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Kurzinfos Mai 2022



Die NATO und Taiwan

Taiwans Außenminister dringt auf eine engere Zusammenarbeit der NATO. Der Militärpakt diskutiert über eine Ausweitung seiner Aktivitäten in die Asien-Pazifik-Region.

Taiwans Außenminister Joseph Wu verlangt eine engere Zusammenarbeit der NATO mit der Insel. Es gebe „zunehmend mehr Gespräche zwischen Taiwan und der NATO“, erklärte Wu in einem im Mai 2022 publizierten Interview mit einer führenden deutschen Tageszeitung. Dabei zeige sich „Potential für mehr Kooperation“. Hintergrund für die Forderung ist zum einen, dass in der NATO derzeit über eine Ausweitung der Bündnisaktivitäten in den Indischen und in den Pazifischen Ozean diskutiert wird. Zum anderen ist Taipeh auch deswegen um neue Verbündete bemüht, weil mit Blick auf den Ukraine-Krieg die Hoffnung schwindet, im Falle eines Krieges mit der Volksrepublik könne Washington Taiwan auch mit Truppen zu Hilfe eilen; zudem gehen die US-Waffenlieferungen an die Ukraine auch zu Lasten der Lieferungen an Taipeh.

Europa im Pazifik

Taipehs Außenminister Joseph Wu dringt auf eine enge Zusammenarbeit der NATO mit Taiwan. „Noch“ könne die Insel „die NATO nicht als Partner bezeichnen“, erklärte Wu in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung; doch gebe es inzwischen „zunehmend mehr Gespräche zwischen Taiwan und der NATO“: „Wir sehen Potential für mehr Kooperation.“[1] Im Hinblick auf die angeblichen oder tatsächlichen Gespräche erklärt Wu: „Ich sollte wahrscheinlich nicht ins Detail gehen, sonst bekommt die NATO Besuch vom chinesischen Botschafter.“ Er könne allerdings „sagen, dass wir im Laufe des vergangenen Jahres gesehen haben, dass europäische Länder bereit sind, dem Indo-Pazifik mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Das ist gut für uns.“ In der Tat haben mehrere Staaten Europas ihre Militärpräsenz im Pazifischen Ozean intensiviert; Großbritannien etwa hatte eine Flugzeugträgerkampfgruppe unter Beteiligung einer niederländischen Fregatte zu Manövern in den Pazifik entsandt, während Deutschland die Fregatte Bayern zu diversen Kriegsübungen in den Indischen und den Pazifischen Ozean geschickt hatte (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Auch Frankreich hat 2021 seine Manövertätigkeit in den zwei Weltmeeren ausgebaut.

„Keine Truppen geschickt“

Taipehs Forderung nach engerer Zusammenarbeit mit der NATO hat einen doppelten Hintergrund. Zum einen hat der Ukraine-Krieg erhebliche Erschütterungen in den Beziehungen zwischen Taiwan und den Vereinigten Staaten verursacht. Die Tatsache, dass Washington die Ukraine gleichsam als Prellbock gegen Russland gerüstet [3], sie nach dem russischen Überfall aber nicht mit US-Truppen unterstützt hat, hat in der taiwanischen Öffentlichkeit die bisherige Mehrheitsmeinung einbrechen lassen, die USA würden Taipeh im Fall eines militärischen Konflikts mit Peking direkten militärischen Beistand leisten. Hatten noch im November 2021 rund 65 Prozent der taiwanischen Bevölkerung die Ansicht vertreten, im Kriegsfalle würden US-Truppen auf der Seite Taiwans intervenieren, so rechneten im März nur noch 35 Prozent damit.[4] Aus Wus Äußerungen geht hervor, dass auch in der Regierung in Taipeh eine gewisse Ernüchterung herrscht. „Wir sollten nicht von anderen Ländern verlangen, ihre Leute für uns zu opfern“, erklärt Wu: „Aber selbst wenn die USA keine Truppen in die Ukraine geschickt haben, hat sich ihre Unterstützung als kritisch erwiesen.“[5] Man hoffe, die USA würden auch Taiwan im Kriegsfall „mit den nötigen Verteidigungsmitteln und Geheimdienstinformationen unterstützen“.

Ukraine statt Taiwan

Dabei wirft der Ukraine-Krieg auch auf diese Hoffnung einen ernsten Schatten. Aktuell ruft es in Taipeh einige Verstimmung hervor, dass die stark zunehmenden US-Waffenlieferungen an die ukrainischen Streitkräfte andere US-Rüstungsexporte in den Hintergrund geraten lassen, darunter solche nach Taiwan. Erst kürzlich wurde bekannt, dass US-Panzerhaubitzen des Typs M109A6 Paladin nicht, wie geplant, ab 2023, sondern frühestens ab 2026 an Taiwan geliefert werden. Auch die 250 Stinger-Luftabwehrraketen, die Taipeh eigentlich bis März 2026 erhalten soll, werden mit wohl beträchtlicher Verspätung geliefert.[6] Grund ist, dass die US-Rüstungsindustrie jetzt mit absoluter Priorität für die ukrainischen Streitkräfte produziert bzw. Bestände der US-Streitkräfte auffüllt, aus denen Kiew bedient wurde. Hinzu kommt, dass selbst US-Militärs ganz offen einräumen, die gewaltigen Summen, die Washington zur Zeit für die Ukraine locker macht – zuletzt ein Finanzpaket von stolzen 40 Milliarden US-Dollar –, müssten bald anderswo eingespart werden. Unter der „Begeisterung der Biden-Administration und des Kongresses für die Unterstützung der Ukraine“ werde in Zukunft auch „Taiwan leiden“, urteilt Guermantes Lailari, ein Ex-US-Militär, der zur Zeit in Taipeh tätig ist.[7]

„Bedrohungen im Indo-Pazifik“

Taipehs Dringen auf eine engere Zusammenarbeit mit der NATO erfolgt zum anderen zu einem Zeitpunkt, zu dem in dem transatlantischen Militärpakt zum wiederholten Male über eine Ausdehnung der Bündnisaktivitäten in die Asien-Pazifik-Region diskutiert wird. Anlass ist, dass auf dem NATO-Gipfel Ende Juni in Madrid ein neues Strategisches Konzept verabschiedet werden soll. In der Öffentlichkeit setzt sich bislang vor allem Großbritannien dafür ein, die NATO müsse dabei die bisherige Fokussierung auf Europa, Afrika und den Mittleren Osten aufgeben und sich stärker in die Asien-Pazifik-Region orientieren. Das Kriegsbündnis solle sich intensiver damit befassen, was „rings um die Welt“ geschehe, nicht nur im alten transatlantischen Umfeld, hatte Premierminister Boris Johnson bereits am 19. Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz gefordert.[8] Ende April preschte dann Außenministerin Liz Truss mit der Aussage vor, die NATO solle eine „globale Perspektive“ einnehmen und „globale Bedrohungen anpacken“ – etwa solche „im Indo-Pazifik“.[9] Es gelte dabei, „mit Verbündeten wie Japan und Australien zusammenzuarbeiten“ sowie „sicherzustellen, dass Demokratien wie Taiwan in der Lage sind, sich selbst zu verteidigen“.

Die erste Inselkette

Die Vorstöße werden in Peking mit größter Aufmerksamkeit beobachtet. Dort wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die NATO-Osterweiterung und der Ausbau der NATO-Kooperation mit der Ukraine Russlands Sicherheitsinteressen gravierend verletzt und damit Spannungen geschaffen haben, die einen Teil zu den russischen Kriegsmotiven und -zielen beitrugen. Zugleich warnt Peking regelmäßig, die westlichen Mächte bauten militärisch ihre Positionen im Indischen und im Pazifischen Ozean ähnlich aus wie einst mit der NATO-Osterweiterung in Osteuropa. Genannt werden dabei zumeist das Quad-Bündnis sowie der AUKUS-Pakt.[10] Eine NATO-Kooperation mit Taiwan verstieße noch eklatanter gegen zentrale chinesische Sicherheitsinteressen: Die Insel liege, wie Taipehs Außenminister Wu feststellt, „in Chinas erster Inselkette“, die von Japans südlichen Inseln über die Philippinen und Taiwan bis nach Borneo reicht. Wird die erste Inselkette von einem feindlichen Staat kontrolliert, dann kann dieser nicht nur Chinas Marine am Ausbrechen hindern.[11]

„In Unordnung gebracht“

Auf die Forderung der britischen Außenministerin, Taipeh militärisch zu unterstützen, reagierte Ende April Wang Wenbin, Sprecher des chinesischen Außenministeriums, mit dem Hinweis, es sei sehr hilfreich, „über die Auswirkung der NATO-Ostexpansion auf den langfristigen Frieden und die Stabilität in Europa nachzudenken“. „Die NATO hat Europa in Unordnung gebracht“, erklärte Wang und fragte dann rhetorisch: „Versucht sie nun, auch die Asien-Pazifik-Region und die ganze Welt in Unordnung zu bringen?“[12] 18. Mai 2022, https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8924

[1] Friederike Böge: „Es gibt immer mehr Gespräche zwischen Taiwan und der Nato“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.05.2022.

