dem dramatischen Sommer von 2015 scheint es fast, als habe das Land in seiner jüngeren Geschichte nie eine Wirtschaftskrise erlebt.
Stimmt der Eindruck?
Die Lage hat sich tatsächlich verbessert. Der «Draghi-Effekt» hat sich als dauerhaft erwiesen. Die EZB hält die Mehrheit der griechischen Staatsschulden und sorgt dafür, dass die Zinsen bei neuen Anleihen tief bleiben. Darüber hinaus haben Brüssel und Frankfurt die Laufzeiten der alten Anleihen verlängert und die Zinsen gesenkt.
Dank dieser Massnahmen leidet Griechenland nicht mehr im selben Mass unter der grossen Schuldenquote, die fast 200 Prozent des BIP erreicht hat. Der jährliche Schuldendienst ist seit 2015 von 9 auf 6,5 Prozent des BIP gesunken.
Auch andere wirtschaftliche Kennzahlen zeigen, dass die Krise vorbei ist. 2015 hatte die Arbeitslosigkeit 25 Prozent betragen, heute liegt sie bei 15 Prozent. Der dramatische Rückgang des Pro-Kopf-Einkommens ist schon vor Jahren gestoppt worden und hat seither wieder zugenommen. Und dank neu gewonnener Stabilität und EU-Corona-Krediten vermochte Griechenland die Covid-Krise ohne Staatsbankrott zu bewältigen.
Im jüngsten Länderbericht vom Juni schreibt der Internationale Währungsfonds, die wirtschaftliche Erholung seit dem Ende der Pandemie habe alle Erwartungen übertroffen. Diese erfreulichen Nachrichten ändern jedoch nichts an der Tatsache, dass Draghis Intervention nur den finanziellen Zusammenbruch verhinderte, aber die fundamentalen Schwächen Griechenlands nicht zu lindern vermochte.
Die Auswanderungswelle hält an
Die Auswanderungsrate ist nach wie vor sehr hoch, und es sind vor allem die jungen und gut qualifizierten Arbeitskräfte, die das Land verlassen. 2012 emigrierten 125 000 Personen, 2019 waren es immer noch knapp 100 000, also weit mehr als vor dem Ausbruch der Euro-Krise, als im Durchschnitt etwa 65 000 Personen ausgewandert waren.
Auf welchem Niveau sich die Auswanderung nach dem Ende der Pandemie einpendeln wird, lässt sich noch nicht abschätzen. Ein starker Rückgang wäre eine grosse Überraschung, weil die schwache private Investitionstätigkeit auf eine anhaltende Misere hindeutet. Sie ist in absoluten Zahlen so gering wie vor dreissig Jahren.
Entsprechend ist der Produktivitätsfortschritt äusserst bescheiden. Dieser schwachen Investitionstätigkeit liegt das Problem zugrunde, dass, gemessen an der bescheidenen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, das griechische Lohn- und Preisniveau viel zu hoch ist, um eine wettbewerbsfähige Exportwirtschaft abseits des Tourismus aufzubauen. Privates ausländisches Kapital kommt kaum ins Land.
Würde die EZB ihre Garantie aufkündigen, käme an den Finanzmärkten sofort wieder Panik auf. So zeichnet sich immer deutlicher ab, dass Griechenland zu einem langfristigen wirtschaftlichen Kriechgang verurteilt ist, wenn es in der Währungsunion bleibt. Dasselbe gilt im Übrigen auch für die anderen südeuropäischen Länder.
Eben wurde bekannt, dass mehrere Hedge-fonds Geld sammeln, um auf einen Kursrückgang der italienischen Staatsanleihen zu wetten, weil sie sehen, dass dem Land der lange Atem für weitreichende Reformen fehlt. Die Attacke wird den Euro nicht gefährden können, aber sie macht bewusst, wie unvollendet und verwundbar die Währungsunion immer noch ist. Tobias Straumann, NZZ am Sonntag, 28. August 2022, S. 31, Tobias Straumann ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich.
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EU-Aktivismus bei Schweizer Politikern Nach fünfzehn Monaten Stillstand geht der EU-Aktivismus wieder los
Ende August 2022 will die Operation Libero ihre vor Monaten angekündigte Europa-Initiative vorstellen. Auch andere «Europa-Freunde» machen Druck. Nur der Bundesrat bleibt still.