[2] S. dazu Mit der Luftwaffe an den Pazifik.

[3] S. dazu Waffen für die Ukraine und Machtkampf mit Tradition.

[4] More Taiwanese believe Japan will aid Taiwan if China invades: poll. english.kyodonews.net 22.03.2022.

[5] Friederike Böge: „Es gibt immer mehr Gespräche zwischen Taiwan und der Nato“. Frankfurter Allgemeine Zeitung 17.05.2022.

[6] Matthew Strong: Taiwan military sees possible delay in Stinger deliveries from US. taiwannews.com.tw 03.05.2022.

[7] Guermantes Lailari: Does the US focus on aid for Ukraine make Taiwan more vulnerable to Chinese invasion? taiwannews.com.tw 16.05.2022.

[8] Cristina Gallardo: Boris Johnson calls on NATO to go global. politico.eu 19.02.2022.

[9] Cristina Gallardo: UK’s Liz Truss: NATO should protect Taiwan too. politico.eu 27.04.2022.

[10] S. dazu Manöver in Ostasien und Der AUKUS-Pakt und die Fregatte Bayern.

[11] S. dazu Der Konflikt um Taiwan (I).

[12] Foreign Ministry Spokesperson Wang Wenbin’s Regular Press Conference on April 28, 2022. fmprc.gov.cn 28.04.2022.


Die letzte Bastion im Kriegsgebiet

Berlin gruppiert den Bundeswehreinsatz im Sahel um und bereitet eine Teilverlegung von Truppen nach Niger vor. Dort nimmt der Protest gegen auswärtige Militäroperationen zu.

Die deutsche Bundeswehr bereitet sich auf einen Teilabzug aus Mali und auf eine mögliche Verlegung von Truppen nach Niger vor. Wie es vor der heutigen Bundestagsdebatte über die Weiterführung des Einsatzes im Sahel heißt, werden die deutschen Streitkräfte zwar ihre Beteiligung am Ausbildungseinsatz in Mali (EUTM Mali) einstellen. Zugleich ist jedoch eine Aufstockung des deutschen Kontingents beim UN-Einsatz in Nordmali (MINUSMA) von 1.100 auf 1.400 Soldaten geplant. Die deutsche Bundesregierung zieht darüber hinaus neue Maßnahmen im an Mali grenzenden Niger in Betracht. Die dortigen Repressions- und Streitkräfte unterstützt Berlin schon seit Jahren – zunächst bei der Flüchtlingsabwehr, inzwischen auch mit der Ausbildung nigrischer Spezialkräfte. Die Bundeswehr könne ihre dortigen Aktivitäten womöglich in Form einer „Ausbildungsmission Sahel“ verstetigen, wird Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht zitiert. Während Mali und zunehmend auch Burkina Faso sich vom Westen ab- und Russland zuzuwenden beginnen, gilt Niger als verbliebene prowestliche Bastion im unmittelbaren Kriegsgebiet im Sahel. Allerdings wächst auch dort der Protest.

Aus Mali nach Niger

Frankreich wird seine Streitkräfte, soweit sie zur Zeit noch in Mali stationiert sind, zumindest teilweise nach Niger verlegen. Den Plänen hat das nigrische Parlament bereits am 22. April zugestimmt.[1] Hintergrund sind Frankreichs Bemühungen, in der Sahelzone militärisch präsent zu bleiben, um den Kampf gegen die dortigen Jihadisten fortzusetzen; außerdem ist Paris bestrebt, einen weiteren Einflussverlust in der Region zu vermeiden. Mali orientiert sich unter den dort herrschenden Militärs immer mehr an Russland; auch in Burkina Faso nimmt – zumal seit dem Putsch burkinischer Offiziere vom 23. Januar 2022 – der russische Einfluss zu. Lediglich Niger gilt unter Präsident Mohamed Bazoum weiterhin als prowestliche Bastion im unmittelbaren Kriegsgebiet. In Niger sollen nun Militärstützpunkte in der Region Tillabéri entlang der Grenze zu Mali errichtet werden. Das Gebiet gilt als ein Zentrum der aktuellen jihadistischen Aufstände. Details sind noch nicht bekannt. Unklar ist nicht zuletzt, wie viele französische Soldaten nach Niger verlegt werden sollen. Aus Mali abziehen müssen 2.400 Militärs aus der Opération Barkhane, außerdem 900 Spezialkräfte aus der Task Force Takuba, darunter Militärs anderer europäischer Streitkräfte.[2]

Flüchtlingsabwehr in der Wüste

Auch die Bundesrepublik Deutschland ist bemüht, nach der faktischen Einstellung von EUTM Mali nun stärker in Niger Fuß zu fassen. Deutschland unterhält längst enge Beziehungen zu Militär und Polizei in dem Land; dabei waren diese zunächst durch die Migrationsabwehr geprägt: Niger ist ein bedeutendes Transitland für Flüchtlinge, die aus Afrika südlich der Sahara über Libyen nach Europa zu gelangen suchen. Seit 2013 unterstützt die Entwicklungsorganisation GIZ (Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) die nigrische Polizei – nicht zuletzt bei der Grenzabschottung.[3] Die EU trainiert schon seit 2012 mit Hilfe von EUCAP Sahel Niger nigrische Repressionskräfte; auch dabei haben Maßnahmen zum Aufgreifen von Flüchtlingen einen wichtigen Stellenwert. Die Bundesrepublik stellte für EUCAP Sahel Niger zuletzt rund 20 Polizisten. Während der Amtszeit des heutigen Präsidenten Bazoum als Innenminister (2016 bis 2020) initiierte die EU in Niger den Bau von Lagern, in die Flüchtlinge aus Libyen zurückgebracht wurden, um sie von der Weiterreise nach Europa abzuhalten. Darüber hinaus liefert die Bundesrepublik seit 2018 Rüstungsgüter, die der Grenzabschottung dienen – insbesondere Militär-Lkw, Überwachungsgeräte und Wärmekameras.

Lufttransportstützpunkt im Sahel

Jenseits ihrer Bemühungen zur Stärkung der Flüchtlingsabwehr unterhält die Bundeswehr seit 2016 einen Lufttransportstützpunkt am Flughafen der Hauptstadt Niamey. Hintergrund ist, dass Niamey erheblich näher am nordmalischen Einsatzgebiet des deutschen Kontingents der UN-Truppe MINUSMA liegt als Malis Hauptstadt Bamako; verletzte Soldaten können deshalb deutlich rascher über Niamey ausgeflogen werden als über Bamako. Aufgrund der größeren Nähe zum Einsatzgebiet wird der nigrische Flughafen von der Bundeswehr auch als Logistikdrehscheibe für MINUSMA genutzt. Der militärische Teil des Flughafens in Niamey, die base aérienne 101, dient außerdem den französischen Streitkräften als Basis für die Opération Barkhane, den großen Pariser Kampfeinsatz im Sahel. Zumindest zeitweise wurde die base aérienne 101 auch von den US-Streitkräften genutzt – nicht zuletzt als Stützpunkt für Drohnen. Mittlerweile verfügt Washington in Niger über eine eigene Basis dafür.

Spezialkräfte ausbilden

Seit 2018 bildet die Bundeswehr zudem im Rahmen ihrer Operation Gazelle nigrische Spezialkräfte für die Planung und Durchführung von Einsätzen gegen Jihadisten aus; dazu sind deutsche Kampfschwimmer in dem Land stationiert. Seit dem vergangenen Jahr werden die Ausbildungsmaßnahmen in Tillia durchgeführt, einem Ort unweit der Grenze zu Malis Norden. Dort ist im Juli vergangenen Jahres offiziell ein Trainingszentrum für die nigrischen Spezialkräfte in Betrieb genommen worden, das mit maßgeblicher Unterstützung aus Deutschland errichtet wurde.[4] Manche nigrischen Soldaten werden dabei als Scharfschütze trainiert; deutsche Spezialkräfte begleiten die nigrischen Militärs zudem auf Patrouillen.[5] Die Operation Gazelle, die vom Bundesverteidigungsministerium als „Vorzeigeprojekt“ eingestuft wird, läuft offiziell zum Ende des Jahres 2022 aus. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht spricht sich allerdings für eine Fortsetzung der Bundeswehraktivitäten in Niger aus – womöglich als „Ausbildungsmission Sahel“.[6]

Ziviler Protest

Bei ihrem Besuch in Niger am 10. April 2022 hob Lambrecht hervor, ihr nigrischer Amtskollege Alkassoum Indattou habe sich – anders als etwa die Militärs in Mali – „ganz klar gegen eine Kooperation mit russischen Söldnern entschieden“.[7] Die klar prowestliche Orientierung der Regierung unter Präsident Bazoum ist allerdings im Land selbst nicht mehr unumstritten; es wird berichtet, es gebe scharfe Kritik am außenpolitischen Kurs der Regierung nicht nur in der parlamentarischen Opposition, sondern auch in zivilen Organisationen und in weiten Teilen der Öffentlichkeit.[8] So warnt etwa ein Sprecher des Komitees Tillabéri pour la paix, la sécurité et la cohésion sociale, die Operationen der westlichen Streitkräfte in Mali hätten die Lage nicht zum Besseren gewendet; es gebe keinen Grund anzunehmen, ihnen werde das nun in Niger gelingen.[9] Beobachter weisen darauf hin, dass Bazoum bei der Bekanntgabe seiner Pläne für die Stationierung europäischer Militärs in Niger im Februar 2022 deutlich bemüht gewesen sei, die Parlamentsopposition, zivile Organisationen sowie religiöse Autoritäten einzubinden, um jegliche Kritik auszuhebeln sowie sein Vorgehen nach Kräften abzusichern.[10]

Putschversuche

Ob dies gelingt, ist ungewiss. Jenseits des wachsenden zivilen Unmuts über die Ausweitung der französischen bzw. europäischen Militärintervention in Niger schwillt auch die Unruhe in den Streitkräften des Landes an. Zunächst im März vergangenen Jahres, dann in März 2022 kam es jeweils zu einem Putschversuch gegen Bazoum. Beide konnten niedergeschlagen werden. Ob Nigers Regierung allerdings auf Dauer in der Lage ist, zivilen und militärischen Protest gleichermaßen zu unterdrücken, um ein stabiles Umfeld für die europäischen Soldaten aufrechtzuerhalten, muss sich erst noch zeigen. In Mali und in Burkina Faso gelang es nicht.11. Mai 2022, https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8916



Mehr zum Thema: Koloniale Reflexe (II) (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8837) , Koloniale Reflexe (III) (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8848) und „Nicht Russland überlassen“ (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8913).

[1] Sahel : le redéploiement de forces spéciales européennes autorisé au Niger. l‘opinion.fr 23.04.2022.

[2] Mathieu Olivier: Niger : Les plans de Mohamed Bazoum après le retrait de Barkhane du Mali. jeuneafrique.com 25.02.2022.

[3] S. dazu Europas Wüstengrenze. (https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7293)

[4] Marturin Atcha: Le Niger se dote d’un centre d’entraînement de forces spéciales antijihadistes. actucameroun.com 16.07.2021.

[5] Matthias Lehna: Mitten in der Wüste. bundeswehr.de.

[6], [7] Amina Vieth: Ministerin für weiteres Engagement im Sahel – unter bestimmten Bedingungen. bmvg.de 11.04.2022.

[8], [9] Mucahid Durmaz: Analysis: Can Niger become the main Western ally in the Sahel? aljazeera.com 09.05.2022.

[10] Mathieu Olivier: Niger : Les plans de Mohamed Bazoum après le retrait de Barkhane du Mali. jeuneafrique.com 25.02.2022.


Die Eurokrise 2.0

Forderungen nach einer „Zinswende“ bei der EZB im Kampf gegen die Inflation werden stärker. Finanzexperten warnen, eine steigende Zinslast in Südeuropa könne in eine neue Eurokrise führen.

Finanzexperten warnen mit Blick auf bevorstehende Zinserhöhungen der Europäischen Zentralbank (EZB) vor einer „Eurokrise 2.0“. Hintergrund sind vor allem in Deutschland verbreitete Forderungen, die EZB müsse wegen der grassierenden Inflation dringend die Leitzinsen anheben – spätestens im Sommer, fordert die deutsche EZB-Direktorin Isabel Schnabel. Den Schritt hat die US-Notenbank Fed im Kampf gegen die Inflation, die auch in den Vereinigten Staaten in die Höhe geschnellt ist, bereits getan. Komme die EZB den Forderungen nach, dann drohe dies vor allem die stark verschuldeten Staaten in Südeuropa zu belasten, warnen Experten der Deutschen Bank; diese hätten bereits „ähnliche Zinskosten“ im Verhältnis zu ihrem Bruttoinlandsprodukt (BIP) wie kurz vor dem Ausbruch der Eurokrise. Erschwerend komme hinzu, dass ihr heutiges Verschuldungsniveau erheblich höher ist; Italien etwa hat Schulden in Höhe von 160 Prozent seiner Wirtschaftsleistung. Andererseits drohe ein Festhalten an der lockeren Geldpolitik die Inflation „aus dem Ruder laufen“ zu lassen: ein „Dilemma“.

„Die Macht des Faktischen“

Angesichts der rasch zunehmenden Inflation, die bald zweistellige Steigerungsraten erreichen könnte, mehren sich in der deutschen Öffentlichkeit Forderungen nach einer Zinswende bei der Europäischen Zentralbank (EZB). Die EZB müsse sich der „Macht des Faktischen stellen“, kommentieren Leitmedien, die unter Verweis auf die ohnehin steigenden Renditen europäischer Staatsanleihen und den „Straffungskurs“ der US-Notenbank Fed ein rasches Ende der expansiven Geldpolitik in Europa fordern.[1] So sei die Rendite deutscher Staatsanleihen wie etwa der zehnjährigen Bundesanleihe, die als „Referenzzins des Euroraums“ bezeichnet wird, stark gestiegen, was die Folge einer „Verkaufswelle am Anleihemarkt“ sei. (Die Verzinsung von Staatsschulden, die in Anleiheform gehandelt werden, steigt bei fallenden Kursen. Je niedriger die Nachfrage nach Staatsanleihen, desto höher die Renditen.) Mit den Anleiheverkäufen reagierten „die Anleger auf das veränderte Inflationsumfeld“, sodass der Anleihemarkt die Zinswende faktisch „schon vollzogen“ habe, heißt es. Da sich die Märkte aufgrund der ausufernden Inflation ohnehin auf Zinserhöhungen einstellen müssten, die stärker ausfallen dürften, als „vor Kurzem noch erwartet worden“ sei, solle die EZB rasch handeln, bevor es „möglicherweise zu spät“ sei – und die Inflationsdynamik nicht mehr durch vorsichtige, graduelle Zinsschritte eingedämmt werden könne.

Zinswende im Sommer?

Die deutsche EZB-Direktorin Isabel Schnabel ist jetzt mit der Forderung hervorgetreten, im Sommer die Leitzinsen anzuheben. „Jetzt reicht es nicht mehr zu reden, wir müssen handeln“, sagte Schnabel, die eine „Zinserhöhung im Juli für möglich“ hält.[2] Zuvor müssten die Anleihekäufe der EZB eingestellt werden. Diese waren in Reaktion auf den pandemiebedingten Krisenschub 2020 abermals initiiert worden, um das Zinsniveau in der südlichen Eurozonenperipherie trotz massiver Schuldenaufnahme niedrig zu halten. Die „Nettozukäufe von Anleihen“ sollten „voraussichtlich Ende Juni“ eingestellt werden, erklärte Schnabel. Ihr zufolge würde eine zögerliche Haltung der EZB zu einer Stagflation führen: zu einer „fatalen Mischung aus hoher Inflation und Rezession“. Es sei vor allem notwendig, eine „Lohn-Preis-Spirale“ zu verhindern, bei der die anziehende Inflation mit höheren Lohnforderungen der Gewerkschaften einhergehe. Dabei sei klar, dass „höhere Lohnforderungen kommen würden“, räumte Schnabel ein; die Geldpolitik müsse deshalb durch Zinserhöhungen verhindern, „dass sich die hohe Inflation in den Erwartungen festsetzt“. Die EZB-Direktorin konstatierte überdies eine „Verbreitung des Inflationsdrucks“, die sich im April 22 in einer Rekordinflation von 7,5 Prozent in der Eurozone äußerte. Besonders alarmierend sei der Anstieg der Kerninflation auf 3,5 Prozent, bei der die rasch steigenden Preise für Energie und Nahrungsmittel nicht berücksichtigt werden.

Kontrollverlust?