Fast fünfzehn Monate ist es nun her, dass der damalige Bundespräsident Guy Parmelin die Verhandlungen mit der EU in Brüssel offiziell abgebrochen hat. Der Bundesrat hatte «Klärungen» verlangt, die ausblieben. Seither begnügt sich die Landesregierung mit einer Agenda, «explorativen Gesprächen» und resignierten Äusserungen. In einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» sagte Bundespräsident Ignazio Cassis im Juli 2022: «Der Bundesrat würde sehr gerne bessere Beziehungen zur Europäischen Union haben. Die Frage ist bloss, wie?»
Thema EU in der Bundesverfassung verankern
Bei der Frage nach dem Wie wollen verschiedene Organisationen dem Bundesrat nun Beine machen. Im Lead sind die Operation Libero und die Grünen, Ende August 2022 ihre vor Monaten angekündigte Europa-Initiative vorstellen. Geht es nach ihnen, wird das Thema «Europa» in der Bundesverfassung verankert. Gegenüber den Zeitungen von CH-Media sagt Sanija Ameti, die Co-Präsidentin der Operation Libero: «Wir wollen eine institutionelle Lösung. Damit sollen alte Abkommen aufdatiert und neue Abkommen abgeschlossen werden können.» Der Kern der Europa-Initiative, die offiziell Ende Jahr lanciert werden soll, ist demnach eine institutionelle Lösung.
Ebenfalls in Bewegung gesetzt hat sich die Europäische Bewegung Schweiz (früher Nebs). Laut den CH-Media-Portalen wählt sie den parlamentarischen Weg. Via Bundesbeschluss will sie den Bundesrat dazu bringen, «die EU umgehend um die Aufnahme von Verhandlungen zu ersuchen», wie der Präsident der Bewegung, der SP-Nationalrat Eric Nussbaumer, erklärt.
Der Entwurf für den Beschluss enthält drei Artikel. Im ersten wird das Legislaturziel des Bundesrats vom 21. September 2020 nochmals bekräftigt: «Die Schweiz verfügt über geregelte Beziehungen mit der EU.» Im zweiten Artikel soll die Schweiz ihren Willen zu Assoziierungsabkommen für die sektorielle Teilnahme am EU-Binnenmarkt bekunden und sich zu einer Lösung der offenen institutionellen Fragen mit der EU bekennen. Mit dem dritten Artikel wird Druck gemacht. Kommt der Beschluss durch, ist der Bundesrat aufgefordert, die Europäische Union umgehend um einen Verhandlungsbeginn zu bitten. Zudem soll er die Assoziierung der Schweiz bei den EU-Programmen wie Horizon oder Digital Europe vorantreiben.
Laut Eric Nussbaumer braucht der Bundesrat nun einen klaren Auftrag der Bundesversammlung. Mit einem Bundesbeschluss könne dieser in weniger als einem Jahr erteilt werden. Das sei viel schneller als ein Umweg über die von Operation Libero und Grünen geplante Volksinitiative, die frühestens in fünf Jahren zur Abstimmung kommen könnte.
Aussenpolitiker machen Druck
Die Europäische Bewegung Schweiz stützt sich bei ihrem Vorgehen auf einen Beschluss der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats (APK), den diese Ende August 2022 fasste. Mit 18 zu 7 Stimmen reichte die APK eine Kommissionsmotion ein, die verlangt, dass das Parlament beim sehnlichst erwarteten Europabericht des Bundesrats mitreden kann. Der Bundesrat solle deshalb einen einfachen Bundesbeschluss mit den Schlussfolgerungen zum Bericht vorlegen.
Der Europabericht ist ein wichtiges Strategiedokument, das die Stossrichtung für die politischen Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU vorgibt. Da die Bundesversammlung dazu noch nicht formell Stellung nehmen konnte, sollen die Räte die Möglichkeit erhalten, ihre Schlussfolgerungen zum Europabericht in der Form eines einfachen Bundesbeschlusses festzuhalten. Wie die Kommission mitteilte, wird vom Bundesrat zudem eine umfassende Information über die bisherigen Resultate und die nächsten Schritte in den Sondierungsgesprächen mit der EU erwartet.
Ziel der Aussenpolitiker ist demnach eine öffentliche Debatte: Das Parlament will erzwingen, dass es sich offiziell zu den nächsten Schritten in der Europapolitik äussern kann. Damit verschafft es seinem Ärger über das seit dem Abbruch des Rahmenabkommens herrschende Schweigen Luft.