Deutsche Ökonomen kritisieren, bislang habe sich vor allem die französische EZB-Präsidentin Christine Lagarde gegen eine Leitzinserhöhung gesträubt, wodurch die Notenbank ihre „Glaubwürdigkeit“ riskiere und Gefahr laufe, die „Kontrolle über das Preisniveau“ zu verlieren. Die EZB hatte Mitte April 2022 den Leitzins bei null Prozent belassen, was deutsche Leitmedien mit deutlicher Kritik quittiert hatten.[3] Lagardes bisherige Weigerung, die Leitzinsen in Reaktion auf die Inflation anzuheben, ist vor allem eine Folge der schwierigen ökonomischen Lage der südlichen Eurozonenperipherie, die auf die niedrigen Zinsen angewiesen ist. Das fundamentale ökonomische Ungleichgewicht zwischen dem exportfixierten deutschen Zentrum und dem überschuldeten Südeuropa manifestiert sich im sogenannten Spread – der Zinsdifferenz – zwischen deutschen und italienischen Staatsanleihen, der einen zuverlässigen Krisenindikator für die Eurozone bildet. Die Financial Times etwa äußert dazu, die bloße Ankündigung einer Zinswende in der Eurozone, bei der die EZB zugleich aufhören werde, ihr „4,9 Billionen Euro umfassendes Anleiheportfolio“ durch weitere Aufkäufe zu vergrößern, lasse nicht nur die Zinsen steigen, sondern auch den Spread zwischen der zehnjährigen Bundesanleihe und dem entsprechenden italienischen Schuldtitel.[4] Dieser ist inzwischen in der Tat auf 1,9 Prozent gestiegen, was an den letzten großen Krisenschub im Jahr 2020 erinnert, als die deutsch-italienische Zinsdifferenz aufgrund der Pandemie 2,5 Prozent erreichte, bevor sie nach dem Beginn der aktuellen Phase einer expansiven EZB-Geldpolitik auf weniger als einen Prozentpunkt gedrückt werden konnte.

Staatsschulden: 160 Prozent

Italien, die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone, hat inzwischen eine Staatsverschuldung in Höhe von 160 Prozent des Bruttoinlandsprodukts akkumuliert, was die Bedienung dieses Schuldenberges in Hochzinsphasen erschwert – und das Risiko eines Zahlungsausfalls in Krisenschüben steigen lässt. Zudem wird die EZB durch die Verringerung ihres Aufkaufprogramms für Staatsanleihen, das im Sommer auslaufen soll, schätzungsweise nur 40 Prozent der 2022 in der Eurozone neu begebenen Staatsschulden aufkaufen, während es in den zwei Jahren nach Ausbruch der Pandemie 120 Prozent waren; die EZB kaufte damals mehr Staatsanleihen von EU-Staaten auf, als neue Schuldpapiere in die Märkte gepumpt wurden. Im Fall Italiens würden damit in diesem Jahr nur 45 Prozent der von Rom neu begebenen Staatsanleihen aufgekauft. Im Vorjahr waren es 140 Prozent, was Italiens Zinslast erheblich reduzierte. Das Land wird dieses Jahr voraussichtlich neue Schulden im Umfang von 80 Milliarden Euro aufnahmen müssen.

Ein neuer Krisenschub

Deutsche Medien spekulieren angesichts dieses fundamentalen Ungleichgewichts zwischen dem nördlichen Zentrum und der südlichen Eurozonenperipherie bereits über eine Neuauflage der Eurokrise.[5] Demnach ist ein zentrales Ziel der deutschen Austeritätspolitik, die nach Ausbruch der Eurokrise ab 2011 vom damaligen Finanzminister Schäuble EU-weit oktroyiert wurde, nicht erreicht worden: Eine Verringerung des staatlichen Verschuldungsniveaus in Relation zum BIP konnten seit 2011 nur Irland und Deutschland verzeichnen. In Spanien etwa ist die Schuldenquote in der vergangenen Dekade um 70 Prozent angestiegen, in Frankreich um 29 Prozent, in Italien um 26 Prozent. Deutschland konnte hingegen aufgrund besonders niedriger Zinsen und hoher Exportüberschüsse seine Staatsschuldenquote im selben Zeitraum um 13 Prozent drücken. Die Eurostaaten haben – dank der bisherigen expansiven Geldpolitik der EZB – zwar ihre „Zinskosten“ senken und die Laufzeiten ihrer Anleihen verlängern können, heißt es in Einschätzungen von Finanzexperten; doch sei die Gesamtverschuldung gestiegen. Dies sei vor allem in „ohnehin hoch verschuldeten Ländern“ der Fall, sodass diese potenziellen Krisenländer abermals „ähnliche Zinskosten im Verhältnis zum BIP haben“ wie kurz vor Ausbruch der Eurokrise – und dies bei einem heute höheren Verschuldungsniveau. Da die rasch ansteigende Inflation die EZB zum Handeln zwinge, drohe ein abermaliger Krisenschub: „Sollten die Zinssätze länger stark ansteigen, könnten wir durchaus vor einer Euro-Krise 2.0 stehen,“ warnten Analysten der Deutschen Bank Anfang Mai 2022.

„Ein Dilemma“

Dennoch steigt in Deutschland der Druck auf die EZB, die Zinswende einzuleiten. Andere Notenbanken hätten auf die „galoppierende Inflation“ bereits regiert, monierten deutsche Medien unter Verweis auf die Zinswende in den USA und in Großbritannien. Die US-Notenbank Fed hat – nach einer ersten vorsichtigen Zinserhöhung auf 0,25 bis 0,5 Prozent im März – am 4. Mai 2022 einen radikalen Zinsschritt um 0,5 Prozent vollzogen. So etwas sei seit mehr als 20 Jahren nicht mehr der Fall gewesen, heißt es; „das letzte Mal, als die US-Notenbank die Zinsen um einen halben Prozentpunkt erhöhte“, sei noch Bill Clinton US-Präsident gewesen.[6] Die mit 8,5 Prozent „viel zu hohe Inflation“ mache die rasche Anhebung der Leitzinsen erforderlich, hieß es in der Begründung der Fed. Dabei sprachen die US-Notenbanker von einem „Balanceakt“, der „nicht einfach“ sei, da die Inflationsbekämpfung mit einer raschen Konjunkturabkühlung einhergehe, die nicht in eine „Rezession“ abdriften solle. Ob dies möglich sei, bleibe fraglich, da der Zinsanstieg besonders rasch erfolge, während die Weltwirtschaft sich zügig abschwäche, urteilen Analysten.[7] Die EZB steckt in einer identischen Krisenfalle.[8] Eine Zinserhöhung könne den „verhaltenen Aufschwung in der Eurozone abwürgen“ und zu einer Stagflation führen [9], während ein Festhalten an der lockeren Geldpolitik die „Inflation aus dem Ruder laufen“ lasse, heißt es in Berichten, in denen von einem „Dilemma“ die Rede ist [10]. 10. Mai 2022, https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8915



[1] Die EZB muss sich der Macht des Faktischen stellen. faz.net 25.04.2022.

[2] Europäische Zinswende im Sommer? tagesschau.de 04.05.2022.

[3] EZB auf dem Weg zum Kontrollverlust? tagesschau.de 14.04.2022.

[4] ECB policy tightening sends eurozone borrowing costs soaring. ft.com 04.05.2022.

[5] Analysten sehen Möglichkeit neuer Euro-Krise. n-tv.de 06.05.2022.

[6] Das bedeutet die Zinswende für Anleger. n-tv.de 04.05.2022.

[7] US-Notenbank hebt Leitzins deutlich an. tagesschau.de 04.05.2022.

[8] Tomasz Konicz: Politik in der Krisenfalle. heise.de/tp 15.08.2011.

[9] Tomasz Konicz: Zurück zur Stagflation? untergrund-blättle.ch 24.12.2021.

[10] Fluch und Segen des schwachen Euro. tagesschau.de 03.05.2022.


„Nicht Russland überlassen”

Die Deutsche Bundesregierung bereitet eine Umgruppierung des Bundeswehreinsatzes in Mali vor. Wie Verteidigungsministerin Christine Lambrecht bekräftigt, sollen die zuletzt 300 deutschen Soldaten, die im Rahmen des Trainingseinsatzes EUTM Mali als Militärausbilder aktiv waren, ihre Tätigkeit einstellen; EUTM Mali wird allenfalls noch auf Beraterebene in kleinem Maßstab fortgeführt. Aufgestockt werden soll aber das deutsche Kontingent beim UN-Einsatz MINUSMA: auf bis zu 1.400 Soldaten. Die Umgruppierung erfolgt zum einen, weil der seit neun Jahren andauernde Einsatz erfolglos geblieben ist; die Jihadisten, die im Jahr 2013 in Nordmali operierten, sind inzwischen auch im Zentrum des Landes sowie in mehreren Nachbarstaaten präsent. Hinzu kommt, dass Militärberater sowie private Militärfirmen aus Russland begonnen haben, die Streitkräfte in Mali zu unterstützen; Aktivitäten an ihrer Seite kommen für Berlin und Brüssel nicht in Betracht. Moskau weitet trotz des Ukraine-Krieges seine Militärkooperation mit Staaten des afrikanischen Kontinents aus – zuletzt in Kamerun und Sudan.

Einsatz gescheitert

Das faktische Ende des EU-Trainingseinsatzes in Mali (EUTM Mali) hat eine doppelte Vorgeschichte. Zum einen ist der Einsatz gescheitert. Ziel war es, die malischen Streitkräfte für den Krieg gegen Jihadisten und irreguläre Milizen auszubilden, während vorläufig französische Kampftruppen im Rahmen der Opération Barkhane diesen Krieg führten, dabei unterstützt unter anderem von den Blauhelmen des UN-Einsatzes MINUSMA, die den Norden des Landes unter Kontrolle halten sollten, sowie zuletzt auch von Spezialkräften aus Europa, der Task Force Takuba. Das Konglomerat an Interventionen ist nie wirklich erfolgreich gewesen; im Gegenteil: Im Lauf der Jahre hat sich der stark jihadistisch geprägte Aufstand nicht nur vom Norden auf das Zentrum des Landes ausgeweitet, sondern auch auf die Nachbarstaaten, insbesondere auf Niger und Burkina Faso; nach neun Einsatzjahren stehen nicht mehr ein kleiner, sondern große Teile des Sahel in Flammen. MINUSMA ist bereits seit acht Jahren der gefährlichste UN-Einsatz überhaupt mit insgesamt mehr als 250 Todesopfern; Frankreich hat in Mali bisher 53 Soldaten verloren.[1] Schon seit längerer Zeit wird diskutiert, die Einsätze in Mali wegen ihres offensichtlichen Scheiterns zu beenden. Eine Entscheidung blieb bislang allerdings aus.

Bruch mit Frankreich

Zum anderen ist es im Lauf des vergangenen Jahres zu einem tiefen Zerwürfnis zwischen Mali und Frankreich sowie zu einer Umorientierung der malischen Regierung gekommen. In einem Putsch hatten sich in Bamako am 18. August 2020 Militärs an die Macht gebracht, die – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des arroganten, eigenmächtigen Handelns französischer Politiker und Militärs im Sahel – großen Wert auf die Souveränität des malischen Staates legten. Den Versuch der von ihnen eingesetzten, zivil geführten malischen Regierung, sie im Mai 2021 zu entmachten, begriffen sie als Schritt Frankreichs, seine Kontrolle über Mali wiederherzustellen, und putschten am 24. Mai 2021 erneut. Einerseits begannen sie, Kontakt nach Russland aufzunehmen, um sich dort ergänzende militärische Unterstützung zu verschaffen; andererseits reagierte Paris mit wachsender Ablehnung auf ihren politischen Kurs. Der Konflikt begann Anfang des Jahres zu eskalieren. Auf weitere Eigenmächtigkeiten und beleidigende Äußerungen französischer Regierungsmitglieder reagierten die Militärs in Bamako mit der Ausweisung europäischer Truppen sowie des französischen Botschafters [2]; Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wiederum kündigte den Abzug der französischen Streitkräfte an [3]. Die in Bamako regierenden Militärs kündigten daraufhin alle Verteidigungsabkommen ihres Landes mit Frankreich und begannen damit, sämtliche Brücken nach Paris abzubrechen.[4]

Russlands Militärkooperation in Afrika

Mit ihrer Militärkooperation mit Moskau steht die Regierung in Bamako in Afrika nicht allein. Russland gehört nicht nur zu den bedeutendsten Waffenlieferanten des afrikanischen Kontinents: Fast die Hälfte des Kriegsgeräts, über das die dortigen Streitkräfte verfügen, ist russischen Ursprungs; bei der Lieferung schwerer Waffen hält Russland noch heute einen Anteil von rund 20 Prozent.[5] Moskau hat im Jahr 2018 ein Militärabkommen mit der Zentralafrikanischen Republik geschlossen und ist mit Militärberatern, Ausbildern und privaten Militärfirmen dort präsent. Seit Ende Jahres 2021 trifft das auch auf Mali zu.[6] International Aufmerksamkeit erhielt, dass im Dezember 2021 Mitarbeiter privater russischer Militärfirmen im malischen Timbuktu Räumlichkeiten bezogen, die wenige Wochen zuvor noch von mittlerweile abgezogenen französischen Soldaten genutzt worden waren. Die russisch-afrikanische Militärkooperation wird ungeachtet des Ukraine-Kriegs ausgebaut. So schlossen Russland und Kamerun am 12. April 2022 ein Abkommen zur Stärkung ihrer Zusammenarbeit auf militärischem Gebiet.[7] Auch Sudan intensiviert diesbezüglich seine Kooperation mit Moskau: Am 2. März 2022 kehrte der stellvertretende Leiter des dort herrschenden Militärrats, Mohammed Hamdan Dagalo, nach rund eine Woche dauernden Gesprächen aus Moskau heim; er äußerte, Khartum sei weiterhin bereit, Russland eine Marinebasis an seiner Küste errichten zu lassen.[8]

EUTM Mali wird eingestellt

Mit Blick auf den Bruch der malischen Militärs mit Frankreich einerseits, auf ihre immer engere, von der malischen Bevölkerung weithin mit Sympathie begleitete Zusammenarbeit mit Russland andererseits hat der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am 11. April angekündigt, EUTM Mali werde die Arbeit weitgehend einstellen; lediglich zur Beratung solle der Einsatz in kleinem Umfang weitergeführt werden.[9] EUTM Mali wenigstens der Form nach aufrechtzuhalten gilt als vorteilhaft, weil ihr offiziell die „Operation Gazelle“ unterstellt ist, eine Ausbildungsmaßnahme für Spezialkräfte im angrenzenden Niger; diese soll zumindest bis Jahresende weitergeführt werden. Dazu ist laut Angaben aus dem Bundesverteidigungsministerium eine Umbenennung von EUTM Mali in EUTM Sahel im Gespräch.[10] Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht bestätigte, dass der Einsatz von zuletzt 300 deutschen Soldaten im Rahmen der EUTM Mali zu Ende gehe; der Bundestag wird demnach, wenn er am 31. Mai über den deutschen Mali-Einsatz entscheidet, das Trainingsmandat nicht verlängern.

MINUSMA wird aufgestockt

Voraussichtlich verlängert werden soll allerdings die deutsche Beteiligung an MINUSMA. Dies geschieht zum einen mit dem Hinweis, man dürfe – so ist es in Berlin zu hören – Mali „nicht Russland überlassen“. Zum anderen soll der Mali-Einsatz nicht ersatzlos aufgegeben werden: Eine Umgruppierung in andere Sahel-Staaten, mutmaßlich vor allem nach Niger, wird vorbereitet, um im Kampf gegen Jihadisten im Sahel europäische Positionen zu sichern; dabei kann MINUSMA eventuell in Zukunft auch weiterhin eine wichtige Funktion ausüben. Allerdings müssen dazu vor allem militärische Aufgaben, die bislang von französischen Kampftruppen aus der Opération Barkhane durchgeführt wurden, von neuen Einheiten übernommen werden. Nicht zuletzt in diesem Zusammenhang ist eine Aufstockung des deutschen Kontingents geplant – von bislang bis zu 1100 Soldaten auf künftig wohl bis zu 1400.[11] 6. Mai 2022, https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8913



[1] UN worker killed in militant attack on peacekeeping convoy in Mali. theglobeandmail.com 03.12.2021.

[2] S. dazu Koloniale Reflexe (II). https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8837

[3] S. dazu Koloniale Reflexe (III). https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8848

[4] Fatoumata Diallo: Mali : la junte d‘Assimi Goïta réclame la fin des accords de défense, la France s’y oppose. jeuneafrique.com 04.05.2022.

[5] Moses B. Khanyile: Sanctions against Russia will affect arms sales to Africa: the risks and opportunities. theconversation.com 27.03.2022.

[6] Fatoumata Diallo: Mali : la junte d‘Assimi Goïta réclame la fin des accords de défense, la France s’y oppose. jeuneafrique.com 04.05.2022.

[7] Cameroon signs agreement with Russia in further boost to military ties. rfi.fr 22.04.2022.

[8] Sudan remains open to naval base deal with Russia. al-monitor.com 04.03.2022.

[9] EU fährt Militär-Ausbildung in Mali zurück. zdf.de 11.04.2022.