Ob eine öffentliche Debatte und die Forderungen nach institutionellen Lösungen mit der EU reichen, um den Elefanten im Raum sichtbar zu machen, ist allerdings fraglich. Denn an den Ursachen für die Blockade hat sich in den vergangenen fünfzehn Monaten nichts geändert: Grundsätzlich wäre die Schweiz bereit, der EU in praktisch allen wesentlichen Punkten entgegenzukommen, wenn ihr die EU dafür in wenigen wesentlichen Punkten entgegenkommen würde. Doch die Schweizer Verhandler schaffen es weder, sich intern auf die No-Gos zu einigen, noch bringen sie den Dialog mit der EU vorwärts.
Die neuen Probleme sind die alten
Umstritten waren beim Rahmenabkommen insbesondere die drei Bereiche Lohnschutz, Übernahme der Unionsbürgerrichtline und Streitbeilegung. Damit in den Bereichen Lohnschutz und Zuwanderung die von der EU geforderte dynamische Rechtsübernahme mehrheitsfähig ist, würde die Schweiz gerne Schutzklauseln und Ausnahmen definieren. Bei der EU-Kommission beisst sie mit solchen Forderungen bis jetzt aber auf Granit.
Cassis formulierte das Dilemma so: «Das Paket, das wir geschnürt haben, beinhaltet die Möglichkeit von Ausnahmen, von Schutzklauseln, von verschiedenen Mechanismen. Es ist schon fast ein Ding der Unmöglichkeit, dass wir uns in der Schweiz auf eine Verhandlungsposition einigen. Falls wir dies eines Tages schaffen, müsste dann aber immer noch die EU einverstanden sein. Und die EU hat bekanntlich ganz andere Vorstellungen. Die Frage ist, wie gelingt es uns, einen gemeinsamen Nenner zu finden?»
Nach mehr als einem Jahr Kopfzerbrechen ist der Bundesrat in dieser Frage nur unwesentlich weitergekommen. Der Aktivismus der «Europafreunde» im Parlament wird daran nicht viel ändern. Die politischen Mehrheitsverhältnisse sind dieselben wie vor fünfzehn Monaten, die grossen Fragen nach wie vor offen. Nicht nur der Bundesrat würde «sehr gerne bessere Beziehungen zur Europäischen Union haben». Die Frage ist bloss, wie? NZZ, 29. August, S. 8.
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Streit um EU-Forschungsprogramm Horizon: Jetzt geht London rechtlich gegen Brüssel vor Im Brexit-Konflikt um die Assoziierung an das EU-Forschungsprogramm schlägt Grossbritannien erstmals den Rechtsweg ein. Die Briten sind überzeugt, das Recht auf ihrer Seite zu haben – denn anders als die Schweiz haben sie einen vertraglichen Anspruch auf Teilnahme an Horizon Europe.
Normalerweise sind die Rollen im Brexit-Streit klar verteilt. Hier Grossbritannien, das seine Verpflichtungen kreativ interpretiert und mit einem neuen Gesetzesprojekt zum Nordirland-Protokoll gar den unilateralen Vertragsbruch propagiert. Dort die EU, die akribisch über die Umsetzung der Brexit-Verträge wacht und gegen London auch schon juristisch vorgegangen ist. Nun aber haben die Akteure die Rollen getauscht: Weil die EU Grossbritannien die Forschungszusammenarbeit verweigert, leitet die britische Regierung erstmals rechtliche Schritte gegen Brüssel ein.
Brüsseler Blockade
Konkret wirft London der EU den Bruch des Ende 2020 besiegelten Brexit-Freihandels- und Kooperationsabkommens vor. Dieses regelt nicht nur den Handel zwischen der EU und Grossbritannien, sondern sieht explizit auch die britische Assoziierung an Horizon Europe vor, das mit 95,5 Milliarden Euro höchstdotierte Forschungsförderungsprogramm der Welt.
Doch die EU-Gremien haben seit eineinhalb Jahren keinerlei Anstalten gemacht, diese Assoziierung mit Beschlüssen in die Tat umzusetzen. Vielmehr hat Brüssel die Frage der Forschungszusammenarbeit politisch mit dem Streit um das Nordirland-Protokoll verknüpft. Von der Blockade betroffen sind auch das Erdbeobachtungsprogramm Copernicus sowie das Nuklearforschungsprogramm Euratom.