[10] Ministerin in Niamey: Gazelle ein „Vorzeigeprojekt“. bmvg.de 10.04.2022.

[11] Thomas Wiegold: Bundeswehreinsatz in Mali: Weniger Mandat, mehr Soldaten geplant – ein Überblick. augengeradeaus.net 04.05.2022.


Liberté de la presse : pour Bruxelles, des principes à géométrie variable

Le 3 mai s’est déroulée « la journée mondiale pour la liberté de la presse ». Le chef de la diplomatie de l’UE, Josep Borrell, n’a évidemment pas manqué l’occasion : il a consacré la quasi-intégralité de sa déclaration à dénoncer « les forces russes (qui) détiennent, enlèvent et ciblent des journalistes et des acteurs de la société civile afin d’empêcher le monde d’entendre la vérité ».

De son côté, la Commission européenne a rappelé qu’elle se considérait modestement comme la championne de la défense de la liberté des médias. Pour sa part enfin, la présidence française du Conseil de l’UE (les Etats membres) concocte des mesures susceptibles de « promouvoir un soutien financier, juridique et professionnel » et de permettre l’accueil de « journalistes indépendants et autres médias exilés, tout particulièrement d’Ukraine, du Bélarus et de la Fédération de Russie, qui ont trouvé refuge dans l’Union européenne ».

Paris suggère aussi des mécanismes pour mettre en place des « critères et des normes » de bon journalisme, qui permettraient notamment d’orienter la publicité vers les médias en ligne qui respectent ceux-ci. Haut-représentant, Commission et Conseil ont cependant été à l’origine de la décision de « suspendre » la diffusion des chaînes RT et Spoutnik le 2 mars, feront remarquer des esprits chagrins. Mais là, c’est totalement différent : il s’agissait d’empêcher une propagande partiale de déstabiliser gravement nos sociétés…

La Commission vient du reste de rappeler qu’elle restait particulièrement vigilante à l’égard des médias qui seraient tentés de se rendre complices de Moscou : c’est pour cela qu’ont été mises en place les mesures « anti-contournement ».

La chaîne italienne Rete 4 s’est fait rappeler à l’ordre par Bruxelles pour avoir diffusé une interview du ministre russe des affaires étrangères Et c’est dans ce cadre que la chaîne italienne Rete 4 (groupe Mediaset) s’est fait rappeler à l’ordre. Ce canal grand public avait eu l’outrecuidance de diffuser, le 1er mai, une interview du ministre russe des affaires étrangères, Sergueï Lavrov. C’était certainement un complot ourdi avec succès par Moscou, puisqu’une vice-présidente de l’europarlement, l’Italienne Pina Picierno, a exigé que soit « clarifié ce qui s’est passé ».

L’organisation Reporters sans frontière – qui a publié justement le 3 mai son rapport annuel sur la liberté de la presse dans le monde, et qui n’est pas tendre avec la Russie – a réprouvé le bannissement des RT et de Spoutnik, en rappelant « l’absence de cadre juridique approprié » pour cette interdiction.

De son côté, la Norvège – qui n’est pas membre de l’UE – a estimé que les deux médias publics russes « ne représentent pas une menace pour les intérêts fondamentaux de la société ».

Oslo ferait bien de se méfier : avec une telle remarque iconoclaste, le pays pourrait bien se voir imposer un embargo européen sur ses exportations d’hydrocarbures analogue à celui présenté par Bruxelles contre la Russie.

Bon, cela compliquerait encore un peu plus l’accès des pays de l’UE au gaz et au pétrole (dont la Norvège est un très grand fournisseur). Mais pas de problème : il reste encore le Qatar (un autre grand du gaz), émirat où Robert Habeck s’est rendu récemment pour chercher de nouveaux contrats. Enfin un fournisseur dont la réputation en matière de droits de l’Homme est irréprochable, et le respect pour la liberté de la presse au-dessus de tout soupçon ! 6 mai 2022

https://ruptures-presse.fr/actu/borrell-rt-qatar-liberte-presse/


Draghis Rede vor dem EU-Parlament

Als der italienische Ministerpräsident und ehemalige Präsident der EZB, Mario Draghi, Anfang des Monats Mai 2022 im EU-Parlament über die Zukunft der EU sprach, betonte er die sozialen Kosten, die die Pandemie und der Krieg in der Ukraine den Menschen in den EU-Mitgliedstaaten aufbürden. "Kein nationaler Haushalt ist in der Lage, solche Anstrengungen allein zu tragen", sagte er. Bei Draghi gilt offenbar: -1+(-1) = 2.

Draghi schlug vor, die "Sure"-Kurzarbeitshilfe, die während der Corona-Pandemie eingesetzt wurde, um die hohen Energiepreise für die Bevölkerung abzufedern, zu verlängern. Für langfristige Investitionen in Verteidigung, Energie und Ernährungssicherheit forderte Draghi eine schuldenfinanzierte EU-Hilfe nach dem Vorbild des Corona-Wiederaufbaufonds. «Das System der gestaffelten Zahlungen, das an die Erfüllung bestimmter Ziele geknüpft ist, bietet einen wirksamen Mechanismus zur Kontrolle der Qualität der Ausgaben.»

Ist das derselbe Draghi, der als Präsident der EZB dem griechischen Staat den Geldhahn zugedreht hat? Derselbe Draghi, der die Troika gnadenlos auf Griechenland losgelassen hat, um die größte soziale Verwüstung in dem Land in der Nachkriegszeit anzurichten? Derselbe Draghi, der die erzwungene Rettungsaktion für Irland beaufsichtigte?

Draghi war EZB-Präsident, als die EZB die griechische Regierung von Alexis Tsipras bestrafte, weil sie sich dem Dogma der Austerität widersetzte. Den Arbeitern, den Rentnern, den Patienten, den Empfängern von Sozialleistungen, überall wurde brutal das Geld gekürzt. Die groß angelegte Veräußerung von öffentlichem Vermögen und die brutale Auflagen ließen viele in Armut zurück. Als die Troika ihr verheerendes Werk in Griechenland begann, lag die griechische Staatsverschuldung bei 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Draghis Italien ist heute eines der Länder mit der höchsten Schuldenquote der Welt. Die öffentliche Schuldenquote des Landes ist explodiert und wird in diesem Jahr voraussichtlich 160 % des BIP erreichen. Bislang sind jedoch weder die Rating-Agenturen noch die Anleger auf den Finanzmärkten beunruhigt. Auch die EU und die EZB sowie der IWF zeigen sich nachsichtig.

Das liegt zum einen an den massiven Anleihekäufen der EZB, die so die Renditen italienischer Staatsanleihen niedrig hält, und zum anderen am EU-Wiederaufbaufonds, aus dem Italien in den kommenden Jahren 200 Milliarden Euro erhalten wird.

Ironischerweise handelt die EU heute so, wie es EU-Kritiker zur Zeit der Finanzkrise für Griechenland gefordert haben. Mario Draghi des Jahres 2022 fordert nun Investitionen in die öffentliche Infrastruktur. Dies wird aber wohl nur durch weitere, um übrigen EU-vertragswidrige, massive Staatsanleihenaufkäufe durch die EZB möglich sein. 20. Mai 2022, https://thepeoplesnews.home.blog/2022/05/20/draghis-conversion/


Vorwürfe gegen Frontex? Nie gehört. Eine Schweizer Studie zeigt Demokratiedefizite in der EU auf

Die Schweiz hat die Debatte geführt: Frontex soll ausgebaut werden. Anders sieht es in den beteiligten EU-Ländern aus. Die umstrittene Grenzschutzagentur ist nur einem geringen Teil der Bevölkerung überhaupt bekannt.

Luzius Meisser ist Bitcoin-Unternehmer und EU-Skeptiker. Daniel Graf ist Anti-Frontex-Aktivist und Mitgründer der Stiftung für direkte Demokratie. Gemeinsam sind ihnen das Interesse für demokratische Prozesse und die Überzeugung, dass die EU von der Schweiz lernen könnte.

Meissers Mittel und Grafs Know-how ermöglichten es, dass das auf politische Befragungen spezialisierte Meinungsforschungsunternehmen GfS Bern eine Vergleichsstudie durchführen konnte, die EU-Funktionäre als Zumutung empfinden dürften. Im Rahmen einer repräsentativen Befragung von 13 610 Stimmberechtigten in 25 EU-Ländern ist das GfS Bern der Frage nachgegangen, was die EU-Länder eigentlich von der umstrittenen Grenzschutzagentur halten.

Vorwürfe sind kaum bekannt

Das Resultat der Studie zeigt ein klares Bild: In den meisten Ländern ist Frontex nur einem geringen Teil der Bevölkerung überhaupt bekannt. Nur in einem Drittel der Staaten hat die Mehrheit der Befragten zumindest von Frontex gehört. 26 Prozent der Befragten gaben an, schon einmal Pushback-Vorwürfe vernommen zu haben. Die Ausnahme bilden Deutschland, Österreich, Litauen und Griechenland, wo mehr als 40 Prozent der Bevölkerung mit der Kritik an der Agentur vertraut sind. In Griechenland, wo Frontex stark präsent ist, gab fast jeder Zweite an, die Vorwürfe zu kennen. In Ländern wie Irland, Schweden, Frankreich oder der Slowakei ist das Wissen über Frontex hingegen klein. Die Kritik an der Agentur war weniger als 20 Prozent der Befragten bekannt. Wie die von Urs Bieri geleitete GfS-Studie klar zeigt, haben 55 Prozent der Befragten eine positive Meinung von Frontex. Die Umfrage ergab aber auch, dass die in der Schweiz rege diskutierten Vorwürfe gegen die Agentur in den meisten EU-Ländern kaum bekannt sind. Dies spiegelt sich im Befragungsresultat deutlich: Nur eine Minderheit von 14 Prozent äusserte sich kritisch über Frontex, und nur 3 Prozent bekundeten eine klar negative Haltung ihr gegenüber. In einer Volksabstimmung – auch das wurde abgefragt – hätten sich 44 Prozent der Europäerinnen und Europäer klar und 33 Prozent tendenziell für den Ausbau von Frontex ausgesprochen.

Die Frontex-Befragung ist nicht die erste GfS-Europa-Studie, die über die Grenzen hinausreicht. Bereits im vergangenen Herbst befragte das Team um Bieri 1000 Personen zur Zufriedenheit mit dem demokratischen System. Während in der Schweiz 90 Prozent der Befragten angaben, mit dem System zufrieden oder sehr zufrieden zu sein, bekundete in den Nachbarstaaten nur jeder Zweite seine Zufriedenheit mit dem EU-System. 44 Prozent sagten, sie seien sehr oder eher unzufrieden.

Auf diesem Ergebnis aufbauend, setzte das Team um Bieri nach: Im Rahmen der jüngsten Studie wurden die Teilnehmer gefragt, ob auch die EU-Länder über sachpolitische Vorlagen wie den Frontex-Kredit abstimmen sollten. Die Antwort war ein deutliches Ja: 60 Prozent der Befragten sagten, sie hätten gerne auf nationaler Ebene über die Frontex-Vorlage abgestimmt. 66 Prozent sagten, sie hätten sich eine europaweite Abstimmung gewünscht.

Die Mehrheit der Befragten in allen europäischen Ländern wünscht sich mehr direkte Demokratie

Befürwortung nationale Volksabstimmung Frontex. Studie im Auftrag von Luzius Meisser, Meisser Economics, in Kooperation mit der Stiftung für direkte Demokratie. Befragt wurden 13 610 Stimmberechtigte in 25 EU-Ländern zwischen dem 7. und dem 17. März 2022.

Noch deutlicher äussert sich der Wunsch nach mehr föderaler Demokratiekultur in den Antworten auf die Frage, ob man sich generell für Volksabstimmungen ausspreche. Fast jeder dritte von fünf Befragten (73 Prozent) war für Abstimmungen auf nationaler Ebene. 66 Prozent wünschten sich europaweite Abstimmungen. NZZ, 17. Mai 2022, S. 10


Das Zitat

«Die EU hat kein Problem mit demokratischen Enscheiden» SP-Ständerat Daniel Jositsch in der NZZ vom Mittwoch, 3. Mai 2022, S. 7


Konferenz über die Zukunft «Europas»

In einer Abschlusszeremonie am 9. Mai in Straßburg 2022 erhielten die Präsidentin des Europäischen Parlaments Roberta Metsola, Präsident Emmanuel Macron im Namen der Ratspräsidentschaft und die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen von den Ko-Vorsitzenden des Exekutivausschusses der Konferenz den Abschlussbericht über die Ergebnisse der Konferenz über die Zukunft «Europas». Diese einjährige Konferenz mit Diskussionen und Debatten gipfelte in einem Bericht mit 49 Vorschlägen, die konkrete Ziele und mehr als 320 Maßnahmen für die EU-Institutionen zur Umsetzung enthalten. Der 346 Seiten schwere Bericht ist zu finden unter https://futureu.europa.eu/?locale=de. Es wurden unter anderem 4 sogenannte Bürgerforen gebildet zu den Themen.

„Eine stärkere Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit, Beschäftigung/Bildung, Kultur, Jugend und Sport/ digitaler Wandel“

„Demokratie in Europa/Werte und Rechte, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit“

„Klimawandel und Umwelt/Gesundheit“

„Die EU in der Welt/Migration“

Das Forum „Demokratie in Europa/Werte und Rechte, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit" befasste sich mit Fragen der Demokratie, der Wahlen, Teilhabe außerhalb der Wahlzeiten, wahrgenommene Distanz zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und ihren gewählten Vertreterinnen und Vertretern, Medienfreiheit und Desinformation. Außerdem wurden Fragen bezüglich der Grundrechte und Grundwerte, der Rechtsstaatlichkeit und der Bekämpfung aller Formen von Diskriminierung erörtert. Ein weiteres Thema war die innere Sicherheit der EU, z. B. der Schutz der «Europäerinnen» und «Europäer» vor terroristischen Handlungen und anderen Straftaten. Es wurden fünf Themenkomplexe gebilligt: „Gewährleistung von Rechten und Nichtdiskriminierung“, „Schutz von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“, „Reform der EU“, „Aufbau einer europäischen Identität“ und „Stärkung der Bürgerbeteiligung“.

Der Bereich Klimawandel und Umwelt umfasst sechs Entwürfe mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Sie enthalten unter anderem folgende konkrete Forderungen:

• Höhere Investitionen in den Ausbau der erneuerbaren Energien

• Entwicklung eines europäischen Netzes an öffentlichen Verkehrsmitteln

• Verbesserte Infrastruktur für Fahrradfahrer und -fahrerinnen

• Aufnahme der Themen Lebensmittelproduktion und Biodiversitätsschutz in die Schulbildung

• Förderung einer pflanzenbasierten Ernährungsweise

• EU-Vertragsänderung; ein Drittel der Mitgliedstaaten ist dagegen, Irland schweigt.

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat erklärt, dass sie Änderungen der EU-Verträge unterstützen könnte, um die Empfehlungen der Konferenz zur Zukunft Europas (CoFoE) umzusetzen. Doch mehr als ein Drittel der Mitgliedstaaten lehnt eine Änderung der Verträge ab – zum jetzigen Zeitpunkt. "Wir unterstützen keine unüberlegten und verfrühten Versuche, einen Prozess zur Änderung der Verträge einzuleiten", heißt es im Text eines gemeinsamen Dokuments, das von Bulgarien, der Tschechischen Republik, Dänemark, Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Malta, Slowenien und Schweden unterzeichnet wurde. https://futureu.europa.eu/?locale=de


Ja zu einem sozialen Europa, mit gesichertem Lohnschutz

Übernahme fortschrittlicher EU-Rechte verbessert gemäss Schweizerischem Gewerkschaftsbund (SGB) die Lage der Berufstätigen in der Schweiz. Der SGB zum Projekt «Abbau der Regulierungsunterschiede»

Der Bundesrat hat in der Europapolitik entschieden, Schweizer Regulierungen an die EU-Bestimmungen anzupassen, wenn dies im Interesse der Schweiz ist. Die Gewerkschaften unterstützen dieses Anliegen, stellen aber fest, dass wir aktuell noch weit von diesem Ziel entfernt sind. Gerade im Bereich der sozialen Rechte und des Arbeitnehmerschutzes könnte die Schweiz die Lage der Berufstätigen mit einer Anpassung an EU-Standards stark verbessern und gleichzeitig die Integration der Schweiz in den europäischen Binnenmarkt verbessern. Der SGB fordert den Bundesrat deshalb auf, diese Arbeiten rasch voranzutreiben und die entsprechenden Verbesserungen im Schweizer Recht in die Wege zu leiten.

Bestehende EU-Regulierungen und -Institutionen

• Equal pay im Personalverleih (Richtlinie 2008/104 über Leiharbeit): Gemäss Richtlinie sind Temporärbeschäftigte grundsätzlich in allen arbeitsrechtlichen Belangen den Festangestellten gleichzusetzen. Der in der Schweiz geltende GAV Personalverleih geht nicht so weit. Er enthält in vielerlei Punkten schlechtere Regelungen als die Branchen- und Firmen-GAV, die für die Festangestellten anwendbar sind.