London sieht sich im Recht
Nun hat London im Rahmen des Streitschlichtungsmechanismus des Freihandelsabkommens «formelle Konsultationen» mit Brüssel beantragt. Diese dauern bis Mitte September, können aber verlängert werden. Einigen sich die Parteien nicht, kann London ein Schiedsgericht anrufen. Dieses stellt in einem mehrstufigen Verfahren fest, ob ein Vertragsbruch vorliegt. Sollte London recht erhalten und Brüssel den Entscheid nicht umsetzen, könnten die Briten Vergeltungsmassnahmen ergreifen, über deren Verhältnismässigkeit wiederum das Schiedsgericht befinden könnte.
Die Briten geben sich überzeugt davon, dass sie das Recht auf ihrer Seite haben. In London heisst es, das Brexit-Handelsabkommen von 2020 erlaube zwar Gegenmassnahmen wegen Streitigkeiten aus dem ersten Brexit-Vertrag von 2019, der das Nordirland-Protokoll umfasst. Doch habe man die Forschungskooperation bewusst von solchen Schritten ausgenommen.
Allerdings weiss auch die britische Regierung, dass die Streitschlichtung Jahre dauern kann. Da das Forschungsprogramm Horizon Europe nur bis 2027 läuft, schliesst sich wohl 2023 das Zeitfenster, in dem eine Beteiligung noch Sinn ergibt. Kurzfristig bietet sich für die zuständige Aussenministerin Liz Truss aber auch die Möglichkeit, im Rennen um die Nachfolge von Premierminister Boris Johnson zu punkten. Dass sie der EU einen «klaren Vertragsbruch» vorwarf, verhalf ihr in der Boulevardpresse zu markigen Schlagzeilen.
Schweiz hat keinen Rechtsanspruch
Grossbritannien steht im Streit mit Brüssel nicht allein. Die EU verweigert auch der Schweiz die Assoziierung an Horizon Europe, wobei sie diesen politisch motivierten Nadelstich mit den gescheiterten Verhandlungen über das Rahmenabkommen begründet.
Allerdings hat die Schweiz, anders als Grossbritannien, keine vertragliche Zusicherung für die Teilnahme an Horizon. Sowohl in Bern wie auch in London heisst es, das Forschungsabkommen zwischen der Schweiz und der EU schaffe keine vergleichbaren Rechtsansprüche.
Ohnehin steht dem Bundesrat der Streitschlichtungsmechanismus aus dem Brexit-Handelsabkommen nicht offen. Die Schweiz und die EU versuchen Streitigkeiten jeweils im Gemischten Ausschuss auszuräumen, wo man sich aber in politisch heiklen Fällen kaum je einig wird.
Forscher zahlen die Zeche
Die Ausgangslage im Streit mit Brüssel mag sich für Bern und London unterscheiden, doch sind die Folgen ähnlich. Zwar können die beiden Regierungen die Finanzierung von Projekten übernehmen, wenn die EU-Gelder nicht fliessen. Doch bleiben Forschende von Schweizer und britischen Institutionen von gewissen Projekten ausgeschlossen, unter anderem von den prestigeträchtigen Grants des European Research Council (ERC).
Zudem sind sie in Verbundprojekten von der Leitung ausgeschlossen und dürfen höchstens einzelne «Work Packages» verantworten. Der «Guardian» berichtete jüngst über einen führenden Astrophysiker der Universität Cambridge, der deshalb eine leitende Funktion in einem rund 2,8 Millionen Euro schweren Projekt der Europäischen Weltraumorganisation verlor.
In einem Brief an den EU-Kommissar Maros Sefcovic im Namen der britischen Universitäten appellierte jüngst auch Paul Boyle, der Vizerektor der Universität Swansea, an die Vernunft: Ein Ausschluss der britischen Universitäten von Horizon sei eine «Lose-lose-Situation für Gesundheit, Wohlfahrt und Wohlstand» in Europa und darüber hinaus.
Kooperation zwischen Bern und London?
Da die Schweiz und Grossbritannien zu den weltweit führenden Forschungsplätzen gehören, steht als Alternative zu Horizon auch eine Vertiefung der bilateralen Kooperation im Raum. Zwar heisst es in Bern wie in London, eine Assoziierung an das EU-Programm habe Priorität.
Doch im Frühling 2022 unterzeichneten Boris Johnson und Bundespräsident Ignazio Cassis eine Erklärung, die auch eine «Vertiefung der institutionellen Kooperation» in Forschung, Wissenschaft und Technologie vorsieht, wobei Studenten und Forscher unterstützt werden sollen. Bisher ist aber unklar geblieben, wie die beiden Seiten diese hehren Ziele – über die ohnehin mögliche Kooperation zwischen einzelnen Hochschulen hinaus – konkret umsetzen könnten. NZZ, 18. August 2022, S. 4
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