• Verbesserung der Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz mit einem expliziten Recht auf «Stopp bei Gefahr: RL vom 12. Juni 1989 über die Durchführung von Massnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit. Diese RL statuiert, dass einem Arbeitnehmer, der bei ernster, unmittelbarer und nicht vermeidbarer Gefahr seinen Arbeitsplatz bzw. einen gefährlichen Bereich verlässt oder die Arbeit einstellt, keine Nachteile (Entlassung, etc.) entstehen dürfen. Dieses Recht ist in der Schweiz nicht explizit vorgesehen.

• Sehr positiv ist auch, dass das EU-Parlament die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten auffordert, die Rolle der Europäischen Betriebsräte zu stärken und sicherzustellen, dass deren Stellungnahmen auch tatsächlich berücksichtigt werden müssen, ehe Vorstände und Geschäftsführungen eine finale Entscheidung treffen. (Mitwirkung im Betrieb/RL 2009/38).

Die Gewerkschaften verlangen, dass der Bundesrat gesetzliche Normen erarbeitet, welche diesen bereits bestehenden Richtlinien entsprechen.

• Aufenthaltssicherheit für EU-BürgerInnen in der Schweiz: EU-BürgerInnen in der Schweiz sind seit der Revision des Ausländergesetzes vermehrt von Ausschaffung bedroht, auch wenn sie hier Steuern und Sozialversicherungen bezahlt haben. Die einschlägigen Regelungen der EU-Unionsbürgerrichtlinie bezüglich Aufenthaltssicherheit sollen von der Schweiz übernommen werden. Die Gewerkschaften unterstützen ihre Übernahmein schweizerisches Recht ausdrücklich, wobei mögliche Schlupflöcher für Scheinselbständigkeit und Lohndumping durch flankierende Massnahmen verhindert werden müssen.

• ELA: Die Europäische Arbeitsagentur (ELA) hat ihre Arbeit aufgenommen. Ihre Aufgabe ist u.a. die Aufdeckung transnational organisierter Schwarzarbeit und Missbräuchen bei der Entsendung. Die Vertreter vom EGB, ÖGB und DGB sind in den Steuerungsgremien und Arbeitsgruppen der ELA vertreten. Die Schweiz hat lediglich den Beobachter-Status beantragt und erhalten, die Schweizer Sozialpartner wurden nicht eingeladen. Die Schweiz soll sich stärker engagieren und die Sozialpartner in ihrer Delegation in der ELA und deren Arbeitsgruppen integrieren.

• Eurofund: Die EU-Agentur, welche die Lebens- und Arbeitsbedingungen analysiert und vergleicht, ist die «Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen», der Eurofound. Hier soll die Schweiz beitreten. Schon vor Jahren haben die Gewerkschaften den Beitritt und die Mitarbeit der Schweiz zu dieser Agentur verlangt.

Hängige EU-Richtlinien

• Lohngleichheit/Gender-Pay-Gap: Eine neue Richtlinie soll dazu beitragen, dass Männer und Frauen in der EU künftig für gleiche Arbeit auch gleich bezahlt werden. Der Kommissionsentwurf der EU-Richtlinie vom März 2021 enthält Rechte der Frauen, welche über das neue Gesetz in der Schweiz hinausgehen. U.a. sollen Unternehmen in der EU dazu verpflichtet werden, ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gegenüber offenzulegen, auf welche Kriterien sie Entscheidungen zu Gehalt und Karrierechancen im Unternehmen stützen. Beschäftigte sollen künftig in der ganzen EU einen Anspruch darauf haben, Informationen über die Höhe ihres individuellen Lohns und über den Durchschnittslohn von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die gleiche oder gleichwertige Arbeit verrichten, aufgeschlüsselt nach Geschlecht anfordern und erhalten zu können. Unternehmen mit mindestens 250 Beschäftigten sollen ausserdem jährlich Informationen zum Lohngefälle zwischen weiblichen und männlichen Beschäftigten ihrer Organisation bereitstellen. Die Arbeitgeber müssen diese Informationen an die zuständigen nationalen Behörden weitergeben und sie ihren Beschäftigten und deren Vertretungen bereitstellen. Die Richtlinie dürfte bald beschlossen werden.

• Gegen falsche Selbständigkeit in Plattformarbeit: Im Dezember 2021 hat die EU-Kommission den Entwurf einer Richtlinie publiziert, welche die Beschäftigten von Plattformen grundsätzlich als Arbeitnehmende definiert und einen dritten Status (halb selbständig, halb angestellt) ablehnt. Die Richtlinie dürfte bald beschlossen werden.

• Mindestlohn-Richtlinie und Förderung von Kollektivverhandlungen: Positive Entwicklungen gibt es auch bei den Gesamtarbeitsverträgen und den Mindestlöhnen. Der Kommissionsentwurf der EU-Richtlinie von Oktober 2020 formuliert Kriterien für gesetzliche Mindestlöhne und setzt als Benchmark bei 60% des Medians an. Die Richtlinie gilt allerdings nicht in Ländern, wo die Sozialpartner keinen gesetzlichen MiLo wollen. Allerdings werden Länder, welche einen Abdeckungsgrad der Kollektivverträge von weniger als 70% haben, verpflichtet, einen Aktionsplan zur Stärkung der GAV umzusetzen. Dieser beinhaltet u.a. GAV bei öffentlichen Aufträgen, Stärkung der Gewerkschaftsrechte, u.a. die Verpflichtung auf einen Aktionsplan um 70% Abdeckung zu erreichen. Die Richtlinie zu Mindestlöhnen und Kollektivverhandlungen (zusammengefasst in einer Richtlinie) kann bald vom Parlament beschlossen werden.

• Unternehmensverantwortung: Das in der Schweiz anstelle der Konzernverantwortungs-Initiative (KoVI) eingeführte Gesetz und dessen Verordnung ist hinter dem zurück, was in mehreren EU-Staaten gilt und was als Projekt in der Pipeline in Brüssel ist. Der Bundesrat hatte immer versprochen, die Schweiz würde nachziehen, wenn die EU über die CH-Regelungen hinausgehen würde.

• Schweizer Taggelder für GrenzgängerInnen: In der EU gibt es Diskussionen, dass GrenzgängerInnen die Arbeitslosenleistungen des Staates erhalten, in dem sie arbeiten und in die Versicherung einbezahlt haben. Der Vorschlag ist momentan im EU-Parlament hängig. Unabhängig vom Ausgang dieser Debatte ist die Tatsache, dass Grenzgängerinnen in der Schweiz Arbeitslosenbeiträge zahlen ohne aber Anspruch auf Schweizer Arbeitslosengeld zu haben stossend und soll vom Bundesrat korrigiert werden.

Ein solcher Beitrag der Schweiz zu grenzüberschreitender sozialer Sicherheit würde zweifellos auch die Weiterentwicklung der guten Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU unterstützen. Dasselbe gilt auch für ein Bekenntnis zur Übernahme der Normen aus den übrigen hängigen EU-Richtlinien, sobald sie denn beschlossen sind. Zwingende Gründe für einen starken Schweizer Lohnschutz bestehen fort

Im Bereich des Lohnschutzes steht die Schweiz vor besonderen Herausforderungen. Die Durchschnittslöhne sind in der Schweiz dreimal höher als in der EU. Daher braucht es in einem europaweit offenen Arbeitsmarkt in der Schweiz auch substanziell stärkere Schutzmassnahmen und deutlich mehr Kontrollen, als in der EU. Aus Sicht des Arbeitnehmerschutzes und der sozialen Lage der Berufstätigen wäre eine Schwächung des Lohnschutzes fatal. Das nicht nur für Schweizerinnen und Schweizer, sondern auch für alle EU-BürgerInnen in der Schweiz und für Berufstätige aus der EU.

Im Freizügigkeitsabkommen war akzeptiert, dass die Schweiz umfangreichere Kontrollen durchführt, solange dies die Arbeitnehmende nicht aufgrund ihrer Herkunft diskriminierte und auch für Schweizer Firmen galt und somit keine Firmen aus der EU diskriminiert wurden. Diese Logik muss auch weiterhin gelten. Es gab und gibt Kräfte in der Schweiz und in der EU, welche den sozialen Schutz einer Binnenmarktlogik unterordnen wollen. Ihnen waren die Flankierenden Massnahmen immer ein Dorn im Auge. Der SGB wird sich weiterhin gegen alle Versuche, den Lohnschutz zu verschlechtern, vehement wehren. 13. Mai 2022 https://www.sgb.ch/themen/arbeit/detail/ja-zu-einem-sozialen-europa-mit-gesichertem-lohnschutz

https://www.statewatch.org/media/3272/at-what-cost-eu-security-budgets-2021-27-sw-tni.pdf

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